Der Weltzerstörer

Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro mit Pedro Cesar Sousa Interims-Chefminister der Militärpolizei des Bundesdistrikts. Foto: Isac Nóbrega/Palácio do Planalto/CC BY 2.0

Brasiliens rechtsextremer Präsident gefährdet mit seiner destruktiven Politik nicht nur Brasilien, sondern die gesamte Welt

Für Deutschlands Pandemieleugner, "Querdenker" und Verschwörungsgläubige, die zuletzt - mit tätiger Unterstützung der Polizei - Kassel unsicher machten, müsste es eigentlich das gelobte Land sein: Das Brasilien des rechtsextremen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro, wo es bis vor kurzem noch nicht mal einen Krisenstab zur Pandemiebekämpfung gab.

Erst am 24. März gab der für die Verharmlosung der Pandemie berüchtigte Staatschef die Bildung eines landesweiten Koordinationsrates bekannt, dem der Gesundheitsminister, alle Gouverneure des größten lateinamerikanischen Landes sowie Vertreter des Parlaments angehören. Das Gremium wird im Wochenrhythmus tagen.

Hiernach trat der Präsident - ganz entgegen seiner Gewohnheit - mit einer Atemschutzmaske vor die Kameras, um sich zur staatlichen Verpflichtung zu bekennen, "die Auswirkungen der Pandemie so klein wie möglich zu halten". Bis zum Jahresende solle die Bevölkerung Brasilien, wo die Impfquote derzeit bei etwas mehr als fünf Prozent liegt, geimpft werden, beteuerte nun Bolsonaro. Brasiliens Medien kommentierten hingegen, der rechtsextreme Staatschef habe die "Pandemie kleingeredet" und die rasche Umsetzung einer landesweiten Impfkampagne sabotiert.

Noch vor wenigen Tagen beschimpfte Bolsonaro die Gouverneure und Bürgermeister Brasiliens, die aufgrund der außer Kontrolle geratenden Pandemie zu "Lockdowns" übergingen, als "Tyrannen". Eine Anfang 2021 veröffentlichte Studie kam laut Medienberichten zu dem Schluss, dass der umstrittene Staatschef letztendlich eine "institutionelle Strategie zur Verbreitung des Corona-Virus" verfolgt habe.

Die auch unter Deutschlands "Querdenkern" kursierende Wahnidee, der Pandemie mit der "Duchseuchung" der Bevölkerung und einer Hoffnung auf Herdenimmunität zu begegnen, wurde faktisch in Brasilien bis ins Extrem getrieben. Anfang März polterte Bolsonaro bei einer öffentlichen Veranstaltung, dass die Bevölkerung doch endlich aufhören solle, aufgrund der sich ausbreitenden Pandemie zu "jammern". Da waren rund 260.000 Bürger Brasiliens der Pandemie zu Opfer gefallen.

Ende März hatte das größte Land Lateinamerikas, dessen Staatschef bereits drei Gesundheitsminister verschlissen hat, schon mehr als 300.000 Todesopfer zu beklagen.

Die Zahlen sind in der Tat dramatisch. Obwohl in Brasilien nur 2,7 Prozent der Weltbevölkerung leben, hat das Land gegenwärtig einen großen Anteil der Pandemieopfer weltweit zu beklagen. Das Ärzteblatt meldete am Mittwoch vergangene Woche, dass Brasilien "in den vergangenen Tagen rund ein Viertel aller Coronatoten weltweit verzeichnet".

Nach den USA des Rechtspopulisten Donald Trump ist das Brasilien Bolsonaros das am schwersten von der Pandemie heimgesuchte Land der Welt. Inzwischen werden in Brasilien täglich 90.000 Neuinfektionen mit Covid-19 gemeldet. Rund 11,5 Millionen Bürger des 210 Millionen Einwohner zählenden Landes haben sich mit dem Virus infiziert.

Vorfahrt für die Wirtschaft

Die Pandemie ist außer Kontrolle geraten, da das Gesundheitssystem des Landes wegen Überlastung Patienten abweisen muss. Selbst in relativ wohlhabenden, städtischen Regionen würden Patienten mit akuten Symptomen auf Wartelisten geparkt. Wissenschaftler warnen inzwischen davor, dass die täglichen Todeszahlen bald diejenigen der USA während der Präsidentschaft von Donald Trump übertreffen könnten - mit bis zu 5.000 Toten pro Tag.

