Der Überfluss an Unnötigem und Schädlichem
Seite 2: Immense Verschwendung von Know-how und Erfindungsgeist für Oberflächendifferenzen
- Der Überfluss an Unnötigem und Schädlichem
- Immense Verschwendung von Know-how und Erfindungsgeist für Oberflächendifferenzen
- Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für umstrittene Produkte
- Das "gute Leben" und die Minimum-Moral
- "Gute Arbeit"
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Unter eine sechste Variante problematischer Arbeitsinhalte fallen Arbeiten, die allein der Konkurrenz geschuldet sind und dem in ihr notwendigen Bemühen, Kaufkraft vom Angebot des Konkurrenten auf das eigene umzulenken. Nur zum geringsten Teil geht es in der Werbung um sachliche Produktinformation und neutrale Verbraucherberatung. Die Brutto-Investitionen in Werbung - also für Honorare/Gehälter, für Werbemittelproduktion sowie für mediale Verbreitung der Werbung - haben 2011 29,92 Milliarden Euro erreicht.
Für Ende 2007 gibt der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) im Kernbereich der Werbewirtschaft 186.796 Fachkräfte an. Hinzu kommen im Sektor Telefonmarketing rund 210.000 Arbeitsplätze und die aufgrund von Werbeaktivitäten notwendigen Arbeitsplätze in der Druckindustrie und Papierwirtschaft.
Auch in der Versicherungsbranche wird als überflüssig zu bezeichnende Arbeit verausgabt, insofern sie ihre Ursache in der Konkurrenz hat. Die Arbeit der jeweiligen Außendienstmitarbeiter und Marketingspezialisten erhöht nicht die Leistungen der Versicherungsbranche, sondern den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Unternehmen. Konkurrenz und Privatwirtschaft führen durch das Patentsystem zu weiteren Doppelspurigkeiten, zur Verschwendung von Erfindergeist in parallelen Projekten, zur Geheimhaltung der Forschungsergebnisse, zur Isolierung des patentierten Wissens, zur Verzögerung weiterer Forschung und zum suboptimalen Gebrauch des technisch Möglichen.15
Forschungsinstitute und Unternehmen in Deutschland vergeuden jedes Jahr rund 20 Mrd. Mark, weil ihre Wissenschaftler versuchen, Dinge zu erfinden, die längst erfunden sind. Nach Angaben des Präsidenten des Deutschen Patentamtes, Erich Häußer, entspricht diese Summe etwa einem Drittel des gesamten jährlichen Forschungsaufwandes öffentlicher und privater Stellen.
Einer Information des Österreichischen Patentamts von 2006 zufolge beträgt die diesbezüglich europaweit verschwendete Summe 60 Mrd. € und betrifft 15-30% der Forschungsausgaben.
"Ca. 85-90% der Projekte in den industriellen Forschungs- und Entwicklungs-Abteilungen befassen sich mit der Entwicklung von Scheininnovationen und defensiven Produktveränderungen", sparen also die Kosten, die bei "radikalen Neuerungen" entstünden, und stellen so eine "suboptimale Ausnutzung der vorhandenen Innovationskapazität" dar.16
Bei den 2.000 in Deutschland neu zugelassenen 913 Fertigarzneimitteln mit bislang nicht allgemein bekannten Arzneistoffen handelt es sich zumeist um Analogpräparate, und die Zahl der tatsächlich neu in die Therapie eingeführten Wirkstoffe beschränkt sich auf 31 Substanzen. Von diesen wiederum stellen höchstens 13 echte Innovationen mit belegbaren pharmakologischen Vorteilen dar.17
Auch in der Produktion von komplizierteren Verbrauchsgütern herrscht eine immense Verschwendung von Know-how und Erfindungsgeist vor, insofern beide verausgabt werden, um ein Übermaß an Oberflächendifferenzen zwischen den Produkten zu schaffen und den Narzissmus der kleinsten Differenz zu kultivieren. Allein der Modellwechsel der Autoindustrie stellt eine gigantische Verschwendung von materiellen Ressourcen dar18.
Und von Sinnen und Aufmerksamkeit, insofern "die Verbraucher von Kindesbeinen an zur Wahrnehmung der Unterschiede im Detail und zur Nichtwahrnehmung der Ähnlichkeit in der Substanz" erzogen werden.19 Das passt zur bürgerlichen Gesellschaft. In ihr misst "man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert bei als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität".20
Unterhöhlung der Gesundheit
Eine siebte Variante problematischer Arbeitsinhalte betrifft die unbekümmerte Produktion bzw. Inkaufnahme von massiven Schädigungen der Gesundheit bzw. der ökologischen Lebensbedingungen durch in der Gesellschaft übliche, weil profitabel produzierbare und verkaufbare Waren. Der Autoverkehr hat in der Bundesrepublik Deutschland von 1953 bis 2012 667.028 Tote gefordert. Dazu kommt eine diese Zahl mehrfach übersteigende Zahl von schweren Verletzungen. Die damit entstehenden medizinischen u. a. Ausgaben werden als Folgekosten nicht in eine Wirtschaftlichkeitsprüfung des privaten Autoverkehrs einbezogen.
