"Der absolute Glaube, moralisch stets im Recht zu sein"

Seite 2: "Konsumierende, aber nicht produzierende Subjekte"

Sie postulieren, dass die Frankfurter Schule, sich auf Phänomene des Überbaus und des Konsumismus konzentriert und somit die Sphäre der Produktion aus dem Blick gerät, was schwerwiegende theoretische Konsequenzen habe. Welche wären das aktuell?

Michael Wengraf: Eine der folgenreichsten Konsequenzen dieses Denkens besteht im Verlust von Ganzheitlichkeit. Die eigentliche Sphäre der Produktion, über die ein etwas nebuloser "Konsumismus" als Thema dominiert – bleibt ausgeklammert. Wir haben es im Gefolge – vor allem von Herbert Marcuse – mit einer Sozialphilosophie des Konsums oder Nichtkonsums zu tun, mit konsumierenden, aber nicht produzierenden Subjekten.

Für Marx sind aber Konsumtion und Produktion Teile einer Totalität. Oder, einfach gesagt: Nur zwei Seiten einer Medaille. Wobei es für ihn die Produktion ist, die – ganz konkret – unter anderem die Art und Weise der Konsumtion bestimmt. Eine lediglich vom "Konsumismus" determinierte "eindimensionale Welt", wie sie Marcuse skizziert, kann daher grundsätzlich nicht isolierter Gegenstand marxistischer Analyse sein.

Einen scharfen Blick diesbezüglich bewies ausgerechnet Jürgen Habermas. Er hielt fest, dass Menschen, die immer öfter weitab von der Produktionssphäre leben, der Wirklichkeit nur durch die Filterschicht von Konsumentenorientierungen und Massenmedien begegnen.

Dies erklärt das Desinteresse von "Kritischer Theorie" und "Neuer Linker" am produktiven Bereich und die Hinwendung zu Fragen der Lebensqualität, die zumeist im Überbau angesiedelt sind. Dessen Modernisierung bzw. Anpassung war auch die objektive Aufgabe, vor der die Bewegung stand und die sie erfüllte. Durch die Fokussierung auf den Überbau wird aber die Realität, was auch für die aktuelle Situation kennzeichnend ist, nur ihrem Schein und nicht ihrem wahren Sein nach begriffen.

Marcuse gründete nun seinen Pessimismus vor allem auf den Gedanken, dass mit der Konformität der Konsumgesellschaft ein Ende der Geschichte erreicht sei. Das korrespondiert mit Adornos Vorstellung der Wiederholung des Immergleichen, die aus der Diagnose einer "restlos veralteten Welt resultiert".

Eine negative Dialektik eliminiert nun, nur folgerichtig, alle Bewegung aus der Geschichte, lässt sie als Standbild erstarren. So erscheinen heute aber Kapitalismus und Neoliberalismus als alternativlos.

"Bewegungen, die allein partikulare Interessen transportieren"

Sie schreiben, dass bis heute die linke Politik sich generell auf den horizontalen Bereich der Gesellschaft richte. Können Sie das konkretisieren? Gibt es irgendwo Ansätze für eine bessere Strategie?

Michael Wengraf: Schon Rudi Dutschke beklagte im Gefolge von 1968 in einem Brief an Herbert Marcuse eine Zerschlagung der Substanz des subversiven Denkens. Er meinte, sie zeige sich katastrophal im Verlust revolutionärer antiimperialistischer Sensibilität. Dieser Verlust des Antiimperialismus – wie auch der sozialen Kompetenz – ist ein Indikator für den Wandel linker Politik.

Wenn es etwa früher in den Ländern Lateinamerikas zu ökonomischen, politischen oder militärischen Interventionen durch die USA kam, gab es umfassende Solidarität mit den sozialen bzw. sozialistischen Bewegungen dort. Tausende haben sich allein in Deutschland um Nicaragua gekümmert, andere um Kuba.

Das ist heute ganz anders. Die Linke – in Deutschland angeblich parlamentarische Alternative zur Sozialdemokratie – macht da keine Ausnahme: So distanzierte sich 2019 etwa Rico Gebhardt, langjähriger Partei- und damaliger Fraktionsvorsitzender in Sachsen, auf dem Parteitag ausgerechnet von einer Solidaritätsaktion mit Venezuela. Es ging ja schließlich nicht um Identitätsfragen und es galt "Konsensfähigkeit" zu demonstrieren.

Aber auch ein nach innen gerichteter "Antiimperialismus" verflüchtigte sich zusehends. Bewegungen wie die schon genannten Gelbwesten in Frankreich werden abgewertet als dumpfer, faschistoider Plebs. Der vertikale Kampf "Unten gegen Oben", "Arm gegen Reich", "Ausgebeutete gegen Ausbeuter" steht nicht mehr im Vordergrund.

Dafür beobachten wir heute zahlreiche Bewegungen, die allein partikulare Interessen transportieren wie z. B. die der Schwulen und Lesben, Transgender, Tierschützer, Antirassisten, Globalisierungsgegner, Klimaschützer usw. Auch bürgerlicher Feminismus gehört in diese Kategorie.

Sie alle ersetzen nach und nach eine geschlossen agierende, auf Systemveränderung gerichtete Kraft, die den Kapitalismus als Ganzes – in all seinen Ungerechtigkeiten und Irrationalitäten eben – vor Augen hat. Die Alternative dazu wäre eine Rückbesinnung auf vertikale Formen von Ungerechtigkeit, auf das Kontinuum von Unterdrückung und Befreiung.

Das wesentlichste, schwierigste und langwierigste daran ist, eine zielklare, organisierte Kraft der radikalen Veränderung zu schaffen. Ihr muss es um die beharrliche Arbeit an jenem Prozess gehen, der dazu führt, dass der Mensch in globalem Maßstab eben kein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen mehr ist. Das erfordert primär eine materielle und – nur mit ihr verbunden – eine kulturelle Basis.

Dass es vielversprechende, wenn auch recht beschwerliche taktische Wege zu diesem strategischen Ziel gibt, zeigte in Österreich die Grazer KPÖ. Abseits von reiner Identitätspolitik konzentriere sie sich auf Wohnen, Mieten und Soziales, was ihr immerhin den Bürgermeistersessel in der zweitgrößten Stadt der Alpenrepublik einbrachte.