Der neue Hindukusch? Was Deutschland vor Taiwan treibt

Die Fregatte "Baden Württemberg". Foto: Cavernia, CC BY-SA 4.0
Bundeswehr verteidigt "regelbasierte Ordnung" im Indo-Pazifik: Warum China mit seiner Kritik am neuen Präsidenten Taiwans "einen Punkt" trifft und die USA den Inselstaat zunehmend beherrschen.
"Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt". Der Satz des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck vom 11. März 2004 ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Heute gilt er als geflügeltes Wort und ambivalente Referenz für Auslandseinsätze der Deutschen Bundeswehr im Interesse von … ja, wem eigentlich?
Denn "die Demokratie" scheidet nach der gescheiterten Mission und Missionierung des failed state Afghanistan als glaubwürdiges Ziel aus. Und doch spricht die Bundesregierung immer wieder von deren Verteidigung. So auch bei den jüngsten Militärmanövern der Bundeswehr in der Straße von Taiwan.
Wenn Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) diese mit dem Schutz der "regelbasierten internationalen Ordnung" begründet, dürfte auch dem Letzten klar werden, für welche Interessen Deutschland offenbar bereit ist, die unvermeidliche Konfrontation mit China zu schüren.
Deutsches Säbelrasseln
Bei der Tagesschau schreibt man der Volksrepublik China die alleinige Verantwortung für die neuerliche Eskalation im Indopazifik zu.
Die am 23. Mai begonnene Militärübung "Joint Sword-2024A", bei der taiwanesischen Angaben zufolge zahlreiche Schiffe der chinesischen Marine, der chinesischen Küstenwache und chinesische Kampfflugzeuge eine Blockade der Insel probten, wird als Provokation durch Peking dargestellt – garniert von "martialischen Äußerungen" der Volksbefreiungsarmee, die auch eine "Warnung gegen Einmischung und Provokation durch externe Kräfte" beinhalten.
China begründet die Entsendung seiner Truppen mit den Äußerungen des am 20. Mai inaugurierten Präsidenten der selbsternannten Republik China, Lai Ching-te von der Demokratischen Fortschrittspartei DPP. Peking erkennt die Souveränität des Inselstaates bekanntermaßen nicht an.
Pekings Alleinvertretungsanspruch praktisch weltweit anerkannt
Die Volksrepublik beruft sich dabei auf den von den UN sanktionierten Alleinvertretungsanspruch im Zuge der sogenannten Ein-China-Politik (Telepolis berichtete). Mit seiner entschiedenen Betonung der Unabhängigkeit Taiwans habe der neue Präsident der friedlichen Beilegung des Konfliktes eine Absage erteilt, heißt es von der autoritären Regierung in Peking. Was in den deutschen Medien nicht zur Sprache kommt: damit ist sie nicht allein.
Der kommunistischen Einheitspartei und ihren Verlautbarungs-Organen sind speziell die folgenden Passagen in Lais Rede übel aufgestoßen:
Ich denke, es ist für uns alle offensichtlich: Wir haben eine Nation, insofern wir Souveränität haben. Gleich im ersten Kapitel unserer Verfassung heißt es: "Die Souveränität der Republik China liegt in der Gesamtheit der Bürger", und: "Personen, die die Staatsangehörigkeit der Republik China besitzen, sind Bürger der Republik China." Diese beiden Artikel sagen uns deutlich: Die Republik China und die Volksrepublik China sind einander nicht untergeordnet. […] Indem wir Seite an Seite mit anderen demokratischen Ländern stehen, können wir eine friedliche globale Gemeinschaft bilden, die die Stärke der Abschreckung demonstrieren und Kriege verhindern kann, um unser Ziel des Friedens durch Stärke zu erreichen.
Lai Ching-te
In der staatstreuen Global Times werden die Äußerungen des Präsidenten als "antichinesische" Stimmungsmache, "separatistische" Provokation und als "Kotau vor externen Kräften" interpretiert.
Lai bringe Taiwan durch seine Abschreckungs-Rhetorik "in eine gefährliche Situation mit potenziellen Konflikten, die für die taiwanesische Bevölkerung katastrophale Folgen haben". Die Politik des neuen Präsidenten stehe für einen "Ausverkauf von Taiwans Interessen" und die Degradierung der Bevölkerung zur "Verhandlungsmasse" (Engl. "bargaining chips").