Analoges gilt auch für die schleichende Unterhöhlung der Gesundheit durch Produkte der Nahrungsmittelindustrie21 Der Pulitzer-Preisträger Michael Moss beschreibt, wie die Lebensmittelindustrie Lebensmitteln gezielt Salz, Zucker und Fett zusetzt, damit künstlich die Verzehrneigung aktiviert und massiv gesundheitsschädliche Stoffwechselstörungen begünstigt:
Zucker (ersetzt), mit den richtigen Aromastoffen kombiniert, teurere Zutaten wie zum Beispiel Obst oder Gemüse
Deutsche nehmen inzwischen doppelt so viel Zucker im Jahr zu sich (36 Kg), wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt. 83% entfallen davon auf Fertigwaren.
In einer Recherche identifiziert die Verbraucherorganisation Foodwatch 1514 Produkte aus deutschen Supermärkten, die sich in Aufmachung und Platzierung an Kinder richten. … Rund 73% dieser Kinderprodukte sind süße oder fettige Snacks.
Der Spiegel
Im Februar 2013 bezeichnet ein internationales Epidemiologen-Team in der Fachzeitschrift "The Lancet" den "Effekt der zahlreichen Selbstverpflichtungen und wohlklingenden Initiativen der Nahrungsmittelindustrie" als "gleich null".
Chemikalien, die Menschen und Umwelt gefährden, entweichen aus den Schornsteinen und Abwasserrohren der Industrie und aus den produzierten Waren. Dies betrifft bspw. Flammschutzmittel aus Autopolstern und Computern, Weichmacher aus Kinderspielzeug und Farben, hormonähnliche Substanzen aus Reinigungsmitteln und Unkrautvernichtern.
Etwa 30.000 Chemikalien werden in der EU in einer Menge über eine Tonne pro Jahr und Hersteller produziert und importiert. Doch bislang wurden nur etwa 4.000 auf ihre Folgen für Umwelt und Gesundheit getestet. Ob ein Stoff z. B. Krebs auslöst, das menschliche Erbgut oder Haut- und Atemwege schädigt, ist für den Großteil aller Chemikalien ungewiss. Viele Studien zeigen jedoch: Für viele Stoffe in unserer täglichen Umgebung besteht der Verdacht, dass sie bspw. Brust- und Hodenkrebs, Leukämie, Allergien, Fortpflanzungsprobleme oder Geburtsfehler auslösen. Viele Stoffe werden für eine verfrühte Pubertät, sinkende Spermienzahlen und zahlreiche Berufskrankheiten verantwortlich gemacht. Besonders besorgniserregend sind Stoffe, die in der Umwelt nicht rasch abgebaut werden ("persistent" sind), sich in unseren Körpern ansammeln können ("bioakkumulierbar") sind, giftige ("toxische") Eigenschaften aufweisen und unser Hormonsystem beeinträchtigen können (eine "endokrine" Wirkung haben).
BUND: Endstation Mensch - Nur nicht giftig werden, 2008
Es fehlt hier der Platz auszuführen, inwiefern das ab Juni 2007 gültige neue europäische Chemikaliengesetz ("Reach") an der Problematik nicht viel zu ändern vermag.22 Die Ungewissheit über die negativen Effekte bildet auch bei der Nanotechnologie kein Hindernis dafür, die Bürger in einem gigantischen Freilandexperiment zu Versuchskaninchen zu machen.23
Leicht täuschen die "Grenzwerte" darüber hinweg, dass die durchschnittliche Unbedenklichkeit gerade die Bedenklichkeit in vielen Fällen einschließt. Dieselben Schadstoffe wirken nach Alter, Geschlecht, körperlichem Zustand usw. ganz verschieden. Die von Grenzwerten ausgehende falsche Beruhigung steigert sich noch dadurch, dass es stets nur um die Grenzwerte einzelner Schadstoffe geht. Der Mensch ist aber sozusagen Endverbraucher und Sammelbecken für die verschiedensten Schadstoffe.
"Die Unbedenklichkeiten summieren sich bedenklich."24 Die Grenzwerte beinhalten ein Verhältnis zwischen Schädigungen einerseits, dem Nutzen, der sich betriebs- und volkswirtschaftlich von dem Einsatz dieser Stoffe versprochen wird, andererseits. Grenzwerte unterstellen die Tatsache, dass Gesundheit nur sehr bedingt eine Rolle in der gegenwärtigen Art und Weise des Wirtschaftens spielt.
Pseudonym drückt sich hierin eine Ökonomie aus, die den Mensch als Kostenfaktor betrachtet und ihn in die maßlose Mehrwertproduktion einstellt. Die zu schnelle Ruinierung der Menschen verbietet sich angesichts der auf seine Aufzucht und Qualifizierung aufgewendeten Kosten. Menschlicher Schmerz bildet nur bedingt eine Größe, deren Vermeidung maßgebend und maßsetzend in die Gestaltung der Ökonomie, Arbeitstechnik und -organisation eingeht. Grenzwerte stellen eine Art Lizenz zum Raubbau an Gesundheit dar. Es geht bei Grenzwerten "nicht um eine Verhinderung der Vergiftung, sondern um das zulässige Maß der Vergiftung"25: Grenzwerte "machen Vergiftung, die sie zulassen, allerdings zugleich ungeschehen, indem sie die erfolgte Vergiftung für unschädlich erklären".26