Der Verfall des Rechtsanwaltsberufes

Seite 2: Ethik ohne Verbindlichkeit?

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Schon in den einleitenden Bemerkungen des "Diskussionspapiers" wird also offenbar, dass die Bundesanwaltskammer Recht und Ethik nach dem Grade ihrer Verbindlichkeit unterscheidet. Der stellvertretende Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer und der Vorsitzende ihrer berufsethischen Kommission Dr. Michael Krenzler, der gleichzeitig Kammerpräsident in Freiburg ist, drückt dieses neue Berufsverständnis in einer Konferenz der Bundesrechtsanwaltskammer am 13. Mai 2011 in Berlin in entlarvender Direktheit so aus: "Salopp gesagt ist alles erlaubt, was nicht verboten ist." Salopp gesagt ist diese lapidare Definition ein Fußtritt gegen verbindliche ethische Pflichten, die über die rechtlichen hinausgehen.

In einem Interview mit der Badischen Zeitung vom 12. April 2014 konkretisierte der Kammerpräsident Dr. Krenzler seine berufsethische Faustregel für den Hausgebrauch des Anwaltsverhältnisses zur Gegenpartei: "Das Bundesverfassungsgericht hat den Anwälten große Freiheit bei ihrem Kampf um Recht eingeräumt. Die Grenze ist grundsätzlich erst erreicht, wenn der Anwalt beleidigend wird. Aber die Beleidigung ist ohnehin strafbar." Der strafrechtliche Tatbestand der Beleidigung markiert also die Grenze der Anwaltstätigkeit. Das heißt, davor gibt es nichts. Selbst als Rüpel ist der Anwalt noch berufstauglich. Die Grenze des Anwaltsberufes im Umgang mit Berufskollegen liegt also dort, wo sie für jeden anderen Beruf auch gezogen ist. Sie liegt im allgemeinen Recht. Warum dann eigentlich noch von Berufsrecht sprechen, wenn von ihm kein Regulativ ausgeht? Warum eigentlich dann noch das ganze besondere Getue, wenn der Anwalt eine Art rechtlicher Freistilringer ist, bei dem bekanntlich nur grobe Fouls geahndet werden?

"Recht ist, was nicht verboten ist." Diese Definition liefert noch weniger als die einstige beliebte bürgerliche Rückzugsformel: "Erlaubt ist, was gefällt." In dieser Formel konnte man zur Not noch eine Rücksicht auf einen allgemeinen Komment entdecken, von dem die Salonfähigkeit abhing. Weitergehend war freilich noch die frühere, klassische Empfehlung Goethes: "Erlaubt ist, was sich ziemt." Darin ist noch die Erinnerung an einen anerkannten Verhaltenskodex enthalten. Denn das Ziemende legt der Handlung jenseits des rechtlich Erlaubten mindestens die Zügel des ehrenhaften Anstandes (altertümlich honestus) an, welcher das Rechtliche übertrifft.

Im Leitbild des "ehrbaren Kaufmanns" oder des "treusorgenden Ehegatten" ist beispielsweise ein moralisches Regulativ zu finden, welches das rechtlich Erlaubte übertrifft. Die Standesregeln des ehrlichen Kaufmanns sind nicht rechtlich sanktioniert und gelten doch. Wer sie verletzt, fällt nicht der rechtlichen Strafe anheim, sondern der moralischen Missachtung seines Standes. Solche "alten" Verbindlichkeiten, die einen Berufsstand profilieren, lässt die Krenzler’sche Erlaubnisregel weit hinter sich. Gibt es keine berufsethischen Verbindlichkeiten für den "ehrbaren Rechtsanwalt"?

Es gilt das nackte Recht

Frei interpretiert ist "Mach, was du willst, solange es nicht verboten ist" der Krenzler’sche Berufsimperativ, und so agiert er auch vor Gericht. Oberhalb des Rechts ist die freie Wildbahn des Rechtsanwalts Krenzler, und so führt er sich auch vor Gericht auf. Es ist kein Zufall, dass diese Berufsethik der Rechtsanwälte von einem Familienrechtler formuliert wird. Dr. Krenzler ist Familienrechtler. Im Familienrecht ist die Emanzipation des Rechts von der Sittlichkeit am weitesten gediehen. Aber selbst dann, wenn es nur um Interessen geht, kommt kein Gericht ohne eine Rangfolge ihrer jeweiligen Wichtigkeit aus, wobei was wichtig ist, auch eine ethische Frage ist. Vor den Familiengerichten spielen jedoch solche ethischen Gewichtungen eine immer schwächere Rolle. Familiengerichte werden mehr und mehr zu Schlichtungsstellen. Es gewinnt der, welcher den geschickteren - vielleicht auch skrupelloseren - Rechtsanwalt ins Feld führt. Der Richter ist Schlichter mit der Auflage, ein Ergebnis zustande zu bringen - wie auch immer es aussieht. Die Verhandlungen vor Familiengerichten sind deshalb wie Tarifverhandlungen ohne Streikrecht. Der Stärkere gewinnt. Familienrecht ist zu einem Teil jenes Gesellschaftsrechts verkommen, das eine Fortsetzung des Sachenrechts mit anderen Mitteln ist. Die Auflösung einer Ehe ist lediglich eine Beendigung von Tauschverhältnissen, mehr nicht.