China "hat einen Punkt"
Beim ersten Vernehmen mag sich das nach hegemonialer Überheblichkeit anhören. Allerdings verfolgt man den selbstbewussten Kurs des neuen taiwanesischen Präsidenten auch in Regierungskreisen mit Sorge.
Entsprechend äußerte sich gegenüber der Financial Times (FT) kürzlich der taiwanesische Politologe Chao Chun-shan, der unter anderen auch Lais unmittelbarer Vorgängerin Tsai Ing-Wen als Berater zur Seite stand. Der neue Präsident sei mit dem Versprechen angetreten, Tsais China-Politik zu folgen und den status quo in der Straße von Taiwan zu bewahren. Dieses Versprechen habe er mit seiner Amtsantrittsrede allerdings gebrochen, meint Chao in der FT:
China hat Recht, wenn es sagt, dass Lai vom Weg seiner Vorgängerin Tsai Ing-wen abweicht - einer Anführerin, die China zwar nicht anerkannte, der es aber gelang, einen delikaten Frieden zu wahren. Und einige fragen sich, ob es klug ist, in einer Zeit hoher Spannungen ein solches Risiko einzugehen. Lais Haltung ist ein Schritt zurück zu mehr Konfrontation und macht vieles von Tsais Linie zunichte […] Xi will keinen Showdown, bevor das Ergebnis der US-Wahl klar ist.
Chao Chun-shan
China "hat (also) einen Punkt", wenn es um die Beurteilung des neuen Präsidenten geht, fasst die FT in ihrer Überschrift zusammen. Was bedeutet das für die schier bedingungslose Unterstützung, die man dem Inselstaat in westlichen Längengraden zusichert?
Manöver und Gegenmanöver
Hat China auch mit seiner "Warnung vor der Einmischung und Provokation durch externe Kräfte" einen "Punkt"? Denn das von Außenministerin Baerbock befürwortete "wichtigste Vorhaben der Deutschen Marine der Verteidigungsdiplomatie der Bundeswehr", das "Indo-Pacific Deployment 2024", wurde von langer Hand vorbereitet. Die Entsendung der Fregatten "Frankfurt am Main" und "Baden-Württemberg" begann im Mai und wird bis Ende Dezember andauern.
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Medienberichten zufolge teilte die Außenministerin mit, dass auch die Straße von Taiwan in den Fokus der Übung rücken könne, um "das Recht der friedlichen Durchfahrt" zu verteidigen. Damit suggerierte Baerbock eine unmittelbare Bedrohung durch China. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen (BSW) hatte beim Auswärtigen Amt angefragt, inwiefern eine solche Bedrohung bestehe und teilte die Antwort des AA auf der Plattform X: Dem Ministerium ist kein entsprechender Fall bekannt.
Wie es in einer Pressemitteilung der Bundeswehr zum Einsatz der beiden Fregatten heißt, wird der "Höhepunkt" ihrer Entsendung die Teilnahme an der Übung RIMPAC (Rim of the Pacific, Randgebiet des Pazifiks) 2024 sein. Die zweimal im Jahr stattfindende Übung unter Führung der USA versammelt rund 29 Nationen, 40 Überwasserschiffe, 3 U-Boote, 14 nationale Landstreitkräfte, über 150 Flugzeuge und mehr als 25.000 Militärs. Die Übung dient US-Navy Angaben zufolge dazu, "unsere kollektiven Kräfte zu stärken und einen freien und offenen Indopazifik zu fördern."
Patrouille durch "umstrittene Gewässer"
Wie die Tagesschau berichtete, reagierten die Vereinigten Staaten schon im April auf ein chinesisches Militärmanöver mit der Patrouille des Kriegsschiffs USS Milius durch "umstrittene Gewässer".
Im März wurde die dauerhafte Stationierung der US-amerikanischen US Special Operations Forces (SOF, "Green Berets") zur Ausbildung von Soldaten in Taiwan bekannt. Die Elite-Spezialeinheit des Militärs wird ihrerseits in einem breiten Spektrum von Disziplinen ausgebildet – darunter auch in unkonventioneller Kriegsführung und Aufstandsbekämpfung und ist unter anderem in Afghanistan zum Einsatz gekommen.