Die auf Verharmlosung und Ignoranz basierende Strategie des Präsidenten ist hauptsächlich wirtschaftlich motiviert. Die Interessen der Wirtschaft werden über den Gesundheitsschutz der Bevölkerung gestellt, um eine weitere Verschlechterung der ohnehin angeschlagenen sozioökonomischen Lage zu verhindern.

Da kapitalistische Unternehmen wie Volkswirtschaften längere "Lockdowns" nicht ohne massive staatlichen Subventionen überstehen können, die in finanziell angeschlagenen Schwellenländern wie Brasilien kaum möglich sind, werden von der Regierung in Brasilia erhöhte Todesraten schlicht in Kauf genommen (siehe hierzu auch: Die Wirtschaft wird leben, auch wenn wir sterben müssen).

Dabei entwickelte sich die Pandemie in Brasilien, das aufgrund der faktischen Politik der "Durchseuchung" zu einer Brutstätte für gefährliche Virus-Mutanten wurde, längst zu einer Gefahr für die Weltgesundheit. Die erstmals im Amazonas, in der Metropole Manaus registrierte Mutante P.1 hat sich bereits auf ganz Brasilien ausgebreitet und Nachbarländer erreicht. Die Gefahr besteht laut brasilianischen Virologen darin, dass Mutationen zum "Verlust der Wirksamkeit" der bereits entwickelte Impfstoffe führen können.

Erste Studien der neuen Mutante legen den Schluss nahe, dass diese um den Faktor 1,4 bis 2,2 ansteckender sei als der Wildtyp von Sars-CoV-2. Lucas Ferrante, Biologe am nationalen Institut für Amazonasforschung (INPA), brachte in einem Interview mit dem Spiegel das gescheiterte Konzept der "Durchseuchung" mit dem Auftauchen der neuen Mutante P.1 in Zusammenhang.

Es sei früh klar gewesen, dass eine Strategie der Herdenimmunität nicht funktionieren könne, da die "natürliche Immunität gegen das Virus mit der Zeit abnimmt und sich Mutanten entwickeln werden, die die Menschen reinfizieren". In Brasilien ließen sich fast alle Infektionen auf die "aggressivere und doppelt so ansteckende Coronavirus-Variante P1 zurückführen", warnte der Biologe aus der Amazonas-Metropole Manaus, der sich mit Entführungsversuchen und Todesdrohungen konfrontiert sieht.

Amazonas auf der Kippe

Indes scheint die Klimapolitik Brasiliens mittelfristig noch weitaus gefährlicher zu sein als das totale Laissez-faire des rechtsextremen Präsidenten bei der Pandemiebekämpfung.

Der Amazonas gilt aufgrund seiner Kapazität, große Mengen an CO2 zu binden, als die grüne Lunge des Weltklimas, sein potenzielles Verschwinden wird von vielen Klimawissenschaftlern als einer der wichtigsten Kipppunkte des globalen Klimasystems angesehen, nach dessen Überschreiten die Klimakrise in eine irreversible Eskalationsspirale eintreten würde.

Tatsächlich verschwindet der brasilianische Regenwald in einem Rekordtempo. Im Spätherbst 2020 veröffentlichte Studien gehen davon aus, dass weite Teile des Ökosystems des südamerikanischen Regenwaldes unmittelbar vor einem Kipppunkt stehen, der - in Wechselwirkung mit den an Intensität zunehmenden Waldbränden - rund 40 Prozent der Regenwaldfläche in eine Savannenlandschaft transformieren würde.

Die Abholzung des Amazonas hat während der Präsidentschaft Bolsonaros - der im Wahlkampf auch von der brasilianischen Agrarindustrie unterstützt wurde - massiv zugenommen. Zwischen August 2019 und Juli 2020 wurden in Brasilien mehr als 11.000 Quadratkilometer Regenwaldfläche zerstört, was einem Anstieg der Abholzung um 9,5 Prozent gegen über Vorjahr entsprach.

