"Der absolute Glaube, moralisch stets im Recht zu sein"

Interview mit Michael Wengraf über die 68er-Generation, die Frankfurter Schule, den Neo-Liberalismus und den linken Diskurs zum Ukraine-Krieg

Michael Wengraf analysiert in seinem Buch Die Schule der Kapitulation. Kritische Theorie und Studentenbewegung 1968 die damalige studentische Linke nicht als Widersacher der bürgerlichen Gesellschaft, sondern im Gegenteil als deren politischen Fortsetzer und geistigen Vollender. Damit ist nach seinen Ausführungen auch die fatale geistige Ausrichtung der Linken von heutzutage zurückzuführen. Telepolis sprach mit dem Autor.

Herr Wengraf, Sie schreiben, dass die realen Tendenzen der Zeit um 1968 nicht in Richtung eines gesellschaftlichen Umsturzes, sondern einer kulturellen Modernisierung wiesen und dass hierbei die kritische Theorie den passenden ideologischen Rahmen lieferte. Können Sie das erläutern?

Michael Wengraf: Schon Lenin hat im Zuge der Oktoberrevolution eine unabdingbare Voraussetzung für die Revolution formuliert: Dass nämlich die wirtschaftliche Lage des Landes keine begründete Hoffnung auf eine glückliche Überwindung der Krise durch friedliche und parlamentarische Mittel bieten darf. Davon war man 1968 natürlich weit entfernt.

Hinzu kam der subjektive Faktor: Am vielleicht bemerkenswerteste an den "Kindern von 68" ist ja, dass sie keinerlei Absicht hatten, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen" darstellt. Es fehlte etwa jede grundlegende Solidarität mit den zwei Millionen, die damals in Frankreich arbeitslos waren. Debatten über Kultur und Literatur setzen nicht länger eine Arbeiterbewegung als Basis voraus. Damit verschwand der traditionelle Akteur radikaler Veränderung – ohne auf produktive Weise durch einen neuen ersetzt zu werden.

Infolgedessen konnte dann die intellektuelle Elite – von Derrida bis Deleuze – "den Tod des Subjekts" und das "Ende des Sozialen" predigen. Die "Theorie" verkommt nun zum bloßen "Gespräch" unter akademischen Fachleuten. Das entsprach ganz den Intentionen einer durch Praxisferne gekennzeichneten "Kritischen Theorie", die insofern objektiv eben mehr Instrumentarium der bürgerlichen Reformbewegung war – und weniger das untaugliche Werkzeug einer verunglückten Revolution. Typisch ist, dass – im Gegensatz zu Marx – Notwendigkeit und Möglichkeit einer radikalen Umgestaltung gar keine Rolle mehr spielen.

"Kritische Theorie" hat demgemäß – der radikalen Phrase zum Trotz – mehr die Reform vor Augen und muss schließlich zwangsläufig in einer bloßen Modernisierungsbewegung verebben.

Unterdrückung ist für sie nicht mehr als solche zu bezwingen, sondern nur noch ausgleichend zu verwalten. Dadurch wird auch der Gemeinplatz, dass die Zäsur von '89 den entscheidenden Legitimationsverlust der 68er-Revolte benennt, falsifiziert.

Was wäre denn ohne die "Modernisierung" von 1968 und ohne die 68er, die 1989 – zumindest im Westen – an den Schalthebeln der Macht saßen, geschehen? Sie waren doch die wahren Architekten der Nach-89-Ordnung, die ihr erst den charakteristischen pseudolibertären Anstrich verpassten. Die 68er hatten ihre Legitimation 1989 keineswegs verloren, sondern nur neu definiert.

"Eine den Neoliberalismus stützende Herrschaftsideologie"

Sie geben nun der Frankfurter Schule eine Teilschuld für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft. Wie das?

