Der letzte Mensch fährt E-Auto

Alternativen zum motorisierten Individualverkehr sind nicht immer gemeint, wenn das Stichwort "Verkehrswende" fällt. Symbolbild: Pixabay (Public Domain)

Klimarettung wird als Menschheitsziel ausgegeben – meist aber ohne den Weg aus der Maschinerie der Zerstörung aufzuzeigen. Das Verhältnis zur Natur bleibt pathologisch.

Capitalism did not create our world; the machine did


Jaques Ellul, The Technological Society. New York 1964

Livin' easy, livin' free, Season ticket on a one-way ride… Highway to hell, I'm on the highway to hell!


AC/DC, Titelstück des Albums "Highway to Hell", 1979

Auf rasenden Rossen wollen wir reiten!


Jesaja Kap. 30, Vers 16

"Wir" sind Weltenfresser. Eine Gesellschaft auf einem tödlichen Highway. Dazu muss es nicht nach Schweiß und Benzin riechen; das galt für das Paradies unserer Väter, das Versprechen der technischen Zivilisation.

Aber auch nach dem Stopp an der E-Ladesäule (so man eine findet) wartet nicht Freiheit, sondern weiter die brutal durchtechnisierte Welt: ein Unikum aus Produktion, Konsum und Zerstörung. Der Taktgeber dieser Zivilisation heißt: Tempo. Zum Tempo gesellt sich die Ursünde unseres Lebensstils, das entfremdete Verhältnis zur Natur und letztlich zum eigenen korrupten Selbst.

Heilige Kuh

Mobilität – die Heilige Kuh unserer Wohlstandsgesellschaft. Niemand, der sich bei Verstand wähnt, würde das infrage stellen. Der moderne Mensch ist der bewegliche Mensch. Keine Volkswirtschaft dieser Erde, wie groß oder klein sie auch sei, würde ohne Mobilität existieren. Kein Staat könnte regieren, keine Industrie produzieren, kein Konsument etwas kaufen.

Arbeiten und Geld verdienen, Lehren und Lernen, Freizeit und Erholung, selbst die schönen Künste, Wissenschaft, Kultur? Kaum denkbar ohne Fahren, Fliegen, Reisen. Vielen fällt es schwer, sich Mobilität ohne den gewohnten Löwenanteil des motorisierten Individualverkehrs auch nur zu denken. So wird das Stichwort "Verkehrswende" oft auf eine reine Antriebswende reduziert. Vom Staat gibt es für Elektroautos Kaufprämien in vierstelliger Höhe, aber keine Zuschüsse zum Kauf einer BahnCard.

Wir sind zu auto- und aeromobilen Lenkrobotern geworden, ausersehen, eine gigantische technische Fahr- und Flugzeugflotte am Leben und in Bewegung zu halten. Längst haben die Maschinen die Oberhand errungen, kommunizieren mit- und untereinander mittels menschlicher Avatare – Nietzsches "Letzter Mensch" fährt elektrisch. (Ist sie das - die Vision vom Autonomen Fahren?)

Nicolai Berdjajew ("Der Mensch in der technischen Zivilisation") zitiert Keyserling, das war 1948, welcher vorausschauend sagte, der Mensch der Zukunft sei der Fahrer ("Chauffeur"). Berdjajew stellt fest: Derselbe Mensch ist eine Funktion der Produktion geworden. Wir ergänzen: verobjektiviert als Träger eines Systems, das auf Produktion und Mobilität gründet und das sich nur durch solche Konstituiertheit und Funktionsweise als monströse Gesamtmaschine behauptet.

It's magic

Magie soll in der Pseudorationalität von heute keine Rolle mehr spielen. In der Werbung heißt es noch: Freude am Fahren. Doch es gab (gibt?) ihn, diesen Mythos vom Benzin im Blut, den Drang, allem zu entfliehen, der spießbürgerlichen Enge, den ewigen Kreisläufen, dem sich genügenden Alltag, seine endlose Langeweile zurückzulassen. Auch dafür steht das Auto: einfach abhauen. Driften als Daseinsform, das Auto als Freiheitsmaschine. Zumindest die kleinen Fluchten auskosten, wenn die große Flucht korrumpiert ist, weil wir bestens eingepasst sind.

Kleiner Einwurf in Zahlen: "Gefahrene Kilometer BRD". Hier glauben wir der Statistik: Allein mit Personenkraftwagen wurden im Jahr 2020 insgesamt 626,4 Milliarden Kilometer zurückgelegt ("Inländerfahrleistung", Kraftfahrt-Bundesamt). Planetarische Dimensionen: Der mittlere Abstand der Erde zur Sonne beträgt knapp 150 Millionen Kilometer, der Jupiter ist 885 Millionen Kilometer entfernt, der Saturn 1,5 Milliarden. Rechenspiele sind erlaubt.

Zu mehr als 90 Prozent werden bei dieser Herkulesleistung Kraftstoffe aus Mineralöl eingesetzt, Biokraftstoffe und Strom spielen bislang nur eine geringfügige Rolle. Fast die gesamte im Verkehr eingesetzte Energie wird immer noch zur Erzeugung von mechanischer Energie verwendet, die Wirkungsgrade sind schlecht, ein großer Anteil geht als Abwärme verloren.

