Der Zar ist nicht tot - es lebe der Zar!

Wer wird Vladimir Putins Nachfolger?

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In der russischen Presse wird derzeit heftig über den kommenden Kremlherrn spekuliert – mehr als anderthalb Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Neben allerlei wahrscheinlichen und eher unwahrscheinlichen Kandidaten werden auch Szenarien eines vorzeitigen Urnengangs präsentiert. Amtsinhaber Putin, der laut Verfassung kein drittes Mal antreten darf, hält sich bedeckt und lässt andere zum Thema reden.

Wer kommt nach Vladimir Putin? Dieses Thema des politischen Moskau gegenwärtig direkt anzusprechen, hat etwas von Hautgout. Denn der Präsident ist präsent und populär, er wird vom Volk wie von den Eliten als energisch und erfolgreich wahrgenommen. Die Zustimmungsrate liegt bei mehr als drei Viertel der befragten potentiellen Wähler. Ein Russland ohne ihn kann sich derzeit eigentlich kaum jemand vorstellen. Fast 60 Prozent würden Putin gerne für weitere vier Jahre im Kreml sehen.

Dennoch läuft seine Amtszeit im März 2008 aus – und ein Kronprinz, von Putin gekürt, ist nicht in Sicht. Gleichwohl wird in den Lobbies, Parteien, Redaktionen und Wohnzimmern der russischen Hauptstadt und darüber hinaus heftig über die „K-Frage“ spekuliert. Auch werden Verfassungsänderungen nicht ausgeschlossen, die Putin eine dritte, bislang nicht mögliche Amtszeit erlauben würden.

Zwar hat der Amtsinhaber deutlich gemacht, dass er derlei konstitutionelle Brachialmethoden ablehnt. Dennoch spielen in- und ausländische Medien sowie russische Polit-Experten der unterschiedlichsten Couleurs allerlei Szenarien von Parlamentsauflösung und vorzeitigen Wahlen durch. Immer wieder wird auch der konstitutionelle Umbau Russlands von einer Präsidial- zu einer parlamentarischen Demokratie als Überlegung in den Ring geworfen. Dann könnte Vladimir Putin als Ministerpräsident westeuropäischen Schlages beliebig oft wiedergewählt werden.

Klarheit erst 2007

Die Debatte verrät die Unsicherheit der Beteiligten. Sie verrät aber auch das Unbehagen vieler Beobachter bei der Vorstellung, dass Putin als erster russischer Führer der vergangenen hundert Jahre ganz normal seine zweimalige, insgesamt achtjährige Amtszeit vollendet und dann das Szepter an seinen ordentlich gewählten Nachfolger übergibt.

Zar Nikolaj II. dankte unter öffentlichem Druck 1917 ab und wurde mit seiner Familie 1918 ermordet. Vladimir Lenin, Iosif Stalin sowie Leonid Breschnev, Jurij Andropov und Konstantin Tschernenko starben gewissermaßen am Schreibtisch. Nikita Chruschtschov wurde durch einen unblutigen Putsch seiner nächsten Umgebung gestürzt. Michail Gorbatschov gab seine Ämter als Generalsekretär und Präsident mit dem Zerfall von KPdSU und Sowjetunion auf. Und Boris Jelzin überreichte die Präsidentschaft ein Vierteljahr vor Ablauf seiner Amtsfrist in unorthodoxer Weise an einen vergleichsweise jungen Politiker aus St. Petersburg, den damals zur Jahrtausendwende kaum jemand kannte.

Wenn es darum geht, den Namen des Nachfolgers jenes „jungen Politikers“ zu nennen, halten sich viele Experten zurück, selbst diejenigen, die als dem Kreml nahestehend gelten. Vjatscheslav Nikonov, Präsident der Politika-Stiftung, nennt den Herbst 2007 als Zeitpunkt, an dem der Kreml „seinen“ Kandidaten für das Amt des Staatsoberhaupts vorstellen wird. Ihm pflichtet Mark Urnov bei, renommierter Leiter des Moskauer Ekspertisa-Instituts. Er hält allerdings für möglich, dass Putin doch noch für eine dritte Amtsperiode antritt: „Die Chancen stehen fifty-fifty, was eine weitere Periode oder einen Nachfolger angehen“, so Urnov.

