Der Verstand als Steuermann
Überlegungen zum Stand der Cerebromatik
Gegen die Welle der allgemeinen Begeisterung über das Internet habe ich auch immer die Gefahren thematisiert, die durch globale Computernetze entstehen. Ich glaube, daß diese Ermahnungen und Warnungen einstweilen reichen, und kann nur hinzufügen, daß aus der Weltpresse ein Chor beunruhigter, sogar panikartiger Stimmen von Institutionen und Personen zu hören sind, die über gesetzlich garantierte Veröffentlichungsrechte verfügen, weil zur Zeit jeder ein beliebiges Buch, Musikstück oder ein anderes kreatives Produkt in das Weltnetz so einspeisen kann, daß jeder Netzbenutzer das Werk kostenlos nutzen könnte. Man bezahlt lediglich die Verbindung mit dem Internet und nicht das, was uns mitgeteilt werden kann.
Momentan sieht man keine größeren Gefahren, aber Folgen des Internet können überraschend auftreten, wie dies überall da der Fall sein kann, wo es aktive Menschen gibt und eine unbegrenzte Freiheit herrscht. Andererseits hat sich bereits herausgestellt, daß etwa Pornographieverbote sofort unerwünschte Probleme entstehen lassen, weil z.B. viele Werke berühmter Maler menschliche - nicht nur weibliche - Nacktheit zeigen. Wenn man das Verbot zu ernsthaft befolgt, könnte man sogar die Bibel für ein Werk halten, das in potentia Abbildungen mit pornographischem Beigeschmack enthält. Mit einem Wort, das Problem der Abgrenzung zwischen dem, was Pornographie ist, und dem, was nicht pornographisch ist, erscheint wie ein wieder herbeigerufenes Gespenst. Im übrigen denke ich, daß man entweder zuviel oder zuwenig verbieten wird, weil es eine "graue" Zone geben muß, die für einige künstlerisch begründet und für andere schlüpfrig ist. Der Fragenkomplex der Tabuisierung ist breiter und ernster als alle Internets, Computer und Modems, weil deren Ausmaß in verschiedenen Kulturkreisen äußerst unterschiedlich ist. Für uns ist beispielsweise das für "sehr islamische" Länder eindeutige Verbot, das weibliche Gesicht zu entblößen, geradezu eine Absonderlichkeit. Zusammenstöße des technologischen Fortschritts mit den kulturellen und religiösen Traditionen halte ich daher für unvermeidlich. Bereits die Alten waren hier liberaler als viele Zeitgenossen.
In vielen nur halbwegs wissenschaftlichen Magazinen, wie dem populärwissenschaftlichen englischen Magazin NEW SCIENTIST oder dem französischen SCIENCE ET VIE, kann man in letzter Zeit oft Ankündigungen eines baldigen Einsatzes des denkenden menschlichen Gehirns finden, das einen "Kurzschluß" zwischen diesem Gehirn mit seinen Willensakten und den Effektoren in Form eines Autolenkrads, eines Flugzeugsteuers, eines Antriebs und Lenkrads eines Rollstuhls und auch Geräten, die unvergleichbar komplizierter sind, erlauben soll. Zuletzt haben sich die Japaner auch mit dem Bereich der "Kurzschlüsse" des Gehirns mit den außerkörperlichen Apparaten beschäftigt.
Man schreibt in den als Beispiel aufgeführten Zeitschriften sogar über die Möglichkeit, völlig blinde Menschen, die über ein nicht beschädigtes Sehzentrum (fissura calcarina) verfügen, das Lesen und auch Sehen in Form eines "Raster"-Typus zu ermöglichen. Wie will man dies realisieren? Wenn man den Hinterkopf elektrisch reizt, kann man sogenannte "Phosphene" als Lichtpunkte erzeugen, die vom Menschen bewußt als Ergebnis der direkten Einwirkung auf die Großhirnrinde wahrgenommen werden. Und obwohl niemand diese Blitze zur Zeit zu einem sinnvollen Muster als Buchstaben zusammenstellen kann, glaubt man, daß in ein paar Jahren die Buchstaben so zusammengestellt werden können, daß der Blinde zuerst mit dem Gehirn die Buchstaben der Brailleschrift und dann auch eine gewöhnliche Zeitung lesen können wird. Ich sage nicht, daß man solche Prognosen zwischen Märchen oder Mythen stellen soll, wie jene über Herkules, der auf den Schultern ein Kalb nahm und nach einem Jahr bereits einen Bullen tragen konnte, aber es kann nicht schaden, bei solchen Vorhersagen zurückhaltender zu sein, insbesondere wenn man über das Lenken von Fahrzeugen und Flugzeugen mittels Gedanken schreibt. Das ist falsch und gefährlich.
