Der vaterlandslose "Führer"

Vor 75 Jahren erhielt der staatenlose Adolf Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Umstände hierbei waren politisch mehr als bizarr

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Am 22. Februar 1932 proklamierte Joseph Goebbels, damals sogenannter Reichspropagandaleiter der NSDAP, seinen Parteivorsitzenden Adolf Hitler zum Kandidaten für die im März stattfindenden Präsidentschaftswahlen in Deutschland. Allerdings: Zu diesem Zeitpunkt war der spätere „Führer“ noch kein Deutscher, sein Eintritt in die Staatsbürgerschaft erfolgte erst einige Tage später.

Die Art und Weise, wie das geschah, umfasst einerseits Elemente einer Polit-Posse. Sie zeigt aber auch, wie die Nationalsozialisten und ihre Hilfstruppen bereits vor der „Machtergreifung“ 1933 bei Bedarf Recht und Gesetz beugten und bogen.

Bis Februar 1932 war Hitler staatenlos. Er hatte am 7. April 1925 um die Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft ersucht. Als Gründe gab er an:

Ich befinde mich seit dem Jahre 1912 in Deutschland, habe nahezu 6 Jahre im deutschen Heere gedient, darunter 4½ Jahre an der Front und beabsichtige nunmehr die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben. ... Da ich zurzeit nicht weiß, ob meine österreichische Staatsangehörigkeit nicht ohnehin bereits erloschen ist, ein Betreten des österreichischen Bodens durch eine Verfügung der Bundesregierung jedoch abgelehnt wurde, bitte ich um eine günstige Entscheidung meines Gesuches.

Die Entlassung wurde ihm am 30. April 1925 gewährt – gegen eine Gebühr von 7,50 Schilling. Bereits im Oktober 1924 hatte Hitler aus seiner Zelle in Landsberg öffentlich erklären lassen:

Ich empfinde den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht als schmerzlich, da ich mich nie als österreichischer Staatsbürger, sondern immer nur als Deutscher gefühlt habe.

Der Verzicht auf die österreichische Staatsangehörigkeit war also eine logische Konsequenz, die sich aus Hitlers Einstellung gegenüber dem ungeliebten Heimatland ergab. Schon 1909 hatte er sich nach Kräften bemüht, dem Militärdienst in der k.u.k. Armee zu entgehen. Damals wurde sein Jahrgang 1889 öffentlich aufgerufen, sich in das Register für die Einberufungen im Frühjahr 1910 eintragen zu lassen. In der Liste von Hitlers damaliger Heimatgemeinde Linz war bis 1913 dreimal eingetragen: „Ungerechtfertigt abwesend, weil der Aufenthalt nicht erforscht werden konnte.“ Der Wehrpflichtige Hitler hielt sich zu dieser Zeit, immerhin ordnungsgemäß polizeilich gemeldet, in Wien auf.

Zwar saß der künftige „Führer“ damals in der Hauptstadt des verachteten Vielvölkerstaates gewissermaßen bereits auf gepackten Koffern, um sein Land in Richtung Deutsches Reich zu verlassen. Aber noch konnte er nicht fahren. Denn er wartete auf die Auszahlung des väterlichen Erbteils, das ihm erst nach Vollendung seines 24. Lebensjahres, also nach dem 20. April 1913, zustand.

Schon ein gutes Jahr später meldete er sich bei Kriegsausbruch als Freiwilliger bei der deutschen Armee und diente im 16. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment. In „Mein Kampf“ begründete er diesen Schritt:

Ich wollte nicht für den habsburgischen Staat fechten, war aber bereit, für mein Volk und das dieses verkörpernde Reich zu sterben.

Bis zum Ersten Weltkrieg war Hitlers Einstellung zu „seinem“ Volk und Staat die Haltung eines idealistischen Sonderlings. Dies sollte sich im Verlaufe der folgenden Jahre ändern. So erwies sich sein Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft 1932 als hervorragend inszenierter Amtsmissbrauch durch braune Parteigenossen in öffentlichen Positionen. Hitlers Ziel war damals die Kandidatur für das höchste politische Amt im Staate. Sein Problem: Nur ein Deutscher konnte Reichspräsident werden.

Hitler wollte mit seiner Bewerbung an den Erfolg der Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl im Krisenjahr 1930 anknüpfen. Damals war die NSDAP mit mehr als 18 Prozent der Wählerstimmen zweitstärkste Partei nach der SPD (24,5 Prozent) geworden und mit 107 Abgeordneten in das deutsche Parlament eingezogen.

Die NSDAP-Spitze erwies sich als findig im Aufspüren von Gesetzeslücken. Zum Brückenkopf für Hitlers „Karriere als Deutscher“ bot sich der Freistaat Braunschweig an, damals ein „Bundesland“ in der Weimarer Republik. Hier bildeten die Nazis seit 1930 zusammen mit der Bürgerlichen Einheitsliste aus extrem konservativen Parteien eine Koalition. Bereits vor 1933 wurden „politisch unzuverlässige“, das heißt sozialdemokratisch gesinnte Mitarbeiter in Verwaltung, Polizei und Bildungswesen entlassen.