Die Rede um die heiße Kartoffel

Kunstvoll redet Präsident Dr. Krenzler in seiner kammerorganisierten Kapitulationsrede um die heiße Kartoffel "Verbindlichkeit" herum, die er schließlich fallen lässt, um so über verschlungene, wortreiche Umwege zur Feststellung zu gelangen:

Das bedeutet nicht, dass Berufsrecht und Berufsethik inhaltlich als Gegensatz begriffen werden müssten. Denn für das gesetzte Recht gilt, dass es wenigstens den ethischen Mindeststandard nominiert, die für die staatliche Gemeinschaft oder in diesem Fall für die Anwaltschaft konsensfähig sind. Darüber hinausgehende ethische Forderungen müssen mangels Konsensfähigkeit der staatlichen Gemeinschaft unverbindlich und in ihrer Beachtung jedem Einzelnen überlassen bleiben.

Krenzler: "Zum Stand der berufsethischen Diskussion in Deutschland." Rede auf der Europäischen Konferenz der Bundesrechtsanwaltskammer in Berlin 13. Mai 2011

Damit wird klargestellt: Berufsethik ist mangels Konsens nur noch unverbindliche individuelle Privatsache. Das scheint mir der Anfang vom Ende eines angesehenen Berufs. Denn was ist das für eine "Berufsethik", wenn sie nur individuelle Verhaltensmuster bietet, die sich jeder nach seinem Gusto aussuchen kann? Die Rechtsanwaltskammer scheint in ihrem Diskussionspapier von einem doppelten Missverständnis auszugehen: Verbindlichkeit sei an Erzwingbarkeit gebunden und diese an Konsens.

Die Minderung der ethischen Gebote führt zur Mehrung der rechtlichen Verbote

Ohne soziale Verbindlichkeit einer Berufsethik darf jeder machen, was rechtlich nicht verboten ist. Die Quintessenz dieser Entkoppelung von Recht und Ethik ist ein ethisches Tohuwabohu, das nur durch eine totale Verrechtlichung der Rechtspflege in Schranken gewiesen werden könnte. Wo ethische Gebote sich im Rückzug befinden, sind rechtliche Verbote auf dem Vormarsch. Es gibt kein Niemandsland zwischen Ethik und Recht. So wird am Ende wieder der neoliberale Canossa-Effekt zum Zuge kommen: Die als Privatisierer auszogen, werden barfuß auf Schnee und Eis und zudem mit zerfetztem Gewand als Verstaatlicher zurückkehren.

In der Sozialpolitik wird gerade der Bumerangeffekt zwischen Privatisierungen und Verstaatlichungsrückkehr vorgeführt. Die Privatisierung der Rentenversicherung mit Hilfe der Riesterrente führt zur Ausweitung der staatlich finanzierten Grundsicherung. Der Angriff auf die Tarifautonomie als "Tarifkartell" führt zum staatlich festgesetzten Mindestlohn. Das ist die List der Dialektik.

Ohne Verbindlichkeit ist ein ethisches Gebot eine "taube Nuss". Verbindlichkeit ist keineswegs das Monopol des Staates. Wäre dies so, dann herrschte im vorrechtlichen Raum das Chaos. Regeln sind nicht erst Regeln, wenn sie rechtliche Regeln sind. Zur freiheitlichen Verantwortung gehört definitionsgemäß auch ein ethisch bedingter, verbindlicher Handlungsraum jenseits des Rechts, wobei sie eine Vorfahrt für die jeweils kleinere Gemeinschaft anordnet.

Subsidiarität regelt Zuständigkeiten zwischen Individuum und Staat. Recht und Ethik, Gesetz und Vereinbarung regeln im Rahmen ihrer jeweiligen, koordinierenden Zuständigkeit das soziale Leben, wobei in der kleinsten Gemeinschaft, nämlich der Familie, die geringste rechtliche Dichte und die höchste ethische Verpflichtung besteht bei einem relativ niedrigen Grad der Erzwingbarkeit. Das Gefälle der ethischen Verbindlichkeit verläuft also nicht parallel zu dem Grad der Erzwingbarkeit oder anders gesagt: Verbindlichkeit sollte nicht in dem Maß abnehmen, wie die Sanktionsmöglichkeiten weniger werden.

Die geheime Selbstdemontage der Rechtsanwaltskammern durch ihre Funktionäre

Wenn die rechtlichen Berufspflichten des Anwalts nicht mehr in ethischen Normen wurzeln, verliert sein Berufsstand als eine subsidiäre Institution, die weder von Staatsgnaden gebildet noch lediglich ein Hobbyverein ist, seine Legitimation. Dann gilt die harte Alternative: Entweder ist der Rechtsanwalt dann Staatsangestellter oder Privatperson. Nach subsidiärer Positionierung liegt sein Status dazwischen.

