Der tägliche Bürgerkrieg

Eine Filmreihe bietet Überblick über die Favela im brasilianischen Film

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Gewalt, Glamour und Apokalypse: Mit Hip Hop-Videos sind Bilder aus Großstadt-Ghettos Teil der Zeichenkultur geworden. Die Debatte um die globalen "Megacities", darunter Mexico City, Sao Paolo und Bombay, hat wiederum Bilder von unaufhaltsam wachsenden Slums zu Tage gefördert. Bilder, die die Krise der Stadt zum Ausdruck bringen.

Das Arsenal in Berlin zeigt nun eine Filmreihe, die sich den Slums in brasilianischen Großstädten widmet. Sie werden Favelas genannt und gelten als vielfältige und komplexe Lebensräume, die eine lange Geschichte haben.

Interessant daran ist, dass der Anstieg der Kriminalität, der einher ging mit einem immer unkontrolliertere Formen annehmenden Handel von Kokain, zu einer Politisierung der Favelas führte. Mittelklasse und Oberschicht waren zum Feind geworden. Nicht nur der neue Status des Narkotikums (ein Großteil des gehandelten Kokains wurde zwar außerhalb der Favelas konsumiert, die ehemalige Prestige-Droge wurde jedoch auch in der Unterschicht zum alltäglichen Allheilmittel) und die damit verbundene Reibung zwischen den sozialen Schichten, war ein Grund dafür.

Die Favelas befinden sich meistens auf den Hügeln der Stadt

Die soziale Diskrepanz gewann vor allem dadurch an Trennschärfe, dass in den brasilianischen Gefängnissen eine wichtige Veränderung eingetreten war: 1964, als das Militär die Macht in Brasilien übernommen hatte und viele politische Gefangene gemacht wurden, begannen diese Dissidenten die inhaftierten Massen nach und nach zu organisieren; staatsähnliche Strukturen entstanden, die sich auch auf den Herkunftsort der meisten Insassen (die Favelas) übertrugen. Eine weitreichende Verbindung zwischen den Favelas und dem gigantischen Gefängnis-Komplex Brasiliens entstand. Organisiertes Verbrechen wurde zwischenzeitig mit dem Klassenkampf synonym.

Heute ist wenig von dem sozial-revolutionären Anspruch übrig geblieben. Der Link zwischen der Favela und dem Gefängnis hat diesbezüglich keinen Bestand mehr. Geblieben sind die paramilitärischen Zustände. Von den überfüllten Gefängnissen gibt es laufend haarsträubende Berichte: Sie betreffen die unmenschlichen und zugleich anarchischen Zustände genauso wie die kontinuierlichen Ausschreitungen zwischen Insassen und Wachpersonal.

Kein Jahr vergeht, ohne, dass es einen Aufstand geben würde. Der bis heute blutigste, bekannt als das Carandiru-Massaker, endete am 2.10.92 mit 111 Toten, der spektakulärste fand Anfang letzten Jahres statt: Eine Gefängnisgang namens PCC (First Command of the Capital) hatte es fertiggebracht, 27.000 Gefangene in 29 verschiedenen Gefängnissen und in 21 verschiedenen Städten des Staates Sao Paulo gleichzeitig zu einem Aufstand zu bewegen.

Carandiru ist das größte Gefängnis Brasiliens

Es herrscht Krieg in den brasilianischen Städten, wie auch ein Polizist des ersten Military Police Batallion in "Noticias de Uma Guerra Particular" (Nachrichten von einem persönlichen Krieg, João Moreira Salles und Kátia Lund, 1998) zu Protokoll gibt. Der Dokumentarfilm, der am 30.11. im Arsenal zu sehen ist, belässt es nicht bei diesem Statement. Auch andere Polizisten, Regierungssprecher, Sozialwissenschaftler und Drogenhändler selbst sprechen über den täglich stattfindenden "Bürgerkrieg". Die Kamera schaut den Dealern über die Schultern, sie zeigt sie bei der Aufrüstung: Bis an die Zähne bewaffnet gehen sie ihrer Arbeit nach. Genauso wie die Polizei, die sogar einen persönlichen Krieg ausgemacht haben will. Für jeden toten Drogenhändler rolle schließlich ein Polizisten-Kopf. Keine Slogans. Der Dokumentarfilm wartet mit authentischen Kampfhandlungen in den Favelas auf. Schusswechsel in einer Größenordnung sind zu sehen, die man in der Realität der Hollywood-Filme und Hip-Hop-Videos gebannt meinte.

Freilich geht es in diesem Dokumentarfilm nicht nur um das Blutvergießen, es wird ein überaus komplexes Bild der Favelas von Rio de Janeiro nach ihrer Besetzung durch die Drogenhändler konstruiert. Und so stellt sich auch immer die Frage nach sozialen Veränderungen und nach Möglichkeiten, die die Favela bietet für Existenzen jenseits des Bürgerkriegs. Wo "Noticas" oft wenig Hoffnungen macht, vermitteln andere Filme etwas mehr Mut. Zum Beispiel "Coruja" (Nachtschwärmer, Simplício Neto und Maria Derraik, 2001). In diesem bunten und wesentlich lebensfroheren Kurzfilm begleiten die Regisseure den Samba-Sänger Bezerra da Silva auf seiner Suche nach unbekannten Komponisten in den Favelas und Vororten von Rio de Janeiro. Die Favela erscheint hier - kontrapunktisch zur Logik der destruktiven Endstation in "Noticas" - als ein Ort der schöpferischen Kraft.

Zwischen diesen beiden Polen pendeln auch die anderen Filme, die einen historischen Bogen spannen vom Beginn der Landflucht in den 50er Jahren bis zur Gegenwart, in der Drogenhandel und Gewalt die bereits zum Klischee geronnenen Bilder der Armut in den Favelas dominieren. Kurz: So sehr die brasilianischen Slums uns die Sackgassen zeitgenössischer Städte vor Augen führen, die Veranstalter der Filmreihe vom 28. November bis 9. Dezember 2002 erinnern mit ihrer Auswahl auch daran, dass die Kehrseite dieser Münze etwas anderes impliziert: Die Favela "als Modell neuer, vitaler Formen des Zusammenlebens, als Ort neuer Formen des politischen Aktivismus, der sich über die Musik und die Kultur vermittelt".