Wenn das Gehirn bei geschlossenen Augen, einfach formuliert, nicht mit einer Wahrnehmung oder einem Problem beschäftigt ist, kommen freie Entladungen von Neuronen (ALPHA-Rhythmus) vor, und wenn man die Augen öffnet und über etwas aktiv nachdenkt, verändert sich der Alpha- in Hochfrequenz-Beta-Rhythmus (es gibt noch andere Frequenzen wie den Theta-Rhythmus, auf die ich aber nicht eingehen will, weil dies bereits eine andere Frage ist). Vorerst ist die Idee, daß der Mensch durch Öffnen und Schließen der Augen und der dadurch entstehenden Veränderung der EEG-Rhythmen seines Gehirns direkt über entsprechende Verstärker zum Beispiel auf das Lenkrad einwirkt. Ich würde keinem raten, Passagier eines auf diese Weise gesteuerten Vehikels zu sein und ihm seine Gesundheit und sein Leben anzuvertrauen. Die Rhythmusveränderungen sind weder identisch noch in der Geschwindigkeit sicher bei jedem Menschen. Und wenn man sich auch noch vorstellt, worüber uns enthusiastisch eingestellte "Science Writers" unterrichten, die jedoch hinsichtlich der "Rücksteuerung" in der Biologie und Medizin Laien sind, daß über die elektrische Stimulation von geistigen Prozessen durch steuernde Einwirkung auf das Gehirn mittels entsprechender Geräte (schon dies riecht nach S-F, aber nach einer, die mit der Wahrheit der Fakten nicht übereinstimmt), so stellt sich all das als ein Märchen heraus.
Der springende Punkt ist, daß man bis heute nicht genau weiß, wie und wo das Gehirn die Gedächtnisdaten speichert, und man weiß auch nicht, was im EEG das Ergebnis der Gehirnarbeit ist, die das Bewußtsein hervorbringt, oder welche Prozesse das Bewußtsein erzeugen, stützen und leiten. Ich sah selbst in einem Labor, daß Bilder, die durch das arbeitende Gehirn erzeugt werden (man untersucht z.B. die Zustände seiner lokalen Durchblutung, die sich je nach dem verändert, welcher Gehirnbereich mit welchen anderen zusammenarbeitet), bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sind. Ein identisches Problem, mit dem sich eine Person beschäftigt, sieht etwa auf den PET-Bildern anders aus, wenn wir die Gehirnarbeit eines Mannes oder einer Frau beobachten.
Der Streubereich der Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern ist im allgemeinen größer als innerhalb des Personenkreises des gleichen Geschlechts, aber das bedeutet ungefähr soviel, wie anzunehmen, daß wir bereits alles dank der Feststellung wissen, daß die Frauen größere Brüste als Männer haben. Keine Steuerung ist möglich, "weder hin noch her", ohne sehr schwere und erhebliche chirurgische Eingriffe. Und das ganze Erzählen über die gehirnkompatiblen "Interfaces" stellt nur Gerede dar, weil alle Codes, deren sich ein Individuum mit seinen Neuronen bedient, wenn es die gesprochene oder geschriebene Muttersprache benutzt, wenn es diese Sprache oder eine fremde, aber gelernte Sprache liest, noch wesentlich individueller als beispielsweise Fingerabdrücke oder auch die genaue Struktur der Gefäße in der Netzhaut jedes Auges sind. Nota bene wird die Struktur der Blutgefäße in der Netzhaut bereits dank ihrer Verschiedenheit als charakteristisches Merkmal der Identität statt der Fingerabdrücke empfohlen, weil etwa Verbrecher aus einer höheren Klasse die Fingerabdrücke ändern (meistens chirurgisch entfernen) können. Die Verzweigung der Arteriole des Augengrundes kann man dagegen nicht verändern, es sei denn, daß man Augen entfernt und für diesen Eingriff mit Blindheit zahlt. Es kann also über das direkte "Gedankenlesen" mittels einer unerhörten Apparatur keine Rede sein, auch dann wenn man nur feststellen und erkennen möchte, in welcher Sprache ein Mensch denkt und in welcher er nicht viel oder gar nichts versteht.