Wenn es eine standesgemäße Sozialethik mit kollektiver Bindung nach Meinung der Rechtsanwaltskammer also nicht mehr geben soll, liegt die Anwaltstätigkeit auf gleicher Ebene mit allen anderen Service- Leistungen, beispielsweise dem Abhalten eines Häkelkurses an der Volkshochschule oder eines Loriot’schen Jodelkurses, dem die Absolventin bekanntlich etwas "Eigenes" zu verdanken hat. Für derartige rechtliche Service-Leistungen bedarf es allerdings keiner Kammer. Dafür reicht ein Verband, ähnlich wie der Zusammenschluss der Fahrlehrer oder der Beerdigungsinstitute. Indem sich die Anwaltschaft selbst aus der Anstrengung entlässt, sich über eine über das Standesrecht hinausgehende Standesethik zu verständigen oder diese gar weiterzuentwickeln, gräbt sie ihr eigenes Grab.

Mit der Individualisierung der ethischen Berufspflichten sperrt die Rechtsanwaltskammer sich selbst von ethischen Regeln aus, die sie als Institution legitimieren. Der Rechtsanwalt wird so zu einem freien Beruf in einem weitergehenderen Sinn, als ihm lieb sein kann. Er ist dann "freigelassen" und kann sich dementsprechend gebärden, wobei er die Vorrechte verliert, welche die Besonderheiten seines Berufsstandes bisher ausmachten. Die Rechtsanwaltschaft wird dann Teil jener Marktgesellschaft, in der jeder im Wettbewerb seines Glückes Schmied ist. Mit dieser "Befreiung" tritt der Rechtsanwalt auf die gleiche Ebene mit allen Anbietern auf dem Markt.

Damit passt sich die Anwaltschaft verspätet dem neoliberalen Mainstream der neunziger Jahre an, ohne bemerkt zu haben, dass nach der Finanzkrise 2008 der Zug zwar mühsam, aber doch in die andere Richtung fährt. Noch wird die Jagdbeute der Deregulierung in der Rechtspflege von der Bundesrechtsanwaltskammer wie Siegestrophäen angeboten:

  • Zulässigkeit der Anwalts-GmbH seit 1. März 1999,
  • Wegfall der singulären Zulassung bei einigen Oberlandesgerichten seit dem 1. August 2001,
  • die Vertretungsbefugnis vor den Oberlandesgerichten ohne Wartezeit nach der Zulassung zur Anwaltschaft seit dem 1. Juni 2007,
  • Wegfall des Zweigstellenverbots seit dem 1. Juli 2008.

In der Werbefreiheit sind die Rechtsanwälte dem Standard der freien Berufe ziemlich nahe gekommen, obwohl sie keine Waren- oder einfachen Dienstleistungslieferanten sind. Die neoliberale Mimikry hat sie jedoch erfasst. Bei so viel deregulierter Stromlinienförmigkeit der Rechtsanwaltskammern sind sie noch gar nicht auf den Einfall gekommen, dass, wenn nichts mehr an Eigenständigkeit für sie bei dieser famosen Gelegenheit der Deregulierung übrig bleibt, sie selbst sich dann überflüssig gemacht haben … Die Revolution frisst ihre Kinder.

Offenbar hat es den Kammerfunktionären noch gar nicht gedämmert, dass in das neoliberale Konzept der Deregulierung eine Kammer mit Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträgen so gut passt wie die Faust aufs Auge. Krenzler versucht sich in der Kunst, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt, ohne vom Baum zu fallen. Das ist eine artistische Kunst, die den Gesetzen der Schwerkraft ebenso entgegensteht wie sein Verständnis des Anwaltsberufs den "Traditionen" des seriösen Anwalts. Es wird sich zeigen, dass die übereifrige Anpassung an zeitgeistige Modetrends nicht nur dem Recht selbst, sondern auch seinen Repräsentanten schadet.

"Pyrrhus" ist ein Vorgänger von Michael Krenzler. Pyrrhus siegte sich zu Tode. Krenzler feiert Siege, die in den Niedergang seines Berufsstandes führen und verliert damit die Schlacht um die Geltung seines angesehenen Berufsstandes. Der Bundesgerichtshof hat ein "Machtwort" gesprochen, jubelte Krenzler, als dieser die Berufsausübung der Rechtsanwälte auch in der Rechtsform der Aktiengesellschaft für zulässig erklärt hatte: Hurra! Der Zug zur Rechtspflege als Geschäft nimmt Fahrt auf! Rechtsanwaltskanzleien mit Dividendenanspruch für Anteilseigner im Rechtsgeschäft, möglicherweise noch börsennotiert. Ist das das Ziel? Warum werden die Rechtsgeschäfte nicht gleich versteigert? So kommt Schritt für Schritt das ganze Recht unter den Hammer.