Der doppelte Putin

Bild: Kremlin.ru / CC BY 4.0 deed.ru

Es kann nur einen geben: Russlands Flirt mit dem Robotermännchen – wer ist der echte Mensch am Draht? Über eine Pressekonferenz des russischen Präsidenten.

Siehe da den Behemoth, ... Siehe, welch' eine Kraft ist in seinen Lenden und welch' eine Stärke ist in den Muskeln seines Bauchs! ... Siehe, der Strom schwillt gewaltig an: er dünkt sich sicher, auch wenn ihm der Jordan ins Maul dringt. Kann man ihn fangen, Auge in Auge und ihm einen Strick durch seine Nase ziehen? ... Meinst du, er wird dich lang um Gnade bitten oder dir süße Worte geben? Meinst du, er wird einen Bund mit dir schließen, dass du ihn für immer zum Knecht bekommst? ... Lege deine Hand an ihn! An diesen Kampf wirst du denken und es nicht wieder tun!

Hiob 40,15-24

"Ich ist ein anderer" - dieser viel zitierte Satz des französischen Dichters Arthur Rimbaud führt direkt zu dem faszinierendsten Moment von "Der direkte Draht" (Прямая линия с Владимиром Путиным), jener großen Fernsehshow des Kreml, die gestern das russische Fernsehen ebenso beherrschte, wie kurz danach die Nachrichtensender in aller Welt.

Da plauderte Russlands Präsident Wladimir Putin nämlich live im russischen Fernsehen mit einer KI-Kopie seiner selbst. Auch sonst zeigte der Staatschef der Weltmacht bei seiner großen Jahresabschluss-Konferenz zwei Seiten seiner selbst.

"Ich habe mich entschieden, dass nur einer wie ich sein darf, nämlich ich"

"Wladimir Wladimirovitsch, ich bin Student an der 'Staatlichen Universität von St. Petersburg. Meine Frage: Stimmt es, dass Sie viele Doubles haben? Und wie stehen Sie zu den Gefahren durch Künstliche Intelligenz für unser Leben?"

Lachen im Studio; auch Wladimir Putin selbst gab sich aufgeräumt und guter Stimmung. "Also, Sie mögen mir ähnlich sehen und meine Stimme haben. Ich habe darüber nachgedacht, aber ich habe mich entschieden, dass nur einer wie ich sein und mit meiner Stimme sprechen darf, nämlich ich."

"Das ist übrigens mein erstes Double", fügte der Präsident noch ohne Lächeln hinzu. Denn seit Jahren gibt es in West wie Ost Verschwörungstheorien über angeblich "klare Beweise" für Doppelgänger Putins.

Man darf trotzdem sicher sein, dass der arme Student aus St. Petersburg nicht mit Sanktionen rechnen muss, sondern im Gegenteil für diesen Auftritt und die virtuelle Verdoppelung des Staatschefs Lob erntet.

Die ganze Inszenierung diente offenbar dazu, sich über solche Theorien lustig zu machen und klarzustellen: Es gibt keinen Doppelgänger. Es kann nur einen geben: Das war die Botschaft.

"Das Russland, in dem ich lebe, sieht ganz anders aus"

Zum Thema künstliche Intelligenz hatte Putin dann übrigens nichts weiter zu sagen. Vier Stunden lang beantwortete der russische Staatschef aber die Fragen der Bürger.

Dieses seit Jahren regelmäßige Gesprächsformat des autoritären Populisten im Kreml – bei dem man nebenbei bemerkt im Rückblick dem Mann recht gut beim Altern zusehen kann – war diesmal mit der üblichen Pressekonferenz zum Jahresende zusammengelegt worden. Vor einem Jahr war diese im Angesicht des enttäuschenden Kriegsverlaufs noch ausgefallen.

Dies war also die erste Pressekonferenz dieser Art seit Beginn des Ukraine-Krieges.

Fast 2,5 Millionen Fragen trudelten vor und während des Polit-Events ein. Sie waren, wie man sah, sorgfältig zensiert, oder wie man in anderen Zusammenhängen sagen würde: kuratiert. Einer der Beamten darf allerdings beginnen, seine Koffer fürs Straflager zu packen, denn einmal kurz flimmerte eine unkuratierte Frage über die Studio-Bildschirme, im Studio stellte man sie dann nicht:

"Wie kommt man bloß in dieses wunderbare Russland, von dem hier die Rede ist? Denn das Russland, in dem ich lebe, sieht ganz anders aus."

