Der Weltzerstörer
Seite 2: Amazonas auf der Kippe
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Indes scheint die Klimapolitik Brasiliens mittelfristig noch weitaus gefährlicher zu sein als das totale Laissez-faire des rechtsextremen Präsidenten bei der Pandemiebekämpfung.
Der Amazonas gilt aufgrund seiner Kapazität, große Mengen an CO2 zu binden, als die grüne Lunge des Weltklimas, sein potenzielles Verschwinden wird von vielen Klimawissenschaftlern als einer der wichtigsten Kipppunkte des globalen Klimasystems angesehen, nach dessen Überschreiten die Klimakrise in eine irreversible Eskalationsspirale eintreten würde.
Tatsächlich verschwindet der brasilianische Regenwald in einem Rekordtempo. Im Spätherbst 2020 veröffentlichte Studien gehen davon aus, dass weite Teile des Ökosystems des südamerikanischen Regenwaldes unmittelbar vor einem Kipppunkt stehen, der - in Wechselwirkung mit den an Intensität zunehmenden Waldbränden - rund 40 Prozent der Regenwaldfläche in eine Savannenlandschaft transformieren würde.
Die Abholzung des Amazonas hat während der Präsidentschaft Bolsonaros - der im Wahlkampf auch von der brasilianischen Agrarindustrie unterstützt wurde - massiv zugenommen. Zwischen August 2019 und Juli 2020 wurden in Brasilien mehr als 11.000 Quadratkilometer Regenwaldfläche zerstört, was einem Anstieg der Abholzung um 9,5 Prozent gegen über Vorjahr entsprach.
Damit sei Brasilien weit davon entfernt, sein 2009 beschlossenes Klimaziel einzuhalten, das die jährliche Begrenzung des Regenwaldverlustes auf 3.900 Quadratkilometer vorsieht, schlussfolgerte die New York Times. Im vergangenen Jahr ging somit in Brasilien eine Regenwaldfläche verloren, die dem Territorium des Inselstaates Jamaika entspricht.
Die informelle Unterstützung der Regierung Bolsonaros für die illegale Abholzung des Amazonas durch Holzfäller, Agrarkapitalisten oder Goldsucher geht mit medienwirksamen Alibi-Veranstaltungen einher, die vor allem das Ausland beruhigen sollen. So habe sich etwa die Verlegung von Truppen in den Amazonas, um dem rasant zunehmenden Waldschwund zu begegnen, als ein totaler Fehlschlag erwiesen, berichtete Reuters Ende März.
Führende brasilianische Klimawissenschaftler erklärten der Nachrichtenagentur, dass es sich bei dem martialischen Armeeeinsatz nur um eine "Show" gehandelt habe, die "sehr ineffektiv" gewesen sei. Der Aufmarsch unvorbereiteter Soldaten im Amazonas sei ein ähnlicher Fehlschlag wie die Armeeeinsätze gegen das organisierte Verbrechen in den Favelas Brasiliens. Überdies habe Bolsonaro erste Appelle zum Regenwaldschutz, die der jetzige Präsident Joe Biden während des Wahlkampfes an ihn richtete, brüsk zurückgewiesen.
Viele Gegner Bolsonaros sehen in diesem Verhalten einen "Wink zur weiteren Zerstörung" des Regenwaldes, so Reuters. Inzwischen werde das im Amazonas gestohlene Land auf "Facebook zum Verkauf" angeboten, meldete Greenpeace Mitte März. Weder der Internetkonzern noch die Rechtsregierung in Brasilia seinen bereit, gegen diese Praxis vorzugehen, klagte die Nichtregierungsorganisation (NGO).
Unsicherheit und Unordnung
Die zunehmende Abholzung durch Agrarkapitalisten und mafiöse Strukturen (die Übergänge sind fließend) zeitigt buchstäblich mörderische Folgen vor Ort. Seit 2019 sind Dutzende Mitgleiter von Nichtregierungsorganisationen, Indigenen Gruppen und Umweltorganisationen in dem Brasilien Bolsonaros ermordet worden. Rund 90 Prozent der 2019 ermordeten Regenwald- und Klimaschützer sind im Amazonas ums Leben gekommen.
Die Aktivisten machen immer wieder die aggressive Rhetorik der Regierung für die mörderische Gewalt verantwortlich. Bolsonaro, der als klassischer Law-and-Order-Politiker in den Wahlkampf zog, habe ein "Klima der Feindseligkeit" gegen ländliche Aktivisten und NGOs entfacht. Die Mörder fühlten sich, als ob sie eine "Lizenz zum Töten" von der Regierung erhalten hätten, klagten Aktivisten angesichts der Gewaltwellen am Beginn der Präsidentschaft des Rechtsextremisten.
Von "Recht und Gesetz" sind übrigens auch all die Minderheiten weit entfernt, die der Präsident – gemeinsam mit seinen Unterstützern in den einflussreichen rechtsevangelikalen Kirchen – zu Feindbildern aufgebaut hat. Die Todesfälle unter Transsexuellen sind unter Bolsonaro um 70 Prozent angestiegen.
Schwarze und dunkelhäutige Brasilianer, die etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, bilden mit 79 Prozent die mit Abstand größte Opfergruppe tödlicher Polizeigewalt im sozial gespaltenen Land. Im Schnitt töten Brasiliens Polizeikräfte täglich 17 Menschen.
Im November 2020 – nach Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes eines Supermarktes einen Afrobrasilianer totprügelt hatten – kam es in vielen Ortschaften zu Protesten und Ausschreitungen. Die Polizeigewalt macht auch vor den Jüngsten nicht halt: Im Dezember 2020 sollen Polizisten zwei schwarze Mädchen im Alter von vier und sieben Jahren erschossen haben.