Das Gehirn verfügt bei einem Neugeborenen über eine sprachliche Potenz, es übernimmt die Sprache, mit der es in Berührung kommt. Bis zum 3. oder 4. Lebensjahr kann man sogar drei Sprachen mit der gleichen automatischen Leichtigkeit erlernen. Später lernen wir Fremdsprachen schon mit einiger Mühe, und es wird möglich werden, Zentral- und Lokalisierungsregionen für die ursprünglich von der menschlichen Umwelt übernommene Sprache zu bestimmen und gleichzeitig zu entdecken, wo bei ihrer Anwesenheit die fremdsprachlichen Ressourcen lokalisiert sind. Es wird irgendwann möglich sein, das allgemein zu bestimmen, aber nicht heute und auch noch nicht morgen. Hingegen gibt es jedoch kein Lesen von Gedanken, weil man zu diesem Zwecke über die noch in 50 und auch in 100 Jahren unmögliche Technologie der zerebralen Architektur verfügen müßte. Dazu wäre es notwendig, das arbeitende Gehirnmodell eines Menschen bauen, in dem es elektronische Entsprechungen für seine Neuronen (ca. 14 Milliarden) und auch für die aktuell aktiven Dendriten- und Axonverbindungen mit anderen Neuronen (bis zu 200.000 pro Neuron) gibt. Doch selbst dann würden wir keine Sicherheit haben, daß dieses künstlich konstruierte Gehirn ein "Schema" darstellt, aus dem wir lesen können, was der Inhaber des "Gehirnoriginals" denkt. Im Grunde können alle iterativ verarbeitenden Computer, wenn sie ein identisches Problem lösen, durch andere ersetzt werden, denn alle sind perfekte Automaten im Sinne der "Nachkommen" der Turing-Maschine. Mit den erst krabbelnden Parallelcomputern wäre das schon schwieriger, aber ein Identitätstest läßt sich sowohl hier wie auch dort durchführen.
Die von ihren Körpern getrennten und in irgendeiner Nährflüssigkeit schwimmende Gehirne, die zum Denken fähig sein sollen, auch wenn sie nicht sinnlich mit ihrem Körper und durch die Sinne des Körpers mit der Welt verbunden sind, sind Märchen. Wenn Gehirne eine derart totale "sensorische Deprivation" erfahren und die Verbindung mit dem Rückenmark und durch das Geflecht des Plexus solaris ("Bauchhirn") mit dem Körper getrennt wird, so werden sie in einen typischen Koma-Zustand fallen, woraus man sie höchstens vielleicht durch chemisch-elektrische Reize reißen kann, die ihnen "Bewußtseinsbrüche" in Form von merkwürdigen Träumen erzeugen. Aber diese makabre, phantastische Vision, die man in einem (schlechten) Science Fiction Roman finden kann, hat weder etwas mit dem billigen, da fiktiven Dämonismus der Gehirne gemeinsam, die zwangsweise auf dieselbe Weise der Gedankenkontrolle und der elektronischen "Steuerung" unterworfen sind, noch mit dem umgekehrten Weg, sie "im Kurzschluß" mit den Systemen der außerkörperlichen Umgebung zu steuern. Dies könnte man nur auf eine so primitive und grobe Weise realisieren, daß es der Mühe nicht wert wäre.
Ich meine allerdings nicht, daß Menschen nicht versuchen werden, auf diesem Weg von Gehirnen zu Gehirnen vorzudringen, weil sie dazu neigen, verschiedene mehr oder weniger verrückte Dinge zu tun. Die Ergebnisse solcher Versuchungen können allerdings weder wirklich lohnend noch sozial gefährlich sein. Jemand bemerkte einmal bissig und menschenfeindlich, daß man zwar eine "synthetische Liebhaberin", die von einer "natürlichen Frau" kaum zu unterscheiden wäre, bauen können werde, aber daß so ein Spiel der Mühe nicht wert sei, und wenn auch nur aus dem sehr trivialen Grund, daß man eine lebendige, für solche Dienstleistungen bezahlte Frau für einen hundertmillionsten Teil der Kosten einer "synthetischen Konkubine" finden kann. Im übrigen schafft die androide "Homunkulisierung" von Anfang an eine ganze Menge schwerwiegender Dilemmata als Bettprobleme, weil eine "künstliche Person" die gleichen Rechte wie eine "natürliche" Person verlangen könnte - und dann müßten sich die Gesetzgeber, Philosophen, Geistliche und Juristen ihre Köpfe zerbrechen. Dies ist jedoch eine Fiktion jenseits der aufblasbaren Puppen, die sexuellen Praktiken dienen, und nicht das Thema, dem ich mit diesen Bemerkungen dienen möchte.