Hitler wurde in Braunschweig dank der Deutschen Volkspartei zum Regierungsrat ernannt

Dietrich Klagges, Innen- und Volksbildungsminister des Freistaates sowie bewährter NS-Parteigenosse, erhielt denn auch den Auftrag, Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft zu verschaffen. Der Minister, ein ehemaliger Lehrer, schlug Anfang Februar 1932 vor, Hitler eine außerordentliche Professur für „Organische Gesellschaftslehre und Politik“ an der Technischen Hochschule in Braunschweig zu verschaffen – ein bemerkenswertes Angebot für einen Vorbestraften ohne Schulabschluss. Der bisherige Inhaber des Lehrstuhl, August Riekel, war aus politischen Gründen entlassen worden. Der Vorstoß von Klagges stieß indes sowohl im Landtag als auch in der Presse auf heftige Kritik.

Dies hielt den Minister nicht davon ab, die Berufung des ehemaligen Postkartenmalers zum Professor offiziell und mit Nachdruck zu betreiben. Er erklärte, dass Hitler die geeignete Persönlichkeit sei, um das heranwachsende Geschlecht über die „künftige Schicksalsgestaltung unseres Volkes zu unterrichten“. Die von ihm angeforderten Rechtsgutachten bestätigten, dass mit der Verleihung des Staatsamts eines planmäßigen außerordentlichen Professors die braunschweigische Staatsangehörigkeit erworben werde.

Aber noch hielten die parlamentarischen Sicherungen. Die Bürgerliche Einheitsliste im Landtag sprach sich gegen die Verleihung der Professur aus. Auch der Vorschlag von Werner Küchenthal, leitender Staatsminister und Einheitslisten-Führer, Hitler eine kommissarische Bürgermeisterstelle in der Gemeinde Stadtoldendorf zu übertragen, scheiterte. Die Koalition zwischen Konservativen und Nazis drohte zu platzen.

Die in der Einheitsliste vertretene Deutsche Volkspartei, die Angst vor Neuwahlen hatte, machte schließlich einen Kompromissvorschlag. Hitler wurde eine Stelle als Regierungsrat beim Braunschweiger Landeskultur- und Vermessungsamt angeboten; gleichzeitig wurde er beauftragt, die Geschäfte eines Sachbearbeiters bei der Braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin wahrzunehmen.

Am 25. Februar 1932 sprach die braunschweigische Landesregierung die Ernennung Hitlers zum Regierungsrat aus, einen Tag später legte der frischgebackene Beamte den Eid auf die Reichs- und Landesverfassung ab. Dadurch erhielt der acht Jahre vorher wegen Hochverrat zu fünf Jahren Haft Verurteilte gleichzeitig die braunschweigische und damit deutsche Staatsangehörigkeit. Ein entscheidender Schritt in seiner mörderischen Karriere war getan.

Offenbar in einem Akt vorbeugenden schlechten Gewissens teilte Innenminister Klagges seinen konservativen Koalitionspartnern bereits am 24. Februar mit, dass „Herrn Hitler selbst der Gedanke, sich zum Schein zum Beamten ernennen zu lassen, völlig fernliegt“. Hitler lege größten Wert darauf, „den geplanten Wirkungsbereich tatsächlich auszufüllen“.

Die Versicherungen des Ministers und Parteigenossen nutzten wenig. Selbstverständlich dachte der neue Staatsdiener keineswegs daran, seinen beruflichen Pflichten in der Braunschweigischen Vertretung in Berlin nachzukommen. An seinem Schreibtisch wurde er nie gesehen. Bereits im Oktober 1932 beantragte Hitler unbefristeten Urlaub, da ihm „die fortlaufenden politischen Kämpfe“ in der nächsten Zeit die Erfüllung seines Dienstauftrags nicht ermöglichten. Und fast zeitgleich mit seiner Berufung zum Reichskanzler im Januar 1933 ersuchte Hitler um Entlassung aus dem braunschweigischen Staatsdienst. Dies wurde ihm „mit sofortiger Wirkung“ gewährt.

Den eigentlichen Zweck der neuen Staatsbürgerschaft, nämlich die Wahl zum Reichspräsidenten, hatte Hitler 1932 nicht erreicht. Er verlor gegen den Amtsinhaber Paul von Hindenburg. Aber nicht für lange.

Denn der greise Generalfeldmarschall machte schon ein Jahr später den verachteten „böhmischen Gefreiten“ zum Reichskanzler - Zuflüsterungen aus seiner persönlichen, dienstlichen und politischen Umgebung hatten dafür gesorgt. Nach Hindenburgs Tod 1934 übernahm Hitler dessen Amt gleich mit und nannte sich „Führer“. Die Katastrophe nahm ihren Lauf.