Der Moskauer Politologe Stanislav Belkovskij geht davon aus, dass der Kreml selbst noch kein Konzept über die reibungslose Übergabe des Präsidentenamtes hat: „Es wird höchstwahrscheinlich ein Jahr vor dem Wahltermin vorbereitet werden.“ Das wäre im Frühjahr 2007. Seiner Meinung nach versteht der gegenwärtige Kremlherr, dass in den Augen der Wähler niemand aus seinem Team aufgrund eigener Verdienste zum Präsidentennachfolger avanciert, sondern immer als Putins Favorit wahrgenommen wird.

Polit-Experte Nikonov, Enkel des früheren sowjetischen Außenministers Vjatscheslav Molotov, rechnet ebenfalls damit, dass der künftige Präsident ab Sommer kommenden Jahres aufgebaut wird. Er geht davon aus, dass sich das nach dem gleichen Szenario vollziehen könnte, nach dem Putin in den Jahren 1999 und 2000 in das höchste Staatsamt katapultiert wurde. Der heutige Kremlherr schaffte damals innerhalb weniger Monate den Durchmarsch vom kaum bekannten Geheimdienstchef über das Amt des Ministerpräsidenten zum zunächst eingesetzten und schließlich gewählten Präsidenten. Nikonov konzentriert sich deshalb darauf, wer 2007 die Nachfolge des derzeitigen Premiers Michail Fradkov antritt, genauer gesagt: wem sie angetragen wird. Denn laut russischer Verfassung bestimmt der Präsident den Regierungschef..

Putin selbst spielte in Sachen Nachfolger die Sphinx am Roten Platz. So äußerte er sich Mitte Juni 2006 anlässlich des Gipfels der Shanghai Cooperation Organization in China, dass nicht unbedingt die bisher genannten Kandidaten russischer Präsident werden könnten, sondern vielleicht jemand, der weniger bekannt ist.

Kandidatenkarussell

Wer sind die Personen, die immer wieder als Putin-Nachfolger ins Spiel gebracht werden?

Wenig Chancen haben die Kandidaten der Opposition, ob von den Kommunisten oder von den liberalen Demokraten. KP-Chef Gennadij Sjuganov (Jahrgang 1944) hat sich hinsichtlich seiner Absichten noch nicht deutlich geäußert, er gilt als blass und zu alt. Außerdem ist er in seiner eigenen Partei, die seit Jahren an Auszehrung leidet, nicht unumstritten.

Von der liberalen Opposition wird eine ganze Reihe von Namen in die Diskussion geworfen. Dazu gehören Ex-Vizepremier Boris Nemtzov (Jahrgang 1959), der bereits unter Boris Jelzin als Kronprinz ausgelotet worden war, sowie die temperamentvolle Unternehmerin Irina Chakamada (Jahrgang 1955). Auch der Schachchampion Garri Kasparov (Jahrgang 1963) wird genannt, der jedoch kaum über praktische politische Erfahrung verfügt. Unter dessen Führung hat sich, bei Teilnahme von Nemtzov und Chakamada, ein Komitee „2008 – freie Wahl“ etabliert, das von allerlei liberaler Prominenz unterstützt wird.

Politisch ein gewiefter Macher, aber wenig beliebt ist Michail Kasjanov (Jahrgang 1957), von 2000 bis 2004 russischer Ministerpräsident. Er hat internationale Erfahrung und diente einst Putin, ist ihm aber in gegenseitiger Abneigung verbunden. Immer wieder wird in den russischen Medien – zu Recht oder zu Unrecht - auf Kasjanovs enge Beziehungen zu den verhassten Oligarchen hingewiesen.

Die Liberalen werden sich wohl auf einen Kandidaten einigen. Aber schon die Dumawahlen, die „laut Plan“ im Dezember 2007, also drei Monate vor dem präsidialen Urnengang stattfinden, werden zeigen, ob sie überhaupt in der Lage sind, ihre Parteien zusammenzuschließen und die neu eingeführte Sieben-Prozent-Hürde zu nehmen. Schaffen sie es nicht, dann ist ihr Bewerber ein reiner Zählkandidat.

Irgendwo zwischen den Kommunisten und der Putin-nahen zentristischen Partei Einiges Russland (ER) steht Dmitrij Rogosin (Jahrgang 1963), einst Co-Vorsitzende der linkspatriotischen Partei Rodina („Heimat“). Diese Gruppierung, die bei den Dumawahlen 2003 mit fast zehn Prozent aus dem Stand gut abschnitt, hat mittlerweile einen Teil ihrer Führung verloren.

