"Der deutsche Sozialstaat ist in erster Linie katholisch geprägt"
Der Parteienforscher Franz Walter über die Zukunft der Parteien, politische Mythen und die Bürgergesellschaft
Über die beiden großen Volksparteien gibt es viel Gedrucktes, aber nur wenige kritische Arbeiten. Der Parteienforscher Franz Walter stellt in seinem neuen Buch „Herbst der Volksparteien?“ die Frage, ob sie überhaupt noch in die Gegenwartsgesellschaft passen.
Brauchen wir überhaupt noch Parteien? Sind sie noch zeitgemäß?
Franz Walter: Nun ja, Institutionen oder Organisationen, die aus unzähligen Meinungen und Interessen beratungsfähige Vorschläge für verbindliche Entscheidungen bündeln, wird man gerade in komplexen Gesellschaften brauchen. Ersatz für Parteien haben wir jedenfalls nicht einmal gedanklich gefunden.
Vielen Bürgern scheinen die Parteien von heute unkalkulierbar oder programmatisch beliebig. Die meisten Wähler hätten z. B. der SPD nie die Agenda 2010 zugetraut. Nach Ihrer Ansicht haben die Wähler den historischen Hintergrund von CDU und SPD aber missverstanden. Inwiefern?
Franz Walter: In der Regel wird angenommen, dass die Sozialdemokraten Schöpfer unseres Sozialstaats waren und die CDU/CSU dessen Gegner. Es ist eher umgekehrt. Der deutsche Sozialstaat ist in erster Linie katholisch geprägt. Schon die Bismarcksche Sozialgesetzgebung trug die Handschrift der katholischen Parlamentarier, deren Unterstützung er brauchte. Das gilt aber auch für die Arbeitslosenversicherung von 1927, auch für die große Rentenreform von 1957. Immer waren es katholische Politiker, die das durchsetzten. Die Sozialdemokraten waren nicht dabei, jedenfalls nicht an der Regierung. Insofern rückte die CDU in den 1990er Jahren bis zur Bundestagswahl 2005 vom eigenen Modell ab, als sie sich so dezidiert wirtschaftsliberal gab. Gut bekommen ist ihr das nicht.
Wenn man einem Durchschnittsbürger von heute von den vergangenen Ansichten der Parteien erzählen würde, würde der sich auf den Arm genommen fühlen.
Franz Walter: Naja, der Durchschnittsbürger hat sich ja auch gewandelt. Sein Großvater mochte noch ein gläubiger Sozialist und Klassenkämpfer gewesen sein; der Enkel wird es wohl nicht mehr so halten. Hier nehme ich dann doch die Parteien in Schutz: Sie haben sich verändert, weil auch ihre Klientel nicht stehen geblieben ist.
Das "Christlichen" als Legitimation für CDU funktioniert nicht mehr
Können historische Mythen wie das Wirtschaftswunder und die deutsche Einheit tatsächlich so viel zu den Wahlerfolgen der CDU beigetragen haben?
Franz Walter: Mythen sind ja schon etwas Ungewöhnliches. Sie entstehen nur in historischen Ausnahmesituationen. Und dann halten sie sich zäh. Die Deutschen hatten nach 1914 im Wesentlichen Absturz, Turbulenzen, Krieg und Krisen erlebt. Dann, nach über dreißig Jahren, kam so etwas wie Stabilität, Frieden und ein exorbitant steigender Wohlstand auf. Das schrieb man dann doch den Regenten dieser Zeit gut, auch noch viele Jahre später. Aber mittlerweile ist der Mythos wohl gebrochen, mindestens erheblich angekratzt. Die Erfahrungen von früher mit der wirtschaftspolitischen Klugheit der CDU haben sich zuletzt einfach nicht mehr reproduziert.
Sie haben auch darauf hingewiesen, dass die CDU unter historischen Größen und zugleich skrupellosen Kanzlern wie Adenauer und Kohl besonders stark gewesen ist. Ist Angela Merkel zu nett, unscheinbar und ehrlich für diesen Job?
