Der Twitter-Präsident
Bernie Sanders bietet seit Freitag unzufriedenen Amerikanern eine Alternative zur Tea Party
Bernie Sanders ist in Brooklyn geboren - was man auch heute noch deutlich hört. 2006 wurde er als parteiloser Kandidat für den Bundesstaat Vermont, in dem Amerika am säkularsten ist, in den Senat gewählt.
Anfangs war Sanders außerhalb von Vermont vor allem dadurch bekannt, dass er sich als einziger Senator weigerte, der von den Republikanern eingeführten Tabuisierung des Begriffs "Sozialismus" zu folgen. Stattdessen besetzte er ihn positiv. Seit letzten Freitag aber kennt man den vehementen Verfechter einer einheitlichen Krankenversicherung in ganz Amerika. An diesem Tag hielt der Senator eine Rede, die viele Beobachter an das Filibustern von James Stewart in Frank Capras Film Mr. Smith Goes to Washington erinnerte.
Der gut achteinhalbstündige Auftritt des Neunundsechzigjährigen verzögerte das geplante Steuergesetz zwar nicht (weshalb sie kein Filibustern im engeren Sinne war) und Sanders nutzte das Instrument auch nicht als Erster - doch während seine Vorläufer wie Strom Thurmond aus dem Telefonbuch vorlasen, schien es bei ihm, als habe sich in den letzten Jahren einiges angestaut, das nun einfach heraus muss. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte offenbar Präsident Obamas jüngster Handel mit den Republikanern, der die unter George W. Bush eingeführten Steuererleichterungen für Reiche erneuert. Diese Regelung, die das von den Republikanern im Wahlkampf genutzte Staatsdefizit noch einmal beträchtlich erhöhen dürfte, müsse man, so Obama, in Kauf nehmen, um eine Zustimmung der Republikaner zur Verlängerung der Zahlungen an Arbeitslose zu erreichen.
Sanders zeigte in seiner Grundsatzabrechnung, dass nicht nur die Tea-Party-Anhänger mit der kognitiven Dissonanz zu kämpfen haben, dass die jahrzehntelang gegen die staatliche Abdeckung von Risiken polemisierenden Banken von der öffentlichen Hand die Übernahme ihrer eigenen Risiken erpressen konnten, weil sie "zu groß zum Scheitern" waren. Allerdings nahm man nach den diversen Bailouts nicht die (für eine Verhinderung weiterer Finanzcrashs) notwendigen Regulierungsmaßnahmen in Angriff, sondern ließ die Entwicklung fortfahren wie bisher, weshalb drei der vier größten Banken nun noch größer sind als vorher.
Dem Durchschnittsamerikaner dagegen geht es heute teilweise deutlich schlechter als vor dem Crash. Um das zu belegen, las Sanders lange aus Briefen von Bürgern vor, die ihm ihre Erlebnisse in den letzten Jahren schilderten. "It appears", so der Senator in einem Fazit, "that we are very much a country in which we practice socialism for the rich and rugged capitalism for everyone else". Und: "Understand, that in this country, when you are a CEO on Wall Street - you can do pretty much anything you want and get away it."
Daneben erzählte Sanders auch eine Geschichte der Deregulierung, die unter anderem dafür sorgte, dass man mit der Eisenbahn heute langsamer reist als im 19. Jahrhundert und legte dar, dass er bereits in den 1990er Jahren die nach 2007 eingetretenen Entwicklungen vorhergesagt hatte, ohne für die von ihm vorgeschlagenen Regulierungsmaßnahmen, die dies verhindern hätten können, irgendwelche politische Unterstützung zu bekommen.
Die amerikanischen Mainstreammedien ignorierten Sanders Rede anfänglich - lediglich der Parlamentssender C-SPAN übertrug sie. Auf die Personen, die dort zufällig einschalteten, machte die Grundsatzabrechnung allerdings solchen Eindruck, dass die virale Verbreitung nach kurzer Zeit dafür sorgte, dass die Server an ihre Grenzen stießen. Danach gaben Zuschauer Höhepunkte der Rede via Internet weiter, wo der vorher weitgehend unbekannte Senator schnell auf Platz zwei der meistgesuchten Begriffe bei Google landete und das Ereignis zeitweise mit mehreren Schreibweisen hintereinander die Twitter-Trends anführte. Dort und in Facebook wurde noch während der Rede die Forderung nach einer Präsidentschaftskandidatur laut.
Die Begeisterung ist zum Teil daraus erklärbar, dass Sanders - wie auch politische Gegner eingestehen mussten - einen glaubwürdigen Eindruck machte. "Der Kontrast zu Präsident Obama hätte nicht schärfer sein können" befand die Huffington Post, die meinte, Sanders habe Wahrheiten ausgesprochen, die sich in der US-Politik lange niemand mehr öffentlich sagen traute.
Eine der am häufigsten weitergeleiteten Reaktionen auf seine Rede lautete "I've heard more good sense from the United States Senate in the past 7 hours than in the past 25 years" und nicht nur Politico befand, dass das allgemeine Unbehangen nun neben der Tea Party eine neue Symbolfigur gefunden hatte - allerdings eine, mit durchaus abweichendem politischen Programm. Trotzdem zeigte sich sogar Ron-Paul-Anhänger von der Rede gerührt, was ein Hinweis darauf ist, dass Sanders als Unabhängiger nicht nur zeigte, wie untauglich das derzeit in Amerika bestehende Zweiparteiensystem für politische Reformen ist, sondern auch, dass er als Frontmann einer neuen Bewegung durchaus das Potenzial hätte, neue Wählerschichten anzuziehen.
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