Der schwierige Abschied von der Autostadt
Ver.di fordert eine gemeinwohlorientierte Entwicklung der Innenstädte, das Umweltbundesamt will Autofahren schnellstmöglich verteuern. Doch noch fehlen Alternativen, sagt der ADAC
Der motorisierte Individualverkehr und der in der Corona-Krise verstärkte Trend zur Nutzung von Lieferdiensten haben nicht nur mittel- und langfristige Auswirkungen auf das Weltklima. Schon jetzt leidet die Lebensqualität in den Städten - abgesehen von hohen Mietpreisen - vor allem unter diesen beiden Entwicklungen. Die Gewerkschaft ver.di macht sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt Sorgen um den stationären Einzelhandel und seine Beschäftigten - sowie um Kulturschaffende, die darauf angewiesen sind, dass Stadtmenschen gerne vor die Tür gehen.
Der Arbeitsmarkt in der Kurier-, Express-, Paketbranche sei dagegen "zweigeteilt", heißt es im ver.di-Positionspapier "Die Zukunft der Innenstädte", das die Gewerkschaft an diesem Donnerstag veröffentlicht hat. Es gebe zwar Paketdienste mit fest angestellten Mitarbeitern, aber gerade in der Auslieferung habe das Ausmaß von prekärer Beschäftigung mit dem starken Sendungswachstum weiter zugenommen. Bei Subunternehmen werde den Beschäftigten ein großer Anteil am Betriebsrisiko aufgebürdet. "Eine Tarifbindung ist gerade bei Kleinstunternehmen faktisch kaum durchsetzbar."
Insgesamt stoße das "automobile Wachstum" in den Städten an seine Grenzen: "In überfüllten Straßen gehört der Stau zum Alltag", so ver.di. "Das Fahrzeug wird zum Stehzeug. Gleichzeitig belastet die wachsende Blechlawine Mensch und Umwelt – Millionen Stadtbewohner leiden unter Feinstaub, Stickoxiden, Unfällen."
Das ver.di-Konzept ist ganzheitlich
Neben dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs - dessen Beförderungskapazität solle bis 2030 verdoppelt werden - fordert die Gewerkschaft preiswertere Tickets: Der ÖPNV soll demnach "deutlich verbilligt und perspektivisch kostenlos" werden. Darüber hinaus solle die Fußgänger- und Radverkehrsinfrastruktur ausgebaut werden. "Autofreie Innenstädte, mehr Tempo-30-Zonen und baulich abgetrennte Wege schützen Fußgänger. Radwege sind baulich vom Autoverkehr zu trennen und mit fahrradfreundlichen Ampelschaltungen auszustatten."
Das Konzept ist ganzheitlich: Die Gewerkschaft fordert auch wirksame Instrumente zur Begrenzung der innerstädtischen Mietpreise, die einer der Hauptgründe für lange Anfahrtswege zwischen Wohn- und Arbeitsstätten sind. Erwähnt wird auch explizit ein Mietendeckel, der allerdings nur auf Bundesebene eingeführt werden könnte.
Den Berliner Mietendeckel hat das Bundesverfassungsgericht im April wegen der formellen Zuständigkeit des Bundes für nichtig erklärt und auf die schon existierende "Mietpreisbremse" verwiesen. Mit dieser hatte sich die Bundesgesetzgebung allerdings die Verantwortung auf die Länder abgewälzt und es ihnen überlassen, Gebiete mit besonders angespannten Wohnungsmärkten auszuweisen, in denen die "Bremse" dann wenigstens mit Ausnahmen gilt. Für ver.di ist damit nicht die Diskussion beendet.
"Unsere Städte und Gemeinden sollten stärker gemeinwohlorientiert weiterentwickelt werden", so die Gewerkschaft. "Kulturorte und soziale Einrichtungen, der öffentliche Raum als Ort der Begegnung sowie Freizeitaktivitäten sollten eine wichtigere Rolle spielen."
Das Umweltbundesamt setzt auf Teuerungen
Zum Verkehrsaspekt hat sich unterdessen auch das Umweltbundesamt (UBA) geäußert - und damit den Allgemeinen Deutschen Automobilclub (ADAC) erzürnt. Das UBA hatte am Mittwoch unter anderem vorgeschlagen, im Straßenverkehrsrecht die Bevorzugung des Autoverkehrs zu beenden und damit den Kommunen zu ermöglichen, Straßen ausschließlich für den ÖPNV zu reservieren. Auch die Einführung von Tempo 30 als Regelhöchstgeschwindigkeit innerorts wird angeregt, nicht zuletzt um Rad- und Fußverkehr attraktiver und sicherer zu machen.
Zur Begründung hatte das Amt das offene Geheimnis ausgesprochen, dass die bisher beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen "bei weitem" nicht ausreichten, um die Klimaschutzziele bis 2030 zu erreichen. Vorgeschlagen hatte das UBA auch die Abschaffung "klimaschädlicher Subventionen" und als solche auch die Pendlerpauschale bezeichnet. Derartiges findet sich im ver.di-Papier nicht.
Das Umweltbundesamt sprach sich zudem für eine "verursachergerechte Bepreisung" aus und nannte hierzu neben einem deutlich höheren CO2-Preis bereits ab 2022 auch eine Pkw-Maut ab 2030. ADAC-Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand warf der Behörde am Donnerstag vor, Verbraucher mit einer "Abgabenorgie" zusätzlich belasten zu wollen.
"Derart massive Preissignale treffen die Bevölkerung zu einem Zeitpunkt, an dem sie teilweise bereits an der Belastungsgrenze sind und Alternativen schlichtweg nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen", erklärte Hillebrand. Höhere Preise erzeugten nur dann eine Lenkungswirkung, "wenn Verbraucher auch in der Lage sind, auf emissionsarme Alternativen umzusteigen". Auch der Umzug vieler Pendler in die Nähe ihres Arbeitsplatzes zum Vermeiden des Pendelns sei in den Ballungsräumen keine reale Option.
Letzteres zeigt allerdings die Notwendigkeit von Gesamtkonzepten wie dem von ver.di. Ob solche Vorschläge unter einer "Ampel"-Regierung aus SPD, Grünen und der marktradikalen FDP durchsetzbar sind, hängt allerdings von der Stärke sozialer Bewegungen ab. Im Koalitionsvertrag, an dem die drei Parteien gerade feilen, wird sich davon nicht viel finden.
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