Rogosin ist in der Bevölkerung durchaus populär. Er ist ein eifriger Verfechter der Interessen jener Russen, die in den übrigen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion leben. Im Jahr 2002 wurde er von Putin in Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union zum Sondervertreter für das Gebiet Kaliningrad (ehemals Königsberg und Umgebung) ernannt. Dass er sich mit Militärs und Geheimdienstlern gut versteht, beweist die Tatsache, dass er von beiden Organisationen eine Ehrenwaffe verliehen bekommen hat. Im März 2006 ist Rogosin als Parteiführer zurückgetreten – hinter diesem Schritt werden taktische Erwägungen vermutet.

Auch Sergej Glasjew (geboren 1961), einst Rodina-Führer und ein erfahrener Wirtschaftsexperte, wird mit einer Präsidentschaftskandidatur in Zusammenhang gebracht. Er war bereits 2004 für das Amt des Kremlchefs angetreten und hatte damals fast drei Millionen Stimmen erhalten.

Von den Kreml-nahen Politikern werden Sergej Mironov (Jahrgang 1953) und Boris Gryslov (Jahrgang 1950) genannt. Mironov ist Vorsitzender des Föderationsrats (Oberhaus, Regionenvertretung), Gryslov steht der Staatsduma (Parlament) vor. Beide komen aus St. Petersburg, verfügen über wenig Charisma und gelten als Geschöpfe Putins. Ihnen fehlt der politische „Sex-Appeal“, den ein erfolgreicher Präsidentschaftsbewerber auch in Russland haben muss.

Über diese Qualität verfügt Katastrophenschutzminister Sergej Schoigu (Jahrgang 1955). Er ist relativ jung, sieht gut aus und tritt mit seinen „Truppen“ immer dann positiv in Erscheinung, wenn vorher durch Unbilden der Natur, technische Unzulänglichkeiten oder menschliches Versagen schnelle Hilfe für die Betroffenen notwendig wird. Schoigu hat aber wenig juristische oder Wirtschaftserfahrung. Darüber hinaus ist er kein ethnischer Russe, sondern Tuwiner. Dies macht zweifelhaft, ob er vom Kreml als Bewerber für das höchste Amt der Russischen Föderation aufgebaut wird.

Immer wieder erwähnt, aber wohl ebenfalls nicht unter den Top-Favoriten ist Vladislav Surkov (Jahrgang 1964). Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung hat er den Ruf des „Ideologen des Kreml und „Grauen Kardinals““. Putins überzeugender Wahlsieg 2004 wird wesentlich ihm zugeschrieben. Allerdings ist Surkov väterlicherseits Tschetschene, was derzeit für eine politische Karriere in Russland eher hinderlich ist.

Aus der Präsidialverwaltung kommt auch Dmitrij Kosak (Jahrgang 1958), zwischenzeitlich Stabschef der Regierung („Kanzleramtsminister“) und gegenwärtig Vertreter des Präsidenten im Südlichen Föderalen Distrikt. Zu seinem Verantwortungsbereich gehört unter anderem die Autonome Republik Tschetschenien, auch sonst ist die Region durchaus konfliktträchtig.

Seit geraumer Zeit ganz heiß gehandelt werden Verteidigungsminister Sergej Ivanov und der Erste Vizepremier Dmitrij Medvedev. Ivanov (Jahrgang 1953), im derzeitigen Amt seit 2001, kommt ebenso wie Putin aus St. Petersburg und vom KGB. Damit ist er ein „silovik“, ein Mann der „Machtministerien“ (Verteidigung, Inneres und Geheimdienst). Dennoch ist Ivanovs Ansehen bei den Streitkräften nicht ohne Flecken, man wirft ihm Versagen in einer Reihe von politischen und militärischen Krisen vor. Möglicherweise wollen oder können die hohen Militärs aber einfach nicht akzeptieren, dass ein Zivilist an der Spitze ihres Ministeriums steht.

Medvedev (Jahrgang 1965) ist gegenwärtig so etwas wie everybody’s darling. Er kommt ebenfalls aus der Stadt an der Neva, erfreut sich Putins Gunst und gilt trotzdem als Reformer. Seine wirtschaftlichen und administrativen Talente konnte der promovierte Jurist als Vorstandsvorsitzender des Erdgasmonopolisten Gasprom und als Leiter der allmächtigen Präsidialverwaltung beweisen. Gegen ihn spricht möglicherweise sein Alter, er ist der Jüngste der Kandidaten.

Vladimir der Erstberufene?

An Prominenz gewonnen hat in letzter Zeit Vladimir Jakunin (Jahrgang 1948), seit 2005 Chef der russischen Eisenbahnen. Auch er ist Petersburger und hat zu UdSSR-Zeiten im Außenhandelsministerium sowie an der sowjetischen UNO-Vertretung in New York gearbeitet. Beide Posten legen nahe, dass Jakunin auch enge Beziehungen zur Auslandsaufklärung hatte.

