Der unverdiente Ritterschlag für die Reproduktionszahl R

Eine Analyse des Verlaufs der SARS-CoV-2-Infektionsrate P in Deutschland - Teil 2

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Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als es hieß, wir müssen die Kurve abflachen, den Anstieg verringern? "Flatten the Curve" ging als Ruf um die Welt und ist vielerorts auf der Erde mehr als aktuell.

Den Anstieg verringern! Aber wie groß ist der Anstieg, was heißt diesen zu reduzieren? Gibt es dafür irgendeine Zahl, so einen Kennwert, der den Anstieg, sein flacher werden, beschreibt? Haben sie einmal von solch einem Kennwert gehört? Oder gaben und geben ihnen Verdopplungszeit und hernach R-Wert ausreichend Informationen?

Aufgabenstellung - Summenverteilung und Häufigkeitsverteilung Wir hatten uns also die Aufgabe gestellt, einen Kennwert zu finden, der den Anstieg der Infektionszahl quantitativ charakterisiert. Nicht mehr und nicht weniger.

Wir alle kennen die grafischen Darstellungen, die uns die Entwicklung der SARS 2 Epidemie in Deutschland veranschaulichen sollen, außer einzelnen Zahlenwerten von Infektionszahl und Zahl der Neuinfektionen von heute, die das Robert Koch Institut (RKI) täglich bekannt gibt; die Infektionszahl benennt das RKI Covid 19 Fälle.

Die beiden Typen der Grafiken sind zum einen die Darstellung der Neuinfektionen y über der Zeit x, dies ergibt eine Häufigkeitsverteilung. Zum anderen ist die Darstellung der Infektionszahl Y über der Zeit eine Summenverteilung. Wir verzichten auf einen Diskurs über Verteilungsfunktionen, d.s. zwei oder mehrparametrische Gleichungen, die uns eine Lösung der Aufgabenstellung erleichtern würden.

Wir müssen demnach mit den Daten der Infektionszahlen arbeiten, die uns zur Verfügung stehen. Über deren Qualität ist so viel gesagt und geschrieben worden, dass man dem keinen Satz, kein Wort mehr hinzuzufügen braucht. Eine andere Frage ist die nach der Repräsentanz1 der Daten, wenn z.B. eine Aussage für ganz Deutschland getroffen wird. Man kann sich abwenden, weil alles, was heran zu ziehen wäre, sowieso unzuverlässig ist, man kann je nach Veranlagung und Temperament auch seinen Unmut kundtun. Was ist damit verändert?

RKI Nowcast Daten

Wir werden hier die Daten nutzen, die das RKI mit dem Nowcasting Verfahren ermittelt und die wir am 27.05.20 heruntergeladen haben. Die RKI-EXEL-Tabelle, die regelmäßig aktualisiert wird, wobei auch zurückliegende Daten betroffen sein können, enthält die Zahlen für die Neuinfizierten (geglättet) im Zeitraum zwischen dem 02.03. und dem 22.05.20. Sie listet ebenso Angaben zur Reproduktionszahl R. Das Nowcasting ist beschrieben und wurde diskutiert.

Wir werfen im Bild 1 zunächst einen Blick auf die Daten des RKI. Nachdem ich die Grafik erstmals erstellte, vergewisserte ich mich nochmals, ob ich die richtigen Daten zu den Bezeichnungen gewählt hatte. Sind wir überrascht, dass die Nowcasting Zahlen nun in einem weiten Zeitbereich größer sind, als die vom Autor zuvor verwendeten Zahlenwerten der Berliner Morgenpost. Waren und sind nicht die täglichen Fallzahlmeldungen des RKI immer, und zum Teil deutlich niedriger als solche, die von anderen Quellen angegeben werden? Wir sind also gut beraten, strikt zu unterscheiden zwischen in täglichen Lageberichten des RKI jeweils ganz oben mitgeteilten Covid 19 Fallzahlen (die dann von den Medien verbreitet werden, aber extern wohl nicht zusammengefasst existieren) und den RKI Nowcast Daten!