Michael Wengraf: 1968 ist ein wichtiger Meilenstein, der den Weg in die neoliberale "Moderne" weist. Damals entsteht ein spezielles Amalgam aus Individualismus, intellektualistischer Separation, Anti-Etatismus und Absage an die verachteten Unterschichten.

Nicht zu vergessen ist die Negation des kollektiven Subjekts, ohne die ein Siegeszug des globalen Neoliberalismus nur schwer vorstellbar wäre. In gewisser Weise gab 1968 den Startschuss für die "rechte Revolution" – ohne den Ungeist von damals bleibt jene Apathie der heutigen Menschen, die sich gegen die Möglichkeit der eigenen Befreiung richtet, unerklärbar.

Das alles wird schließlich die Gesellschaft Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts entscheidend prägen und die Weichen in Richtung autoritärer neoliberaler Eindimensionalität stellen. Marcuses Randgruppentheorie, Horkheimer und Adornos Zu-Bewahrende-Bürgerlichkeit und Habermas geistiger Opportunismus ergeben eine qualitativ bestimmte Totalität. Eine, die den im Spätkapitalismus eingebetteten Möglichkeiten des sozial-emanzipatorischen Handelns insgesamt negativ gegenübersteht.

Befreiung ist darin nur noch gruppenspezifisch definiert und auf den kulturellen Aspekt reduziert. Damit verbunden ist eine Vorwegnahme postmoderner, ein "Ende der Geschichte" anmahnender Positionen.

Das mit der Frankfurter Schule verbundene Denken von 1968 entpuppte sich als eine in der Praxis äußerst wirksame, den Neoliberalismus stützende Herrschaftsideologie. Eine, die "emanzipatorischen Kapitalismus" suggeriert, der seine globalisierten Strategien der Ausbeutung auch noch als "internationalistischen" Akt verkauft.

Ab 1968 wird die soziale Differenz zunehmend hinter Phrasen von (horizontaler) Gleichheit, Humanismus und Moderne verborgen. Als Fazit ergibt sich ein Prozess, der die schlimmste Art von Antikommunismus, wie Aijaz Ahmad einmal sagte, an die hegemoniale Position der Pariser Avantgarde anpasste.

"Destruktion der Freiheit erfolgt im Namen von Gesundheit und Solidarität"

Können Sie Spurenelemente dieses Denkens bei den Corona-Maßnahmen aufspüren?

Michael Wengraf: Da gibt es mehrere Aspekte. Ein wichtiger berührt die von der etablierten "Kritischen Theorie" aufgebrachte Faschismus-Problematik. Adorno befürchtete für die Zukunft die Stärke derer, die den Abbau von bestehenden bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten betreiben. Er hatte Angst vor der aktiven Unterstützung einer Tendenz, die den noch bestehenden Spielraum in der Demokratie abgräbt und eingrenzt.

Genau dieses Szenario brachte die "Corona-Krise" perfekt auf die Bühne – was unter großem Applaus und tatkräftiger Mitwirkung der sogenannten "progressiven Liberalen" geschah. Ein allmählich offen autoritär agierender Staat tritt hier vordergründig in Aktion. Seine abstoßende Außenwirkung wird aber durch den breiten "Konsens" der 1968 entscheidend konstituierten Zivilgesellschaft abgemildert. Die autoritäre Destruktion der Freiheit erfolgt dabei im Namen von Gesundheit und Solidarität.

Nun, die Massen betreiben diesen Abbau der Freiheitsrechte, wie Adorno meinte, vielleicht nicht so sehr; dafür aber umso eher die grünen und linksliberalen Nachfahren der 68er-Bewegung.

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse sprach einmal von einem "jugendlichen Antiautoritarismus", der selbst eine neue Form des Autoritären schick machte. Nicht ohne Grund äußerte Adorno seine Befürchtungen im Kontext mit dem auch von Horkheimer artikulierten Faschismus-Vorwurf an die Bewegung.