Hinter der militärischen Konfrontation der beiden Großmächte steht bekanntermaßen auch ein geoökonomischer Wettbewerb um das globale Technologie-Zentrum Taiwan, das mindestens 60, im modernen Produktsegment sogar 90 Prozent der weltweiten Halbleiter-Versorgung stemmt.
In den letzten Jahren hat sich eine Machtverschiebung in jener geoökonomischen Sphäre angekündigt, die vor wenigen Tagen ihren Abschluss gefunden zu haben scheint.
Der neue Präsident in Taipeh liefert den Paradigmenwechsel
Was manchen Leser aufgrund der gegenwärtigen Spannungen irritieren könnte: Größter Handelspartner Taiwans ist seit Jahrzehnten die Volksrepublik China. Das begann sich erst vor Kurzem zu ändern.
2021 flossen Statistiken zufolge noch 42 Prozent der Investitionen in das benachbarte Festland. Im vergangenen Jahr sank der Anteil der Exporte auf rund 35 Prozent, den niedrigsten Wert seit 21 Jahren. Trotzdem galt China offiziellen Statistiken zufolge noch im April dieses Jahres als größter Handelspartner Taiwans – wenn auch nur noch knapp.
Schenkt man neuesten Medienberichten Glauben, führt seit Mai 2024 eine andere Nation die Exportstatistik des wichtigsten Halbleiter-Lieferanten der Welt an: die USA.
Taiwan verlagert seine wirtschaftlichen Aktivitäten in die USA
Wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, kündigte der weltgrößte Hersteller von Computerchips, TSMC, im vergangenen Monat an, dass er seine Investitionen in den USA auf 65 Milliarden Dollar erhöhen werde. Das, nachdem die Biden-Regierung TSMC Anreize in Höhe von bis zu 6,6 Milliarden US-Dollar zugesagt hatte, um eine Niederlassung des Unternehmens im Bundesstaat Arizona auf den Weg bringen, wo bis 2030 rund ein Fünftel der modernsten Chips der Welt gefertigt werden sollen.
Das "Geoeconomic Center" des einflussreichen US-Thinktanks Atlantic Council hielt bereits im November 2023 in seiner Publikation "Relying On Old Enemies: The Challenge Of Taiwan’s Economic Ties To China" fest, das mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen ein Paradigmenwechsel in den Wirtschaftsbeziehungen des Inselstaats erfolgen könnte, der ihn von den ökonomischen Zwängen Festland-Chinas befreit.
Ein halbes Jahr später kann dieser Paradigmenwechsel wohl als geglückt angesehen werden:
Unabhängig vom Ausgang der Wahlen im Januar 2024 wird der neue taiwanesische Präsident die Gelegenheit haben, die laufenden Bemühungen zu überprüfen und neu zu kalibrieren, um Taiwans Abhängigkeit von der chinesischen Wirtschaft zu verringern und neue Wachstumsmotoren zu finden.
Atlantic Council
Neuer Wachstumsmotor USA?
Der Thinktank lieferte gleich eine Empfehlung mit, wo diese neuen Wachstumsmotoren zu finden sein könnten, die eine Wiederbelebung des sogenannten Wunders von Taiwan versprechen, das die Insel im Indopazifik erst zum technologischen Weltmarktführer machte:
Ein wichtiger Stützpfeiler für den wirtschaftlichen Aufstieg Taiwans in den 1970er und 1980er Jahren war der Zugang zum US-Markt und zu US-Investitionskapital. Doch diese Erfolgsgeschichte wurde zunehmend auf dem chinesischen Markt geschrieben, da taiwanesische Unternehmen ihre Investitionen und ihren Handel auf das Festland ausdehnten. Die nächste Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung Taiwans – und seine langfristige Sicherheit – erfordert ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Taiwan.
Atlantic Council
Wird sich auch dieses "letzte" Kapitel der planvollen Konfrontation im Indopazifik zum Abschluss bringen lassen? Oder wird die zunehmende Eskalation ein ganz neues Kapitel in der Weltgeschichte aufschlagen, für das niemand mit gesundem Menschenverstand ernsthaft Pläne geschmiedet haben kann?
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