Lösungsweg

Aus den angegebenen RKI Nowcast Daten für Neuinfektionen stellen wir eine Datentabelle mit den Spalten Datum, Tag, Infektionszahl zusammen und gehen wie folgt vor (es scheint geraten, dies im Detail anzugeben):

Wir unterteilen die Zeitachse in Intervalle von jeweils 4 Tagen. Nur in der Nähe des Maximums der Häufigkeitsverteilung entscheiden wir uns für drei Intervalle zu je drei Tagen. Dies ist jener Zeitraum, nach dem eine anfänglich quantifizierbare Exponentialverteilung für die Infektionszahlentwicklung ihre Gültigkeit verloren hat, was nicht bedeutet, der Anstieg der Infektionszahl ginge sofort in einen linearen über. Mit der gewählten Einteilung der Zeitachse erhalten wir 22 Zeitintervalle. Jedes Zeitintervall hat eine untere Grenze x1 und eine obere Grenze x2; die Intervalle schließen aneinander an und überlappen sich nicht. Für jedes Intervall stehen uns vier bzw. drei Datenpaare für die Zeit x und die Infektionszahl Y zur Verfügung. Wir suchen nun einen mathematischen Ausdruck, der die Abhängigkeit Y(x) mit einem Bestimmtheitsmaß R2 ≥ 0,99 beschreibt, und (hoffentlich) eine Information zum Anstieg der Werte Y mit der Zeit x enthält.

In diesem Beitrag verwenden wir folgende Funktionen, die jeweils nur im Intervall x1 bis x2 Gültigkeit haben. Die Infektionszahl sei Y(x), die Zahl der Neuinfektion sei y(x), letztere ergibt sich im Zeitintervall als Differentialquotient (erste Ableitung) der Funktion Y(x) (umgekehrt folgte die Infektionszahl aus dem Integral der Neuinfektionen).

Die Gleichungen stehen für eine Potenzgleichung (1a), eine Exponentialgleichung (2a) und eine Geradengleichung2 (3a). Gemäß (3b) liefert die Ableitung der Geradengleichung mit dem Parameter F die Anzahl der Neuinfizierten y(x) im Intervall.

Für die Auswertung benutzen wir keinen spitzen Bleistift und "geeignetes" Millimeterpapier (das wäre ja vergleichbar mit dem Verschicken von Seuchenfaxen), sondern markieren jeweils die vier (oder drei) Wertepaare und lassen uns von den Algorithmen3 des Kalkulationsprogramms die jeweiligen Gleichungen berechnen. Die Ergebnisse für die Parameter P, Q, F werden wir uns im Folgenden anschauen.

Der Autor hofft, dass die Prozedur nunmehr verständlich(er) für die geneigte Leserin oder einen ebenso geneigten Leser ist.

Nein, dies ist kein "Modellieren", dies ist keine epidemiologische Analyse! Wir hatten ausgeschlossen, dass wir dazu fähig wären. Das überlassen wir den Fachwissenschaftlern. Was wir machen, ist eine formale, elementarmathematische Analyse des Verlaufs der Summenfunktion. Und wir machen das nicht zum Selbstzweck, weil wir etwa Gefallen daran hätten, Kurven zu fitten. Wir machen dies, um auf diesem Wege die Aufgabe zu lösen, die wir uns gestellt haben: Wir wollen wissen, was es auf sich hat mit dem Anstieg, dem exponentiellen Verlauf, dem Abflachen und der linearen Phase dieser SARS 2 Epidemie.

Ergebnisse

Wir haben die Parameter der von uns gewählten Gleichungen wie beschrieben ermittelt und stellen deren Zeitabhängigkeit jeweils über den oberen Intervallwerten x2 grafisch dar.

Bild 2 zeigt die Ergebnisse für den Parameter P, den wir als Infektionsrate definieren konnten. Sie können diesen Parameter auch "P-Wert" nennen. Im Bild 2 sind nochmals die in meinem ersten Beitrag ermittelten P -Werte aufgenommen. Vergleichsweise wird die Zeitabhängigkeit des gut bekannten R-Wertes (des sogenannten sensitiven Wertes des RKI) dargestellt.

Im Bild 3 können sie sich die Ergebnisse für den Verlauf der Parameter P, Q, F anschauen. Zum Vergleich haben wir die Häufigkeitsverteilung der RKI Nowcast Daten für die Neuinfektionen (dort "Punktschätzer der Anzahl Neuerkrankungen" genannt) eingetragen. Wie wegen Gleichung (3b) erwartet, bildet der Parameter F der Geradengleichung (3a) die Anzahl der Neuinfektionen in den Zeitintervallen ab. Sollten sie die geringe Verschiebung der F-Kurve gegenüber dem Balkendiagramm bemängeln, so berücksichtigen sie bitte, dass die "Balken" über den einzelnen Tagen, die F-Werte jedoch über den x2 Werten der Zeitintervalle aufgetragen sind.