Die autoritäre Gesellschaft setzt sich eben nicht als ein durch Randgruppen betriebenes, putschartiges Phänomen durch, sondern als ein von Mehrheiten getragenes "liberales" Elitenprojekt. Dessen Träger zu werden, gerieten die 68er schon früh in Verdacht.

Angesichts dieser Situation erlangt heute, zu Zeiten von Corona, die von Horkheimer so vehement geforderte Verteidigung bürgerlicher Grund- und Freiheitsrechte entscheidenden Charakter. Das gilt vor allem auch gegenüber den geistigen Erben der 68er-Bewegung. Diese Verteidigung wird nun immer mehr zur Sache einer schmalen, nicht vom Neoliberalismus kontaminierten Restlinken.

Nachträglich könnte man sagen, dass Adorno und Horkheimer, was die bedrohlichen Entwicklungslinien der Bewegung betrifft, zum Teil durchaus hellseherische Fähigkeiten besaßen.

"Materielle Existenzgrundlagen blieben unberührt"

Wie schätzen Sie generell den Einfluss der Frankfurter Schule auf Grüne und neulinke Bewegungen wie woke, political correctness, Fridays for Future etc., ein?

Michael Wengraf: Die "Kritische Theorie" und der mit ihr verbundene Erneuerungsschub von 1968 liefern einen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis des frühen 21. Jahrhunderts: Erst sie verliehen dem alternden, konservativen und erstarrenden Kapitalismus ein progressiv-liberales Outfit, machten ihn kompatibel mit gesellschaftsliberalen Werten, die seit jeher links besetzt waren. Die wurden nun in formalisierter und daher inhaltsleerer Gestalt kultiviert und als ideale Spielwiesen neulinker Bewegungen hegemonial gemacht.

Dazu zählen: die Freiheit der sexuellen Orientierung, Umweltaktivismus, ein im materiellen Bereich irrelevanter (aufrechte Lohndifferenz) und daher zutiefst bürgerlicher Feminismus bzw. Antirassismus oder ein entwerteter Antifaschismus. Alle möglichen Spielarten hohler political correctness gehören ebenso dazu.

Dinge also, die Kapitalinteressen nicht wirklich bedrohen, aber den Eindruck einer gerechten und moralischer werdenden Welt vermitteln sollen. Soziale Anliegen und universale menschliche Befreiung mussten dabei in den Hintergrund geraten, die horizontale Gerechtigkeit schließlich über vertikale Formen dominieren.

Was die Grünen betrifft: Sie sind geprägt von jener autoritären Absolutheit, mit der die 68er-Generation, mit Josef Fischer oder Daniel Cohn-Bendit an der Spitze, im Rahmen einer liberalen "Konterrevolution" Imperative wie eben "Correctness", "Zivilgesellschaft" oder "Europaidee" durchsetzte. Darüber hinaus pflegen beide, Grüne und "Kulturlinke", – ganz nach Jürgen Habermas – im Anschluss an 1968 nur noch "entschränkte Kommunikation über Ziele der Lebenspraxis".

Materielle Existenzgrundlagen blieben dagegen weitgehend unberührt: Die Linken in den Metropolen meinten ja tatsächlich, dass die Kombination der fordistischen Akkumulationsregime und des welfaristischen Pakts, die den antikommunistischen Konsens untermauerten, die bestmögliche Wahl bedeutet. Alles, was sie noch tun mussten, war also, die demokratischen Prämissen liberal-kapitalistischer Regime mit ihren eigenen Vorstellungen zu verfeinern.

Am folgenreichsten aber ist: In den Achtundsechzigern und ihrem Diskurs wurzelt der absolute Glaube heutiger korrekter Linker, moralisch stets im Recht zu sein: Wer nicht auf dem Weg zu ihrem Bild von der emanzipierten Menschheit mitmacht, wird – so die Gelbwesten – einfach aus der Menschheit ausgegrenzt.