Die Absicht meiner Überlegungen ist, daß eine scharfe Abgrenzung zwischen den technisch und technobiotisch möglichen Errungenschaften und den irrealen Ideen für immer schwierig bleiben wird, weil sich die "graue Zone" zwischen beiden nur mit großer Mühe feststellen läßt, zumal in einer Epoche so schneller Fortschritte wie der unseren. Noch kein Lebender trägt im Brustkorb ein Schweineherz, aber diese Errungenschaft scheint bereits möglich zu sein und kann als Eingriff, durch den das Leben einer Sau für die Rettung des menschlichen Lebens geopfert wird, auch legalisiert werden (wir schweigen zynisch über Schinken und Wurst aus dem Schweineleichnam). Es gibt sogar Wissenschaftler - und nicht nur dilettantische Journalisten-Sensationsjäger -, die uns eine baldige Vernichtung von krankheitserregenden Viren versprechen, während wir immer noch mit den von den Menschen konstruierten Computerviren nicht fertig werden können. Sie versprechen auch die Energiegewinnung aus den "schwarzen Löchern" oder Zeitreisen über diese Löcher, während jeder etwas wachsamere Physiker versichert, daß die "Technologien der Schwarzen Löcher" heute Märchen über den eisernen Wolf darstellen - und auch wenn sich so ein Wolf konstruieren ließe, dann wird das immer noch zum Umbau von "schwarzen Löchern" und deren Verwendung als in der Zeit und Raum gebohrten Tunnel ziemlich weit entfernt sein.
Weil die Menschen, wie man weiß, jedoch anderen Menschen schreckliche und auch mörderische Dinge antun, sollte man trotz aller Vorbehalte annehmen, daß es zu Experimenten mit dem und am menschlichen Gehirn kommen wird. Zu denen, die durch Leichtsinnigkeit gesündigt haben, gehöre auch ich selbst (siehe meine DIALOGE, die vor mehr als dreißig Jahren geschrieben wurdem). Mich hat jedoch damals nicht so sehr die moralische und neurotechnische Seite jener Eingriffe beschäftigt, die ich in den DIALOGEN beschrieben habe, sondern die Konsequenzen philosophischer Natur als den Folgen eines schrecklichen Eindringens in das, was endgültig über die persönliche Identität und Einzigartigkeit eines jeden lebenden Menschen entscheidet.
Da wir jedoch bereits einen Teil der ausschließlich menschlichen geistigen Arbeiten an eine Technologie, die sich dem Menschen entfremdet hat, übertragen haben, wenn z.B. der Schachweltmeister eine Partie gegen den Computer verlieren kann, hat man oberflächlich den Eindruck gewonnen, daß uns das Wasser schon bis zu den Knien reicht, zum menschlichen Verstand ein gerader Weg führt und wir die Hürden ziemlich einfach beseitigen werden. So ist es nicht, denn das Gehirn stellt ein so komplexes und geschlossenes System dar, daß man es sogar verletzen kann und wegen des großen neuronalen Parallelismus keine daraus entstehenden Folgen bemerken wird. Diesen Parallelismus verdanken wir der anthropogenischen Evolution. Die technische Invasion in das Gehirn ist meiner Meinung nach das schwierigste aller schwierigen Probleme, wenn wir optimistisch oder vielleicht eher pessimistisch annehmen dürfen, daß uns eine nicht geringfügige Cerebromatik als Ergebnis der Eingriffe in bereits ausgereifte Gehirne und nicht als eine Variante der zukünftigen genetisch-eugenischen Arbeit bevorsteht.
Aus dem Polnischen übersetzt von Ryszard Krolicki