Ansonsten lief die Show so perfekt wie ihr äußerer Rahmen: Eine auffallend gut aussehende Moderatorin in knallrotem Kleid mit tiefem V-Ausschnitt, dahinter fast durchgehend blau gekleidete Zuschauer, vereinzelte Zuhörer in roten und weißen Kleidungsstücken, und auch das Studio selbst war sehr deutlich in den drei russischen Farben gehalten. Kein Gelb, kein Grün, kein Schwarz.

Es meldeten sich alte Mütter und junge Männer mit Fragen oder Feststellungen zu Alltagsthemen wie Eierpreisen und Brotversorgung, zur Zukunft Putins und zu möglichen neuen Truppenrekrutierungen.

Sehr deutlich zu spüren war, dass vieles teurer wird. Nicht umsonst hat man die Eierfrage behandelt – da konnte Putin dann eine Lösung anbieten. Es sollte gezeigt werden: "Russland kümmert sich."

Eine Schaltung an die Front gab es auch. Was war die zentrale Botschaft? Zwar war sachlich nichts Neues dabei. Aber das Eigentliche war die gute Laune und bemerkenswerte Selbstsicherheit, mit der Putin auftrat.

Für Putin läuft es offensichtlich gut. Eine Woche nach seinen Staatsbesuchen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten hat er seine erneute Kandidatur bei der russischen Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr angekündigt.

Nun will Putin sich nicht nur als starke Anführer "darstellen", wie es in westlichen Medien gern relativiert wird, er ist dies im Augenblick auch.

Ruhe und Stärke. Russland ist wie der alttestamentarische Behemoth, der von Gott zur Züchtigung der Menschen entsandt wurde – das ist das Bild für die Feinde. Das Bild für die innere Bevölkerung ist Selbstsicherheit und Gelassenheit. Die Beruhigung der Menschen. Denn die russische Gesellschaft hat Angst vor einer weiteren Mobilisierung.

"Frieden gibt es, wenn unsere Ziele erreicht sind"

Das Wort "Krieg" fiel nicht, aber mehr als einmal wurde nach "Frieden" gefragt, was durchaus ein Indiz für die Bedeutung des Themas in der Bevölkerung ist. So auch vom Moderator: Wann es Frieden gebe? Putins Antwort:

Frieden gibt es, wenn unsere Ziele erreicht sind. Die haben sich seit Beginn nicht geändert: Entnazifizierung und De-Militarisierung und ein neutraler Status der Ukraine.

Verhandeln zu Moskaus Bedingungen, sonst löse man das Ganze militärisch. Man habe schon Hunderte ukrainischer Panzer zerstört – auch so könne man demilitarisieren, so Putin.

Offensichtlich und auch im Westen unbestritten ist: Die Schwächephase der Russen ist vorbei und konnte von Westen und der Ukraine nicht ausgenutzt werden. Russland hat wieder die militärische Initiative übernommen.

Das russische Militär übt Druck aus, obwohl die für Angreifer schwierige Schlammphase ("Rasputiza") noch nicht vorbei ist. Wenn das Wetter noch kälter werden wird, sind die Möglichkeiten für Angreifer noch besser. Das Momentum hat gewechselt.

Es kann nur eines geben: nämlich Sieg. Über "die Nazis", so Putin.

Doppelgänger und der Sozialistischer Realismus

Noch einmal zurück zum Auftritt des doppelten Putin: Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn sich Putin getraut hätte, sein künstliches zweites Ich einmal mit einem gemütlich vertrauenerweckenden russischen Bär zu morphen oder kurz den Wolfsmenschen hinter der Maske zu zeigen.

Würde Russland Propaganda auf Augenhöhe mit allen Möglichkeiten des Digitalen machen, dann wäre das geschehen, dann wäre Selenskyj längst schon vervielfältigt worden und würde hundertfachen Unsinn in die Kanäle der Welt posaunen.

Und umgekehrt würden sich die Künstler des Westens tatsächlich so um den Ukraine-Krieg scheren, wie es die Zahl der von ihnen unterschriebenen antirussischen Manifeste suggeriert, dann hätten sie Filme gemacht, die den sinnlichen Illusionismus ernst nehmen, und würden nicht verkopft, sondern sinnlich der russischen Propaganda Contra geben.

Auch Wladimir Putins Auftritt bewegte sich ganz in diesen im Kulturbereich immer noch dominierenden ranzig gewordenen Kategorien des Sozialistischen Realismus: So künstlich der doppelte Putin auch war, so sehr folgt er den Geboten des Naturalismus, der Nachahmungs- und Ähnlichkeitskunst, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert obsolet und von der Kunstgeschichte ad acta gelegt wurde, und heute nur mehr ironisch zitiert werden kann.

Was aber, wenn Putins Auftritt eigentlich auch ein ironisches Zitat aus der Kunstgeschichte gewesen wäre?