Anschließend stieg er in das Geschäftsleben seiner Heimatstadt ein, bevor ihn Putin, damals Chef der Kontrollabteilung in Jelzin Präsidialverwaltung, 1997 in sein Team holte. Auf Jakunin würde, im Gegensatz zu Ivanov und Medvedev, Putins Shanghaier Diktum von „weniger bekannt“ am ehesten passen. Er ist ein persönlicher Freund des gegenwärtigen Kremlherrn und steht daneben auch für eine bestimmte politische Symbolik. Denn bereits seit 2001 leitet er die Stiftung „St. Andreas der Erstberufene“, die sich die Wiederherstellung der nationalen Größe Russlands auf das Banner geschrieben hat. Namensgeber ist der erste Jünger, mit dem Jesus Christus seine Gemeinschaft begründet hat.

Jakunin kann sich bei dieser Aufgabe auf Zustimmung sowohl von konservativer als auch von kommunistischer Seite verlassen. Das geht soweit, dass die Stiftung auch die Rückführung von der sterblichen Überreste von antikommunistischen Emigranten zu veranlassen vermag, darunter des „weißen“ Generals Anton Denikin. Die Organisation spielt eine wichtige Rolle bei der Versöhnung des Moskauer russisch-orthodoxen Patriarchats und der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland.

Mit derlei Aktivitäten sammelt Jakunin Punkte. Denn er scheint Rückhalt in den Geheimdiensten zu besitzen, ist ein erfolgreicher Manager und Staatsdiener, genießt die Gunst des Präsidenten, hat Auslandserfahrung und steht für eine politische Idee, die im Lande allgemein anerkannt wird. Damit kann er auf die Unterstützung der „siloviki“ ebenso wie der Geschäftswelt zählen und ist auch dem Wahlvolk zumutbar.

Die derzeitige Diskussion verrät eines: Im Kreml pflegt man das Konzept der von Vladimir Putin so sehr geschätzten „managed democracy“. Niemand in der Umgebung des Amtsinhabers scheint sich besondere Gedanken darüber zu machen, dass der russische Präsident qua Verfassung eigentlich immer noch vom Volke gewählt und nicht von einer Hof-Kamarilla ausgeguckt wird.

Auch die „unabhängigen Beobachter“ vom Schlage Nikonovs rechnen schon nicht mehr damit, dass ein Kandidat, der sich nicht der Gunst Putins erfreut, eine Chance auf das höchste Amt im Staat haben könnte. Damit wird die Zustimmung der Russen per Wahlzettel im Frühjahr 2008 gewissermaßen zu einer Formsache. Bestimmt wird der neue Präsident nämlich bereits lange vorher.

Bisher hat sich keiner der genannten Kandidaten öffentlich und allzu laut über seine Absichten und Chancen geäußert. Jeder von ihnen weiß, dass der Kremlherr derlei nicht schätzt. Das ist in Russland nicht anders als in anderen Staaten dieser Erde, wenn sich Diadochen in den Startlöchern plazieren. Es gilt die Mikado-Regel: Wer sich bewegt, der fliegt.

Qualitäten des Putin-Nachfolgers

Der US-amerikanische Russland-Experte Dale Herspring von der Kansas State University nennt die Eigenschaften, die der künftige Präsident haben sollte. Er muss ein Pragmatiker mit diplomatischen und Manager-Talenten sein; er sollte einen Ruf als Patriot, aber nicht als Super-Patriot haben; idealerweise verfügt er über „Stallgeruch“ aus der sowjetisch-russischen Bürokratie; und er sollte in der Tradition seines Vorgängers Putin stehen, also dessen Politik fortsetzen.

Für Donald Jensen von Radio Free Europe/Radio Liberty muss der Putin-Nachfolger vor allem für die eigentlichen Entscheidungseliten im Land annehmbar sein. Dazu gehören die Spitzen aus der Präsidialverwaltung, aus der Regierung und aus den wichtigsten Regionen, die Leiter der Geheimdienste sowie die Manager der lukrativsten und bedeutendsten Sektoren des russischen Business. Damit der jetzige Staatschef „seinen Mann“ durchsetzen kann, darf bis 2008 der Ölpreis und das daran hängende Niveau der russischen Staatskasse nicht sinken. Bedrohlich wäre auch eine Terrorwelle, die Putin und seinen Kronprinzen innenpolitisch als „lahme Enten“ präsentieren würde.