Wir erinnern daran, dass der P-Wert und der Parameter Q Anfang Februar, den Infektionszahlen folgend, nahezu sprunghaft angestiegen (siehe im ersten Beitrag) und etwa nach dem 13. … 15. März, mit Erreichen / Überschreiten des Maximums der Häufigkeitsverteilung (Scheitelpunkt, Modalwert) langsam aber stetig abnehmen.

Der viel diskutierte R-Wert erreichte ein Maximum etwa am 10./11. März, fiel dann innerhalb von 10 Tagen ab und unterschritt den Wert R = 1 unmittelbar nach dem Maximum der Häufigkeitsverteilung am 21. März.4

Muss man fragen, durch welchem Zeitverlauf mehr Information bereitgestellt wird? Der Autor weiß jedenfalls nicht, welche Schlussfolgerungen er aus dem knapp unter Eins oszillierendem R-Wert ziehen soll.

Die Infektionsrate P

Warum gab der Autor dem Parameter P den Vorzug?

Wir hatten gesehen, dass dieser P-Wert in direktem Zusammenhang mit dem Anstieg der Infektionszahl5 steht. Er beschreibt den "Grad" oder die "Ordnung" mit der die Zeit in ihrem Verlauf in die Infektionszahl eingeht. Der P-Wert umfasst einen Zahlenbereich P ≥ 0, kann den "Grenzwert" P = 1 und Werte P ≫ 1 annehmen. P = 1 bedeutet, die Infektionszahl Y steigt nur noch linear, die Zahl der täglichen Neuinfektionen y bleibt konstant. Es wäre jedoch Zufall, wenn sich tatsächlich ein "längerer" Zeitabschnitt mit P = 1 ergäbe. P = 1 ist eine Scheide, unterhalb derer der Anstieg der Infektionszahl geringer als linear und oberhalb derer der Anstieg der Infektionszahl stärker als linear erfolgt. Letzteres trifft nicht nur für einen exponentiellen Anstieg kurz nach Auftreten der Epidemie zu, sondern auch nach Überschreiten des Maximums der Häufigkeitsverteilung, wenn die Zahl der Neuinfektionen, wie auch der P-Wert selbst, bereits abnehmen. Es gilt also für den P-Wert kurz und präzise:

  • Wenn P > 1, dann ist der Anstieg der Infektionszahl über der Zeit stärker als linear,
  • wenn P = 1, dann ist der Anstieg der Infektionszahl über der Zeit linear,
  • wenn P < 1, dann ist der Anstieg der Infektionszahl über der Zeit geringer als linear, und
  • wenn P = 0, dann bleibt die Infektionszahl konstant.

Es soll hier noch an die Faustregel6 erinnert werden, mit der sich abschätzen lässt, um welche Werte die Infektionszahl erhöht oder vermindert wird, falls der P-Wert um einen Faktor ansteigt oder verringert.

Abschließend wollen wir noch definieren:

Der P-Wert ist eine zeitabhängige Zahl, die mittels formaler elementarmathematischer Analyse aus dem zeitlichen Verlauf der Infektionszahl, der Summenkurve, ermittelt und als Infektionsrate P definiert werden kann.

Der P-Wert gibt in jeder Phase des Infektionsgeschehens eine quantitative Information über den Faktor, mit dem der jeweils aktuelle Anstieg der Infektionszahl vom linearen Anstieg abweicht. Und linearer Anstieg der Infektionszahl bedeutet - sollte der Autor nicht etwas völlig missverstanden haben -, dass ein Infizierter nur eine weitere Person ansteckt.

Wir überlassen es der Leserin oder dem Leser, ob wir die uns gestellte Aufgabe haben lösen können.

An dieser Stelle ist eine Anmerkung geboten: Zuletzt7 hatte ich für P = 1, geschrieben: "die Infektionszahl steigt (nur) linear, die Zahl der täglichen Neuinfektionen bleibt konstant." Das ist korrekt, aber dann: "Diese Eigenschaft hat die Infektionsrate mit der Reproduktionszahl R gemeinsam." Dies erscheint nun eher fragwürdig oder gar falsch. Es ist mir wichtig, dies hier zu vermerken. Vielleicht war ich selbst Opfer der Verwirrung um die Reproduktionszahl R geworden? Aber vielleicht lesen sie weiter?