Theaterdonner

Die große Flucht nach vorn gibt sich derweil als politische Burleske. Nicht nur nervt die Indoktrination, sondern auch die verbale Großspurigkeit ("Unsere Wirtschaft und Industriegesellschaft komplett umbauen") zusammen mit der fehlenden Rechentiefe einer bislang weitgehend nur inszenierten Transformation. Dazu ist noch ein eigener Beitrag vorgesehen.

Das Neueste aus Berlin ist grüner Nepotismus, der erstreckt sich jüngsten Offenlegungen zufolge bis hinein in die wissenschaftliche Expertise (Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende, Öko-Institut e.V., Bund, Dena-Chefposten). Otto Normalverbraucher, notorischer Verbrenner-Fahrer und potenzieller Wende-Begeisterter, staunt nicht schlecht: Was ist denn da los? Man sehe sich das Organigramm aus grüner Vetternwirtschaft und Doppelmoral an, Ende April genüsslich vom ZDF in den Abendnachrichten präsentiert – es lohnt sich (05:00 min).

Das Problem ist aber viel grundsätzlicher als das Herrschaftsgebaren der grünen Technokraten. Es lautet: Wenn Mittel zu Zielen werden. Ziel eines echten gesellschaftlichen Umbaus wäre ein koordinierter Masterplan, durchgreifend bis auf den Nerv der modernen Konsumgesellschaft; nicht die Heizung oder der PKW sind hier gemeint, sondern das lieb gewordene "So sein", die herrschende Praxis, die Verdinglichung, die Verschwendungssucht, die unheilvolle Verbindung von Macht und Mobilität, der ungerechte Besitz, das "gute Leben", letztlich: das Menschheitsprojekt, Weltgestaltung. Our Way Of Life.

Im parteipolitischen Hickhack vergeblich zu suchen.

Schweinehund, naturkostgefüttert

Und was ist mit unserer Selbstverfasstheit – dem "ökologischen Schweinehund", wie Jeannette Schmid den heimlichen Widerständler in uns nannte?

Das Ziel der CO2-Vermeidung läuft entlang der Benutzeroberfläche der Wirklichkeit. Ein Mittel wird zum Menschheitsziel erklärt, planetarisches Ethos bemüht. Der Schweinehund wird nachhaltig gefüttert. Unser kaputtes Verhältnis zur Natur und zu uns selbst als Planetarier bleibt unberührt. Robert Habecks neue Art von Notverordnungen, das grüne Kriegsrecht, die große Einberufung gegen den Naturnotstand, der Staat als moralische Instanz, während die Marktmacht der Hersteller und der Wahnsinn einer mobilisierten Menschheit unangetastet bleiben:

Beweglichkeit (wird) mit dem Besitz oder dem exklusiven Zugriff auf ein Fahrzeug identifiziert - und somit verdinglicht.


Andreas Schinkel

Dabei bleibt's.

Vielleicht auch nicht, nämlich wenn es nach Alina Wetzchewald geht, Researcherin im Forschungsbereich Mobilität und Verkehrspolitik des Wuppertal Instituts. Sie nennt ihre Dissertation "Exnovation und Verkehrswende – Vom Automobilitätsregime zu einer nachhaltigen urbanen Mobilität". Darin nimmt sie den privilegierten Status des Autos in unserer Gesellschaft ins Visier: Der verhindere die Verlagerung auf innovative und nachhaltige Alternativen.

Exnovation vs. Selbstgefährdung

Ihre Devise: Ohne einen grundlegenden Wandel im Verkehrssektor geht es nicht. Technischer Fortschritt und neue Antriebstechnologien werden nicht ausreichen, um die Klimaziele im Verkehr zu erreichen. Stattdessen müsse der Autoverkehr insgesamt reduziert werden.

Bei den Aktiven der Klima- und Mobilitätswende-Bewegung rennt sie damit offene Türen ein, während die deutsche Autoindustrie weiterhin bestenfalls eine Antriebswende will und große Bevölkerungsteile die Abhängigkeit vom Auto an sich nicht als Problem erkennen.

Wetzchewald interessiert die "Exnovation" – die Beendigung nichtnachhaltiger Praktiken. Da hilft es nicht, die Erfahrung des eigenen Gefährdet- und Zerstörtwerdens allein nach außen zu projizieren und im Begriff einer bedrohten Natur festzumachen, gibt die Philosophin Ute Guzzoni zu bedenken. Sie bezieht sich auf den 2015 verstorbenen deutschen Soziologen Ulrich Beck und sein Buch "Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit".

Selbstgefährdung und -zerstörung, so ihr Diktum, sind längst fest in unsere Lebenswirklichkeit eingebaut (Guzzoni, Über Natur, 1995). Das haben wir selbst angerichtet, selbst zu verantworten. Wir selbst sind Zerstörer, unsere Konstruktion einer Welt ist zerstörerisch. Die Ergebnisse unseres Handelns und Menschseinwollens sind zerstörerisch. Was wir an Problemlagen feststellen, was uns gerade auf die Füße fällt, ist konstitutioneller Bestandteil unsrer gemachten, gewollten Lebenswelt.

Wir beobachten das derzeit, diese Verschiebung gesellschaftlicher Problemlagen in eine entäußerte Natur, die stumm und, wie Walter Benjamin Josef Dietzgen zitierte, "gratis da ist". So wird die Frage des Menschseins auf die nichtmenschliche Natur projiziert (mental outsourcing), welche uns doch genau das vor Augen führt, nämlich dass eine verfehlte, brachiale, antiterrestrische Identität das eigentliche Problem ist.

It's magic.