Der Moskauer Politikexperte Vladimir Frolov hält die Variante, wonach Putin auf dem Umweg einer inszenierten politischen Krise das Amt des Ministerpräsidenten übernimmt, für abwegig. Ebenso schließt er aus, dass Putin mittels konstitutioneller Manipulationen eine dritte Amtsperiode anhängt. Gleichwohl verweist Frolov auf die jüngsten Änderungen im russischen Wahlrecht, die gegenüber den vorangegangenen Wahlen eine Reihe wichtiger Verwänderungen mit sich bringen.

Diese Veränderungen werden erstmals anlässlich der - für Ende 2007 vorgesehenen - Wahlen zur Staatsduma greifen. Aus diesem Grund spekuliert der Journalist Sergej Nikolajev in der Zeitung Rossiya über die Möglichkeit einer vorzeitigen Parlamentsauflösung zum Herbst 2006.

Das neue Wahlgesetz sieht eine Sieben-Prozent-Hürde für die die russischen Parteien vor, was deren Zahl in der Duma auf eine gute handvoll beschränken wird. Außerdem werden die künftigen Abgeordneten ausschließlich über Parteilisten gewählt, die Direktmandate werden abgeschafft. Die Parteien müssen landesweit vertreten sein und mindestens 50.000 Mitglieder haben. Auf dem Wahlzettel wird die Rubrik „Gegen alle“ abgeschafft, die in der Vergangenheit gelegentlich immerhin fünf Prozent der Wähler ankreuzten. Durch diese Veränderungen gewinnen die Parteien an Gewicht.

Vorgezogene Neuwahlen?

Für die Duma- und damit auch für die Präsidentschaftswahlen bedeutet dies, dass die dominante Stellung der Putin-Partei Einiges Russland (ER) wegschmelzen kann. Denn ER hat nach dem Urnengang 2003 erst über den Zulauf von allerlei Unabhängigen und Vertretern kleiner Parteien in der Duma ihre gegenwärtige Zweidrittel-Mehrheit erreichen können. Damit konnte Putin in den vergangenen Jahren bequem regieren, das Parlament wurde zum präsidialen Vollzugsorgan. Dies steht in scharfem Kontrast zu den Jelzin-Jahren, in denen sich der Präsident und die Volksvertreter jeweils gegenseitig mit Parlamentsauflösung und Amtsaufhebungsverfahren („impeachment“) bedrohten.

Bei den für 2007 angesetzten Dumawahlen ist nicht sicher, ob ER wieder eine derart satte Mehrheit einfahren kann. Denn drei Monate vor dem Ende seiner Amtszeit wird Putin nicht mehr mit seiner Popularität punkten können. Deshalb hält Journalist Nikolajev auch den Herbst des laufenden Jahres für einen geeigneten Zeitpunkt, die Duma aufzulösen. Wenn sich der Kremlherr erst dazu entschließt, ist es verfassungsrechtlich ein Leichtes, die Auflösung durchzuführen.

Auch der renommierte Russland-Kenner Peter Reddaway, emeritierter Professor der George Washington University in der US-amerikanischen Hauptstadt, hält einen vorgezogenen doppelten Urnengang für möglich. Damit würde der Amtsinhaber dem Kandidaten seiner Wahl optimale Bedingungen verschaffen. Zusätzlich könnte er ihn bereits jetzt als Ministerpräsidenten einsetzen und ihm damit einen Amtsbonus verschaffen. Putin selbst hat bei seiner ersten Wahl im März 2000 auch davon profitiert, dass ihn Jelzin im Sommer 1999 zum Premier ernannt hat.

Wer immer auch sein Kronprinz sein wird: Vladimir Putin, geboren im Oktober 1952, wird zum Ende seiner Amtszeit 55 Jahre sein – und damit zu jung für den politischen Ruhestand. In Moskau wird derzeit bereits über seinen Nachfolgejob spekuliert.

Weil Putin auf staatlicher Ebene bereits alles erreicht hat und jedes andere Regierungsamt eine faktische Degradierung wäre, bliebe nur noch eine Aufgabe in der Wirtschaft. Das mächtigste russische Unternehmen ist und bleibt auf absehbare Zeit Gasprom. Es könnte durchaus sein, dass dort ein Platz im Vorstand warmgehalten wird für den derzeitigen Kremlchef. Dann hätte er des Öfteren Gelegenheit, sich auch dienstlich mit alten Freunden aus Deutschland zu treffen.