Bild 1: RKI - Nowcast Daten im zeitlichen Verlauf (Summenkurve und Häufigkeitsverteilung) vom 2. März bis 22. Mai 20; Summenkurve aus Daten der Berliner Morgenpost, wie im Teil 1 verwendet; Zeitachse in Tagen, identisch zu Teil 1 und wie vom RKI angewandt, dort als Krankheitsbeginn definiert.
Bild 2: Zeitlicher Verlauf der Infektionsrate P im Vergleich zum zeitlichen Verlauf des R-Wertes; die im Teil 1 erhaltenen Ergebnisse zum P-Wert wurden ergänzt. Man beachte die Unterschiede der Summenkurven im Bild 1 und die größeren Intervallbreiten für die Auswertung der Daten der Berliner Morgenpost.
Bild 3: Ergebnisse für die Parameter P, Q, F für die Gleichungen (1a), (2a) und (3a): Der Parameter F bildet die Häufigkeitsverteilung ab; der Parameter Q der Exponentialgleichung (2b) verläuft sehr ähnlich zum P-Wert, ohne dessen Eigenschaften zu besitzen.

Welche Bedeutung hat R = 1?

Wir können definieren:

Der R-Wert ist ein epidemiologischer Kennwert, der angibt, wie viele Personen ein Infizierter im Mittel ansteckt. Er wird mit verschiedenen mathematischen Ansätzen berechnet oder abgeschätzt, vergl. z.B. hier und hier. Wir sprechen hier nur vom R-Wert, den das RKI (als "sensiblen" Wert) angibt.

Erstmals fand der R-Wert im täglichen Lagebericht des RKI vom 09.04.20 Erwähnung, im Epidemiologischen Bulletin Nr. 17, 2020, wurden die Methodik des RKI erläutert und der bis dahin vorliegende zeitliche Verlauf des R-Wertes angegeben. Das Bulletin 17, 2020, wurde später ergänzend erläutert.

Laut RKI (übernommen am 29.05.20) soll gelten:

  • Wenn R > 1, dann steigende Anzahl täglicher Neuinfektionen,
  • Wenn R = 1, dann konstante Anzahl täglicher Neuinfektionen
  • Wenn R < 1, dann sinkende Anzahl täglicher Neuinfektionen.

Und mit der Aussage zu R = 1 fängt die Verwirrung an. Konstante Anzahl täglicher Neuinfektionen bedeutet, wie oben bereits angegeben, dass der Anstieg der Infektionszahl Y(x) linear ist, das ist in letzter Zeit nicht mehr so oft zu hören oder zu lesen. Es ist bekannt, dass R am 21. März diesen charakteristischen, manche sagen kritischen Wert, unterschritten hat, wohingegen der P-Wert erst einen Monat später, nach dem 19. April kleiner als Eins wird. Gemäß RKI Berechnungen wird R zu Eins etwa am Scheitelpunkt der Häufigkeitsverteilung. Dies verwirrt zumindest den Autor (und niemanden sonst?).

Auch von Dr. Nill, der sich, wie andere auch, mit der R-Wertproblematik beschäftigt hat, wird angegeben: "Beim Umkehrpunkt der Epidemie (d.h. beim Wechsel von steigenden zu fallenden Werten der Neuinfektionen) wechselt also R vom Bereich R> 1 zum Bereich R < 1. Das Maximum der Kurve entspricht genau R = 1."

Wir halten hier fest: Die beiden Aussagen, "R = 1 bedeute konstante Anzahl an Neuinfektionen" und "das Maximum der Häufigkeitsverteilung entspricht genau R = 1" können nicht gleichzeitig richtig sein. Das Ergebnis der RKI-Berechnungen weist auf R etwa Eins im Maximum der Häufigkeitsverteilung. Im Maximum ändern sich die Zahlenwerte der Neuinfektionen von ansteigend zu fallend. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Übergang eines Anstiegs der aufsummierten Infektionszahl von P > 1 zu P < 1.

Wachstum von Y(x) mit P > 1 kann unmöglich am Modalwert einer rechtsschiefen Verteilungsdichtefunktion zu Wachstum mit P < 1 wechseln. Der Modalwert einer Verteilungsdichte y(x) ist für die Verteilungsfunktion Y(x) kein herausgehobener Punkt, er ist ein möglicher Parameter von mehreren, die für analytisch formulierte Verteilungsfunktionen herangezogen werden (können).

Aus der Aussage "Das Maximum der Kurve entspricht genau R = 1" folgte: Nachdem der R-Wert einmal R = 1 unterschritten hat und im weiteren Verlauf im Wesentlichen unterhalb R = 1 pendelt, deuten einzelne Werte R > 1 lediglich (kleinere) sekundäre Maxima im zeitlichen Verlauf der Häufigkeitsverteilung an. Dies wäre keinerlei Grund, eine Ampel auf Rot zu schalten (und dann heißt es schließlich Fehlalarm).