Damit sei Brasilien weit davon entfernt, sein 2009 beschlossenes Klimaziel einzuhalten, das die jährliche Begrenzung des Regenwaldverlustes auf 3.900 Quadratkilometer vorsieht, schlussfolgerte die New York Times. Im vergangenen Jahr ging somit in Brasilien eine Regenwaldfläche verloren, die dem Territorium des Inselstaates Jamaika entspricht.

Die informelle Unterstützung der Regierung Bolsonaros für die illegale Abholzung des Amazonas durch Holzfäller, Agrarkapitalisten oder Goldsucher geht mit medienwirksamen Alibi-Veranstaltungen einher, die vor allem das Ausland beruhigen sollen. So habe sich etwa die Verlegung von Truppen in den Amazonas, um dem rasant zunehmenden Waldschwund zu begegnen, als ein totaler Fehlschlag erwiesen, berichtete Reuters Ende März.

Führende brasilianische Klimawissenschaftler erklärten der Nachrichtenagentur, dass es sich bei dem martialischen Armeeeinsatz nur um eine "Show" gehandelt habe, die "sehr ineffektiv" gewesen sei. Der Aufmarsch unvorbereiteter Soldaten im Amazonas sei ein ähnlicher Fehlschlag wie die Armeeeinsätze gegen das organisierte Verbrechen in den Favelas Brasiliens. Überdies habe Bolsonaro erste Appelle zum Regenwaldschutz, die der jetzige Präsident Joe Biden während des Wahlkampfes an ihn richtete, brüsk zurückgewiesen.

Viele Gegner Bolsonaros sehen in diesem Verhalten einen "Wink zur weiteren Zerstörung" des Regenwaldes, so Reuters. Inzwischen werde das im Amazonas gestohlene Land auf "Facebook zum Verkauf" angeboten, meldete Greenpeace Mitte März. Weder der Internetkonzern noch die Rechtsregierung in Brasilia seinen bereit, gegen diese Praxis vorzugehen, klagte die Nichtregierungsorganisation (NGO).

Unsicherheit und Unordnung

Die zunehmende Abholzung durch Agrarkapitalisten und mafiöse Strukturen (die Übergänge sind fließend) zeitigt buchstäblich mörderische Folgen vor Ort. Seit 2019 sind Dutzende Mitgleiter von Nichtregierungsorganisationen, Indigenen Gruppen und Umweltorganisationen in dem Brasilien Bolsonaros ermordet worden. Rund 90 Prozent der 2019 ermordeten Regenwald- und Klimaschützer sind im Amazonas ums Leben gekommen.

Die Aktivisten machen immer wieder die aggressive Rhetorik der Regierung für die mörderische Gewalt verantwortlich. Bolsonaro, der als klassischer Law-and-Order-Politiker in den Wahlkampf zog, habe ein "Klima der Feindseligkeit" gegen ländliche Aktivisten und NGOs entfacht. Die Mörder fühlten sich, als ob sie eine "Lizenz zum Töten" von der Regierung erhalten hätten, klagten Aktivisten angesichts der Gewaltwellen am Beginn der Präsidentschaft des Rechtsextremisten.

Von "Recht und Gesetz" sind übrigens auch all die Minderheiten weit entfernt, die der Präsident – gemeinsam mit seinen Unterstützern in den einflussreichen rechtsevangelikalen Kirchen – zu Feindbildern aufgebaut hat. Die Todesfälle unter Transsexuellen sind unter Bolsonaro um 70 Prozent angestiegen.

Schwarze und dunkelhäutige Brasilianer, die etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, bilden mit 79 Prozent die mit Abstand größte Opfergruppe tödlicher Polizeigewalt im sozial gespaltenen Land. Im Schnitt töten Brasiliens Polizeikräfte täglich 17 Menschen.

Im November 2020 – nach Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes eines Supermarktes einen Afrobrasilianer totprügelt hatten – kam es in vielen Ortschaften zu Protesten und Ausschreitungen. Die Polizeigewalt macht auch vor den Jüngsten nicht halt: Im Dezember 2020 sollen Polizisten zwei schwarze Mädchen im Alter von vier und sieben Jahren erschossen haben.