Der ukrainische Präsident Selenskyi in Berlin
Der neue Präsident hat seine ersten echten Auslandsaufenthalte absolviert, in Paris und Berlin. Der vorhergehende Besuch in Brüssel war symbolisch
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte während des Präsidentschaftswahlkampfs recht deutlich gemacht, Poroschenko zu bevorzugen. So empfing sie ihn kurz vor der Stichwahl Berlin, nicht aber Selenskyi. Präsident Macron sprach in Paris hingegen sowohl mit dem Amtsinhaber als auch dem Herausforderer.
Bei Selenskyis Amtseinführung war Deutschland lediglich durch den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff vertreten. Die Bundesregierung gab an, die Terminlage habe keine andere Besetzung ermöglicht. Volle Kalender scheint es auch in anderen Ländern gegeben zu haben. Nur wenige Staaten waren bei dem Staatsakt höchstrangig vertreten, etwa Ungarn und Georgien mit ihren Präsidenten.
Am 18. Juni nun kam der neue ukrainische Präsident nach Berlin. Die Bundesregierung strich in ihrer offiziellen Erklärung aus diesem Anlass einen Gesprächsgegenstand besonders heraus: "Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen." Die Kanzlerin betonte hierzu, Selenskyi und sie seien sich "einig, dass, solange keine Fortschritte erzielt sind, die Sanktionen gegen Russland nicht aufgehoben werden können". Das heißt dreierlei:
- Die Sanktionen könnten aufgehoben werden, sobald es auch nur Fortschritte gibt.
- Selenskyi teilt diese Ansicht.
- Nur Russland verhindert die Umsetzung von Minsk und wird darum sanktioniert.
Sämtliche Aussagen der Bundeskanzlerin sind unzutreffend:
- Deutschland vertritt seit Jahren die Haltung, die Sanktionen könnten gelockert werden, sobald es Fortschritte im Minsk-Prozess gibt.
- Selenskyi ist keineswegs der Ansicht, dass die Sanktionen aufgehoben werden können, sobald es auch nur Umsetzungsfortschritte gibt.
- Und es widerspricht der Haltung der Bundesregierung, dass nur Russland für die Umsetzung von Minsk verantwortlich ist, sie sieht auch die Ukraine in der Pflicht.
Wie kann man diese Widersprüchlichkeiten erklären? Vielleicht mit gesundheitlichen Problemen der Kanzlerin? Sie zitterte, während sie mit Selenskyi auf das Abschreiten der Ehrenformation wartete, für alle Anwesenden sichtbar am ganzen Körper. Dies wurde für die deutschen Medien zum wichtigsten Thema des Aufenthalts von Selenskyi. Der Tag war sehr heiß und die Kanzlerin litt unter einem Flüssigkeitsmangel, der sich leicht beheben ließ. Es gab also keinen Grund zur Besorgnis.
Die Widersprüchlichkeiten müssen andere Gründe besitzen, bei offiziellen Veröffentlichungen der Bundesregierung wird immerhin jedes Wort abgewogen. Plausibel scheint folgende Deutung: Merkel bleibt einfach ihrer Linie treu, widersprüchliche und/oder unklare Aussagen zu treffen. Sie kann dies gefahrlos tun, weil sie keine Sorge haben muss, von den Medien darauf aufmerksam gemacht zu werden. Merkels Äußerungen besitzen v.a. einen innenpolitischen Hintergrund. Sie sendet Signale sowohl an die Sanktionskritiker als auch die Befürworter aus (und nimmt nebenbei noch einen ausländischen Präsidenten mit in die Pflicht):
- Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, fordert die Bundesregierung auf, sich für "eine UN-Mission zur zeitweiligen Kontrolle der ukrainisch-russischen Grenze" stark zu machen. Dies ist eine Haltung der Russland-Hardliner, etwa Poroschenkos. Selenskij hingegen hat signalisiert, dass eine UN-Mission an der Frontlinie zwischen den Rebellen und den ukrainischen Einheiten sinnvoll sein könnte. Dies könnte tatsächlich einen wirksamen Waffenstillstand gewährleisten. Russland dürfte einer solchen Lösung zustimmen. Hardliner können zufrieden sein, weil Merkel nur Moskau für die Umsetzung von Minsk verantwortlich macht.
- Ostdeutsche Ministerpräsidenten wiederum geben sich zunehmend sanktionskritisch. Die "Russlandversteher" können sich verstanden fühlen, weil Merkel sagt, dass bereits Fortschritte im Minskprozess zu einer Aufhebung der Sanktionen führen könnten.
- Die Linkspartei fordert Selenskij auf, "ernsthafte Schritte auf die Aufständischen im Osten zuzugehen". Vielleicht reicht es der Linkspartei, dass Merkel Selenskyi einfach mit in die Pflicht genommen hat?
Merkels widersprüchliche Botschaften beinhalteten also für alle oben genannten Lager ein Bonbon. Außer vielleicht für die SPD, denn deren Haltung entspricht genau der offiziellen Deutschlands, mit einem gewissen entspannungsfreundlichen Zungenschlag. Vielleicht ist das zu gradlinig? Neben den vielfältigen innenpolitischen Signalen ging es Merkel und Selenskyi auch um die "Ostseepipeline", bei der beide unterschiedliche Standpunkte vertreten, aber einen Streit vermieden.
Ein Frieden im Donbas könnte in den vergangenen Tagen ein Stück näher gerückt sein: Am 13. Juli soll es nunmehr Vorbesprechungen der Berater der Staats- und Regierungschefs der vier Normandie-Länder geben. Selenskyi sprach sich für ein Gipfeltreffen unmittelbar nach den ukrainischen Parlamentswahlen aus. Danach, aber auch erst danach, könnten substanziell-positive Signale des Kremls kommen. Macron schlug übrigens Paris als Ort des Gipfels vor. Deutschland hat die westliche Federführung im Normandie-Quartett an Frankreich abgegeben. Die Stabilisierung einer auf schwachen Beinen stehenden Koalition hat Vorrang.