Die Wirtschaft wird leben, auch wenn wir sterben müssen!
Wolfgang Schäuble und Boris Palmer machen mit ihren jüngsten Äußerungen klar, wo im Notfall die Prioritäten in einer kapitalistischen Marktwirtschaft liegen. Ein Kommentar
Was haben sich Ende März noch alle aufgeregt, als reaktionäre Republikaner in Texas ihre Mitbürger angesichts des einsetzenden Wirtschaftseinbruchs aufforderten, ihr Leben für das Wohl der US-Wirtschaft zu opfern - und trotz Pandemie zu arbeiten. Dabei bildeten die USA auch damals nur die Avantgarde der krisenbedingten Verrohung der veröffentlichten Meinung. Wenige Wochen später ist eben dieser monströse Opferdiskurs in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik plötzlich präsent.
Und es sind keine bloßen Hinterbänkler, die Menschenleben gegen ein Ende des "Lockdowns" abwägen. Wolfgang Schäuble, der in der Eurokrise ganze Länder - etwa das geschundene Griechenland - mittels eines drakonischen Sparregimes zu immer neuen, sinnlosen Opfern nötigte, erklärte gegenüber dem Tagesspiegel, dass das Leben der höchste der Werte nun wirklich nicht sei.
Wenn er höre, "alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten", dann müsse er konstatieren, dass dies "in dieser Absolutheit" nicht richtig sei. Die Grundrechte würden sich gegenseitig beschränken. Falls man von einem "absoluten Wert" im Grundgesetz sprechen könne, dann nur von der Würde des Menschen, die unantastbar sei, meinte Schäuble. Die Aufrechterhaltung der schäublerischen Menschenwürde könnte aber leider auch den Umstand einschließen, "dass wir sterben müssen", so Schäuble. Implizit bedeutet dies: Lebensumstände könnten dermaßen unwürdig sein, dass der Tod als ein Schutz der Menschenwürde fungiert - das kleinere Übel darstellt.
Unsere Ehre heißt Würde?
Sterben für die Menschenwürde - Schäubles Interviewpartner wollte leider nicht so genau wissen, welche Vorstellung von Menschenwürde dieser pflegt, der schon mal mies bezahlte und prekäre Lohnarbeit als den Urquell des Glücks und der "persönlichen Lebenserfüllung" der betroffenen Lohnabhängigen definiert. Rein rechtlich betrachtet hat Schäuble aber recht - das Grundgesetz kennt, mit Ausnahme der Menschenwürde, keine Rangfolge der Grundrechte, das Recht auf Leben ist nicht "höherwertig" als etwa die Meinungsfreiheit. Die Grundrechte können somit gegeneinander abgewogen werden.
Was für Werte könnten über dem Lebensrecht stehen? An erster Stelle nennt Schäuble im Interview den Wert. Man dürfe die Entscheidungen über die Pandemiebekämpfung nicht einfach irgendwelchen Virologen überlassen, sondern müsse auch "die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen", so Schäuble, der Lockdown hätte "fürchterliche Folgen". Damit spricht der ehemalige Finanzminister relativ offen aus, dass der Kapitalismus nicht in der Lage ist, einen längerfristigen Lockdown zu überstehen. Anstatt also über eine grundlegende Transformation einer Gesellschaft nachzudenken, die im blinden und selbstzerstörerischen Wachstumszwang verfangen ist, legt der Bundestagspräsident den Bundesbürgern einen - buchstäblichen - Opfergang nahe.
Beseitigung von Kostenfaktoren?
Auf rechtliche Feinheiten und bloße Andeutungen legt man offenbar keinen großen Wert mehr. Tübingens "Grüner" Oberbürgermeister Boris Palmer erklärte am Dienstag, dass man derzeit auf Kosten der Wirtschaft Menschen retten würde, die ohnehin bald das Zeitliche segnen würden: "Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen." Viele Menschen, die an Corona sterben würden, seien über 80 Jahre alt, dozierte Palmer im Frühstücksfernsehen, um man wisse ja, "über 80 sterben die meisten irgendwann".
Um diese Zumutung zu beenden, dass da reine Kostenfaktoren am Leben sind, die dem Verwertungsprozess im Wege stehen, plädierte Palmer für eine rasche Öffnung der Wirtschaft. Die Alten und Kranken müssen also dran glauben, es geht schließlich um den höchsten aller Werte, um den Wert. Wer soll als nächster über die Klinge springen, wenn einer der vielen, kommenden Krisenschübe das System abermals an den Rand des Kollaps treibt? Kinder? Psychisch Kranke? Brillenträger? Menschen mit Migrationshintergrund? Boris und Wolfgang werden das schon regeln.
Die Prophezeiung Walter Benjamins, der schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts im Kapitalismus eine Art säkularisierter Religion erblickt hat, tritt am Ende der historischen Irrfahrt dieser Gesellschaftsunordnung krass zutage. Es ist ein absurd anmutender Todeskult, der - ähnlich den Opferritualen im präkolumbianischen Amerika - inzwischen buchstäblich Menschenopfer einfordert, um weiterhin aus Geld mehr Geld machen zu können.
Der Kapitalismus als eine irre Selbstmordsekte (Robert Kurz), die Umwelt, Mensch und Gesellschaft eines uferlosen Wachstums wegen verheert, zerstört inzwischen auch seine eigene Ideologie, die ja um das westliche "Individuum", also um das bürgerliche Marktsubjekt, kreiste. Boris und Wolfgang haben nämlich recht: die Mehrwertmaschine muss wieder angeworfen werden, koste es, was es wolle, ansonsten bricht das System zusammen.
Der Krisenprozess ist an einem Scheideweg angekommen. Entweder setzt sich nun - in Anlehnung an die bewährte Tradition der diskursiven Tabubrüche durch Akteure der Neuen Rechten - die Logik des Opfergangs für das Kapital fest, also des einkalkulierten Opfertodes von Bevölkerungsgruppen, um den stotternden globalen Verwertungsmotor am Laufen zu halten und die Agonie einer in Auflösung befindlichen Gesellschaftsunordnung zu verlängern. Oder es gewinnt die Suche nach Systemalternativen an Dynamik - dies gerade in Auseinandersetzung mit den menschenverachtenden "Sachzwängen" der kapitalistischen Krise. Wollen die Insassen der spätkapitalistischen Tretmühle für die kapitalistische Wirtschaft sterben oder im Kampf um eine Systemalternative leben?