Was bedeutet R ≈ 0,86?

Nach RKI-Definition bedeutet R < 1 sinkende Anzahl täglicher Neuinfektionen.

Seitdem 21. März pendelt der "Punktschätzer der Reproduktionszahl R" um den Mittelwert von 0,86 bei einer Standardabweichung von 0,07, einem Minimalwert von 0,68 und einem Maximalwert von 1,03.

Dies hat offenbar ausgereicht, um die Zahl der Neuinfektionen von etwa 5000 am 21. März auf etwa 400 am 22. Mai abzusenken (alle Daten aus RKI Nowcast, heruntergeladen am 27. Mai).

Warum hat uns keiner gesagt, was bei einem Mittel von R ≈ 0,86 zu erwarten ist?
Wir wissen dann, dass 100 Infizierte nur noch zu 86 Neuinfektionen führen. Und was bedeutet dies für die Zukunft? Wie schnell oder langsam wird die Zahl der Neuinfektionen abnehmen?

Zwischen dem 21. März und dem 15. April betrug der Mittelwert der R-Wert R = 0,87, mit einem Max-Wert von 1,03 und einem Min-Wert von 0,68 (keine Tippfehler).

Das hat man am 15. April, dem Tag der berühmten Pressekonferenz, wegen der Trödelstatistik nicht gewusst, deshalb bewegten wir uns angeblich auf dünnem Eis, und noch dazu im sonnigen Frühling.

In einer gemeinsamen Studie des ifo Instituts und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI), wurde mit Datenbasis vom 20. April abgeschätzt, wie viele Tage ab dem 20.04.20 vergehen werden, um für verschiedene angenommene R-Werte das Ziel von 300 Neuinfektionen täglich zu erreichen (Bild 4).

Bild 4. Quelle: ifo Schnelldienst digital 6, 2020, vom 13. Mai 2020; jetzt nicht mehr abrufbar

Der Ritterschlag und ein Gedankenexperiment

Am 15. April erklärte die Regierungschefin, die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, während einer Pressekonferenz den Anwesenden und live Zugeschalteten, was das ist: Die Reproduktionszahl R. Dies war der politische Ritterschlag, die Adelung für eine Zahl die dann in aller Munde war. Der Videoclip ging um die Welt: Deutschland steuert wissenschaftlich. Und Herr Lauterbach konnte bei Anne Will verkünden, wie gut seine dreizehnjährige Tochter diese Reproduktionszahl erklären kann; sind nicht alle Eltern stolz auf ihre Kinder?

Möchten Sie sich darauf einlassen, mit mir ein Gedankenexperiment zu machen? Ich gebe zu, bei einem Experiment weiß man oft nicht, was dabei herauskommt. Aber es ist kein gefährliches Experiment, niemand wird zu Schaden kommen, es ist ja nur ein Experiment mit Gedanken, und dass sich solche zu materieller Macht entfalten, setzte voraus, dass die Massen davon ergriffen würden. Das ist nicht zu befürchten. Denn es geht uns hier nicht um die Verbreitung von Mythen. Und - ich verspreche - dass ich Sie dabei nicht manipulieren werde.

Also: Stellen wir uns doch einmal eine "Was wäre, wenn" - Frage:

Angenommen der R-Wert hätte nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt, er wäre nicht geradezu in die öffentliche Kommunikation gedrängt worden, denn es gab weder am 09. noch am 15. April einen Grund, ihn auf den Präsentierteller zu legen, sondern er wäre im Kreis derer verblieben, in den er gehört, in den Kreis der Fachwissenschaftler?

Wenn Sie das einmal annehmen und an die Folgen denken und damit an das, was alles nicht gewesen wäre und hätte sein müssen, zu welchem Ergebnis führt sie das Experiment?

