Der erste Verhandlungstag im Verfahren gegen Angela Marquardt

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Im Saal Nr. 700 (genannt Mykonos-Saal) fand am Freitag, den 6.6.1997 im Amtsgericht Tiergarten vor größerem Publikum der erste Verhandlungstag im Verfahren gegen die PDS Ex-Vize Angela Marquardt statt, der die "Beihilfe zur strafbaren Anleitung zu Straftaten" vorgeworfen wird.

In diesem erstmalig vor einem deutschen Gericht verhandelten Hypertext-Fall geht es konkret um einen Link von Angela Marquardts Home Page, der über Zwischenschritte zur Zeitschrift Radikal verweist. Unter Terrorismusvorwurf wird dieses altlinke Heft seit längerem in Deutschland von Polizei und Justiz verfolgt. Seit einiger Zeit stellt die Amsterdamer "Solidaritätsgruppe politische Gefangene" die in Holland nicht verbotene Zeitschrift ins Internet.

Im heute eröffneten Gerichtsverfahren geht es um einen in Radikal Nr. 154 erschienenen Beitrag "Kleiner Leitfaden zur Behinderung von Bahntransporten aller Art", der gegen deutsches Recht verstößt, und den, so die Darstellung der Staatsanwälte, Marquardt mit ihrem Link "verbreitet" hat.

In der Anklageschrift, die heute vom zuständigen Staatsanwalt verlesen wurde, heißt es juristisch, sie habe bisher unbekannten Personen (Autoren des Bahntransporttextes) vorsätzlich Hilfe bei der Anleitung zu Straftaten (Bahnsabotage) geleistet, indem sie ihre Home Page zur Verfügung gestellt habe, womit Hilfestellung und Billigung zu einem gemeingefährlichen Vergehen gegeben sei.

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft bedeutet ein Link die Zurverfügungstellung der eigenen Page, womit genaugenommen dann letztendlich eine kollektive Tatbeteiligung des gesamten World Wide Web hergestellt wäre. Die Natur und Bestimmung des WWW aber ist es gerade, die Seiten per Link zu einem großen Hypertext zu verbinden. Alle Beteiligten würden sich ihre Seiten gegenseitig zur Verfügung stellen, was weder den Tatsachen noch der Netzgepflogenheit entspricht, die statt auf Zurverfügungstellung auf Autorenschaft setzt. Der Anwalt von Angela Marquardt stellte dann auch einen Beweisantrag, um die vorgeworfenen Sachverhalte zunächst einmal genauer zu klären: "Die Anklageschrift zeugt von tiefer Unkenntnis des Internet". Als Sachverständiger der Verteidigung wurde Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club benannt. Die Staatsanwaltschaft hatte keine Einwände gegen eine Klärung und gab sich in Sachen Internet kompetent: "Wir haben inzwischen auch hier im Hause einen Internetanschluß."

Angela Marquardt erläuterte bei der heutigen Sitzung noch einmal ausführlicher die Hintergründe für ihren Link zur Radikal. Als jemand mit DDR-Vergangenheit habe sie schon lange eine dezidierte Meinung zum Thema Pressefreiheit, und die Verfolgung der Radikal, deren Inhalte sie keineswegs immer richtig finde, beobachte sie daher mit besonderer Aufmerksamkeit. Zwischen dem Link und der Radikal habe sie eine von Gewalt distanzierende Erklärung gelegt. Der beanstandete Text sei auch ohne ihren Link für alle Interneter per Suchmaschine leicht erreichbar. Zur Zeit, als sie den Link zur holländischen Site gelegt hatte, war die Ausgabe Nr. 154 mit besagtem Text noch nicht im Netz. Es sei weder möglich noch wünschenswert, wenn alle, die einen Link legen, stets das Gelinkte auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen hätten. "Ich bin gegen ein Volk von Kontrolleuren". Zudem bedeute ein Verweis auf etwas nicht, daß man mit den dortigen Inhalten immer übereinstimme, vielmehr würden auch beispielsweise viele Menschen in kritischer Absicht zu Neonazi-Webpages wie die des in Canada lebenden Ernst Zündel verweisen, um darauf aufmerksam zu machen, daß es so etwas gibt.

Am 30. Juni wird die Verhandlung fortgesetzt. Solange es keine expliziten gesetzlichen Bestimmungen zur Natur eines Hyperlinks gibt, kommt einem Verfahren wie diesem schon eine gewisse Weichenstellung durch Definitionsmacht zu. Deshalb lohnt es sich, den Fortgang dieses Verfahrens im Auge zu behalten. Falls sich die abstruse Vorstellung der Zurverfügungstellung per Link durchsetzen sollte, stünden ziemlich viele deutsche Interneter mit einem Bein im Knast. Nicht nur Suchmaschinenbetreiber wären dann jedesmal dran, wenn sie Datenbankausgaben zu "bösen" Texten parat hielten. Auch ein Link zu einer Site wie der Library of Congress wäre vielleicht hoch riskant, weil sich dort Bücher befinden, die hierzulande nicht legal sind. Und es scheint aus Sicht der Staatsanwälte nicht vor Beihilfevorwurf zu schützen, wenn man wie Marquardt vor dem eigentlichen Link ganz generell erklärt, mit welcher Motivation man auf die Zeitschrift verweist und zum Thema Gewaltanwendung eine Position bezieht, gegen die auch die Staatsanwaltschaft nichts vorzubringen hat.

Der eigenen Ausdeutung überlassen bleibt, warum eigentlich die Bundesanwaltschaft den ursprünglich bei ihnen liegenden Fall nicht selbst zur Verhandlung bringt, sondern die Sache an ein Berliner Provinzgericht weitergibt. Als Optimist kann man es nur als unbedingt gutes Zeichen werten, wenn man sich im Götterhimmel nicht kleinlich mit etwas Nebensächlichem wie einer Fußnote befassen und Godpower verplempern will. Und das ganze World Wide Web besteht aus Fußnoten - es gibt keinen Haupttext :-)))

Verfahrenseröffnung und Anklageschrift
Tilmann Baumgärtel: Hyperlink ins Gefängnis
Gespräch mit Angela Marquardt