Franz Walter: Ganz so lieb und nett ist sie ja nun auch nicht. Denken Sie daran, wie viele Männer sie politisch kalten Herzens zur Strecke gebracht hat: Kohl, Schäuble, Merz, Stoiber, Schröder. Die Härte hat sie gleichermaßen wie ihre berühmten Vorgänger; aber es gelingt ihr weniger gut, die Union auszubalancieren und zu binden.
Früher versuchte die CDU mit der Betonung scheinbar „christlicher Werte“ den größten gemeinsamen Nenner zu finden und sich so die größtmögliche Unterstützung zu sichern. Ist Angela Merkels Streben zur Mitte der Versuch, für die Zukunft einen neuen gemeinsamen Nenner zu finden in einer weitgehend entkonfessionalisierten Gesellschaft?
Franz Walter: Auf die Mitte haben sich auch Adenauer, Kohl oder Kiesinger und Erhard festgelegt. Das ist alte christdemokratische Tradition. Aber Mitte ist mittlerweile der Referenzpunkt von fast allen Parteien, eben auch der Grünen und der SPD, der FDP sowieso. Man bräuchte also noch eine zusätzliche Legitimationsidee, welche die eigene Formation integriert. Mit dem „Christlichen“ funktioniert das nicht mehr so gut. Eine Alternative aber hat die Union aller Leitkulturdebatten zum Trotz nicht gefunden. Deswegen wirkt sie viel häufiger als früher so zerfasert.
Politiker schert es scheinbar nicht, wenn die Parteien an Unterstützung verlieren ...
Franz Walter: Ob achtzig Prozent zur Wahl gehen oder sechzig Prozent – die Zahl der Parlamentarier wird dadurch nicht kleiner, auch nicht die Zugänge zu Macht und Einfluss. Also schreckt sie die niedrige Wahlbeteiligung höchstens für einen Tag – und auch das meist nur rhetorisch.
Kann eine Partei wie die CDU, die in erster Linie von Nicht-Akademikern gewählt wird, überhaupt ein Interesse an einer wirkungsvollen Bildungsreform haben?
Franz Walter: Nun spielen im Parteiestablishment der CDU Akademiker ja die alles entscheidende Rolle. Und warum sollte eine Partei, die von Nicht-Akademikern gewählt wird, an Bildungsreformen uninteressiert sein? Eher ist das doch ein Motor, dass sich da was ändern sollte.
Die Sozialdemokraten sind nicht mehr die Partei der ganz kleinen Leute
Sie meinen, die SPD scheiterte immer wieder daran, Probleme zu lösen.
Franz Walter: Na, ganz so undifferenziert habe ich das nicht geschrieben. In der Weimarer Republik hat sie in der Tat nicht so furchtbar viel in der Regierung hinbekommen. Im Grunde war sie damals auf die Exekutive durch die erzwungenen Oppositionsjahrzehnte im voran gegangenen Kaiserreich nicht vorbereitet. Und dann gab es stets die Differenz zwischen sehr weit reichenden programmatischen Hoffnungen und dahinter notwendigerweise zurückgebliebenen Regierungshandlungen. Das sorgte dann für chronischen Frust in der SPD-Anhängerschaft.
Anstatt selbst Probleme zu lösen, lässt die SPD Probleme lösen. Sie haben in ihrem Buch die Rolle der Think Tanks für die SPD erwähnt, die nicht erst seit Schröder auf die Politik Einfluss nehmen konnten.
Franz Walter: Auf externen Rat greifen mittlerweile alle Parteien und Regierungskoalitionen zurück. Würden sie das nicht machen, käme der Vorwurf: Die Parteien schmoren im eigenen Saft. Dennoch ist richtig, dass die Parteien aus sich selbst heraus kaum noch originäre Ideen hervorbringen. Vordenkende Pioniere sind sie nicht mehr; das trifft aber auf alle Parteien zu.
Das widerspricht dem Image von Gerhard Schröder als „Macher“.
Franz Walter: Eigentlich nicht, Schröder hat sich nie viel aus langfristigen Konzepten oder gar schönen Programmsätzen gemacht. Er war ein intuitiver Politiker, der Gelegenheiten am Schopf packte. Er griff auf das zurück, was ihm in der je gegebenen Situation nutzte.