Die heimtückische Krankheit

Covid 19, ausgelöst durch das SARS-CoV-2 Virus, ist keine Viruserkrankung wie andere, obwohl viele Infizierte nur leichte grippeähnliche Symptome spüren; dann gibt es die unbekannte Anzahl derer, die gar nicht merken, wenn SARS 2 sich bei ihnen eingenistet hat; und dann blicken wir auf jene, die so schwer erkranken, dass sie medizinischer Versorgung bedürfen. Einige von ihnen können das Krankenhaus nach zwei, drei Wochen wieder verlassen, manche gesund, manche mit anhaltenden Beschwerden. Damit werden Sie noch mehrere Monate leben müssen, sagte ein Lungenspezialist einem Arzt nach dessen Entlassung aus dem Krankenhaus: Atemnot, Treppen steigen kaum möglich. Ich kenne den Betroffenen. Und dann wissen wir um die Menschen, die an oder mit Covid 19 versterben. Sie verlassen das Krankenhaus als Leichname und gerade lebten sie noch unter uns. Haben sie von den Kühltransportern gehört, in denen Verstorbene in New York "zwischengelagert" werden, weil es nicht möglich ist, so viele Tote in so kurzer Zeit zu beerdigen?

Auch in Deutschland wird die Zahl Verstorbener weiter zunehmen, obwohl der Anstieg der Infektionszahl stark abgenommen hat; die Infektionsrate ist auf P ≈ 0,3 gesunken. Die Welle hat uns nicht so hart getroffen, wie befürchtet, denn wir waren nicht gut vorbereitet. Die Einsicht der Vielen in die Notwendigkeit, der Einsatz der systemrelevanten Beschäftigten (Banker waren nicht darunter), derjenigen, die mehr als nur ihre Arbeit leisteten, und Glück haben uns geholfen.

Wir haben Glück gehabt und einiges gelernt in diesen über 100 Tagen, über uns und unsere Gesellschaft. Milliarden für die Einen, die sich ansonsten jegliche Einmischung des Staates verbitten, ein paar Millionen für die Anderen, und wie immer, denkt man an Kunst und Kultur zuletzt.

Es wird sich nichts ändern! BlackRock hat schon die Objekte ausfindig gemacht, die günstig zu erwerben sind. Eine heimtückische Krankheit.

Es ist aber auch eine interessante Zeit: Noch nie haben so viele Forschergruppen auf der Welt an ein und denselben Fragestellungen gearbeitet, über ein Virus und diese Krankheit Covid 19. Den Autor beschäftigen vor allem zwei Fragen: Welchen Einfluss haben SARS-CoV-2-Mutationen einerseits und Wirtszellen verschiedener Menschen andererseits auf die Ausprägung von Covid-19? Welcher Eigengesetzlichkeit unterliegt eine SARS 2 Epidemie, sofern es eine Eigengesetzlichkeit gibt? Wissenschaft braucht Zeit, solche Fragen können nicht in Wochen oder Monaten beantwortet werden; das braucht Jahre.

Schluss

Der Autor hat sich zumindest um Sachlichkeit bemüht; die vorgestellte Datenanalyse zum Anstieg der Infektionszahl über der Zeit ist für jedermann überprüfbar. Fehler des Autors sind nicht ausgeschlossen; er sieht sich wie Der Mann ohne Eigenschaften: Die Menschen wandeln auf Erden als Weissagungen der Zukunft, und alle ihre Taten sind Versuche und Proben, denn jede Tat kann durch die nächste übertroffen werden (Robert Musil).

Wenn wir diese Phase der Epidemie überstanden haben werden (noch ist es noch nicht so weit, und in vielen Teilen der Erde ist die Pandemie in vollem Gang oder beginnt gerade erst), worauf freuen sie sich ganz besonders? Was haben sie aus Rücksicht auf sich selbst und aus Rücksicht gegenüber anderen, nicht tun können, das was sie sich am meisten wünschen? Haben sie so ein bestimmtes Ziel?

Sympathisch sind mir aber auch jene ohne ein besonderes Ziel. Sie gehen vielleicht wandern, bleiben ab und zu stehen, schauen sich um, und sagen: Schön ist es hier!

Worauf ich mich besonders freue: Eines Tages werde ich ins Auto steigen und gemütlich in zweieinhalb Stunden nach Wien fahren, das Auto in der Tiefgarage des von mir bevorzugten Hotels parken, ein Zimmer beziehen. Am Nachmittag werde ich über den Naschmarkt spazieren, sicher irgendwo einen Espresso nehmen. Und am Abend gehe ich ins Burgtheater, um dort noch einmal DIE BEGLAU als Mephisto zu sehen! Was Andrea Wenzl als Gretchen, Bibiana Beglau als Mephisto und Werner Wölbern als Faust in der Inszenierung von Martin Kušej da auf die Bühne zaubern, das ist außergewöhnlich, das ist Theater auf höchstem Niveau.

Bleiben sie achtsam und gesund!