Kein SPD-Kanzler hat seine letzte Amtszeit auf reguläre Weise beendet, und SPD-Ministerpräsidentinnen scheitern an ihren Landtagen. Zudem spaltete die SPD sich das zweiten mal in ihrer Geschichte. Was machen die Genossen bloß falsch?
Franz Walter: Die großen Adenauer und Erhard haben ihre Amtszeit auch nicht zu Ende gebracht. Und für CDU-Ministerpräsidenten gilt das ebenfalls. Die Spaltung ist da schon symptomatischer: Sozialdemokraten versprechen programmatisch mehr, als sie im Kabinett in der Regel halten können und wollen. Dieser Widerspruch produziert Enttäuschungen und nährt Parteineubildungen.
Als Beispiel für die krassen Gegensätze, die die SPD-Politik hervorbrachte, nennen Sie Nordrhein-Westfalen und den Wechsel von Johannes Rau zu Wolfgang Clement.
Franz Walter: Rau war der typische Landesvater. Der sozialdemokratische Kümmerer, der mit der Pose regierte, den kleinen Leuten ihre Probleme abzunehmen. Und dann kam Clement, der eben diese kleinen Leuten plötzlich mit schneidender Stimme „Eigenvorsorge“, „Selbstverantwortung“ abverlangte, was sie bei Johannes Rau nie leisten mussten.
Inwiefern spiegeln diese Gegensätze auch einen Wechsel in der Wählerklientel und bei den Mitgliedern?
Franz Walter: Nun, die Sozialdemokraten sind nicht mehr die Partei der ganz kleinen Leute, jener Gruppe also, die derzeit oft als „Unterschicht“ oder „Prekariat“ bezeichnet wird. Die SPD ist schon, gerade auch in ihrem Apparat und bei ihren Mandatsträgern, sehr stark die Partei sozialer Aufsteiger durch die Bildungsreform der 1970er Jahre geworden. Das ist ihr um Himmels willen nicht vorzuwerfen. Im Gegenteil. Nur: Es hat sie eben verändert.
Die Unionsparteien werden sich irgendwann aus biologischen Gründen in nichts auflösen, die SPD sich irgendwann in Atome spalten – hoffen einige Parteienkritiker. Werden sie recht haben? Oder wie wird die Partei der Zukunft aussehen?
Die Bürgergesellschaft ist müde und schwach geworden
Franz Walter: Die Union wird sicher schwächer, weil sie in den Kohorten der 30- bis 55-Jährigen sehr viel schlechter dasteht als in früheren Jahrzehnten. Aber natürlich wird sie nicht verschwinden. Sie wird nicht mehr die ganz große Volkspartei bleiben, ist es ja bereits jetzt nicht mehr. Ob das mit den Spaltungen so weitergeht? Nicht unbedingt. Nimmt die Komplexität zu, sehnen sich Menschen nach Verringerung des Durcheinanders. Bezeichnenderweise ist der Zuspruch für die drei kleineren Parteien im Bundestag gerade bei 18- bis 24-Jährigen gegenwärtig sehr gering.
Viele sehen eine Abhilfe in Form einer „Bürgergesellschaft“ mit politischer Partizipation in Form von Ehrenamt und direkter Demokratie. Ist das wirklich der Ausweg?
Franz Walter: Nein. Schon jetzt wirkt die vor Jahren fast euphorisch zitierte Bürgergesellschaft müde und ausgebrannt, kaum anders als die Parteien. Die Anforderungen, denen sich Bürger in Ausbildung und Beruf seit Jahren gegenüber sehen, sind so sehr gewachsen, dass für ehrenamtliches Engagement wenig Kraft und Zeit übrig bleibt. Und gerade die unteren Schichten stehen in der mittelschichtlastigen Bürgergesellschaft noch stärker am Rand.
Wie lautet Ihr Tipp für die Bundestagswahlen? Bei welchen Anteilen sehen Sie SPD und CDU?
Franz Walter: Ich bin ja gelernter Historiker. Da interpretiert man lieber, was bereits geschehen ist. Kann man sich weniger irren.