Deutscher Film: Warum Frauen und Arbeiterkinder selten hinter der Kamera stehen

Herkunft und Beziehungen sind nicht weniger entscheidend als Talent und Ideen. Bild: tommyvideo auf Pixabay / Public Domain

Filmförderung wirkt als Transformationsbremse, Nachwuchs kommt vor allem aus der oberen Mittelschicht. Die "Schule des Lebens" bringt weniger Punkte als altbewährte Kontakte

"Warum ist der deutsche Film so scheiße?", hat Jan Böhmermann kurz vor seiner Sommerpause gefragt und geantwortet: Das liegt an der deutschen Filmförderung. Eine neue Studie mit 95 Interviews zur Entstehung von Kinospielfilmen in Deutschland erweitert die Kritik an den Strukturen der Branche, differenziert aber auch Böhmermanns Pauschalurteil.

Die nationale Kinospielfilmproduktion tut sich schwer, auf die großen Herausforderungen der Gegenwart - Krise der Demokratie, Klimawandel, Geschlechterungerechtigkeit, Demografie, Migration, Digitalisierung, Arbeit im Spätkapitalismus und viele mehr - progressiv zu reagieren. Zwar ist das Potenzial fiktionaler Filme groß: Sie unterliegen einem geringeren Faktizitätsanspruch als etwa journalistische Produkte und können aufgrund ihrer imaginativen Kraft, ihres Involvements und affektiven Potenzials beim Publikum für Orientierung sorgen, die Integration fördern, der Herausbildung einer kollektiven Identität dienen und zur Erinnerungskultur beitragen sowie Antworten auf die drängendsten Fragen der Zeit geben. Doch ist der deutsche Film alles andere als ein Motor von Emanzipation oder grundlegender gesellschaftlicher Transformation. Woran liegt das?

Kulturelle Praxis und Wirtschaftszweig

Bekannt ist, dass Kinospielfilme in einem arbeitsteiligen Komplex mit einer Vielzahl von Akteur:innen mit unterschiedlichen Zielhorizonten (beispielsweise Drehbuchautor:innen und Regisseur:innen an der kreativen Spitze gegenüber den für das Projektmanagement verantwortliche Produktionsunternehmen) entstehen und insofern sowohl eine kulturelle Praxis als auch ein Wirtschaftszweig sind. Von der Forschung weniger berücksichtigt wurde bislang jedoch, dass die Kinospielfilmproduktion in Deutschland auch expliziter Gegenstand politischen Handelns ist.

Dafür steht im Besonderen die öffentliche Filmförderarchitektur auf Bundes- und Länderebene, die jährlich fast eine halbe Milliarde Euro in die nationale Filmbranche steckt. Hinzu kommt, dass die große Mehrheit deutscher Kinospielfilme von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten - Institutionen, die neben gesellschaftlichen auch politischen Einflüssen unterliegen - koproduziert wird, was ebenso die Unabhängigkeit der Filmschaffenden wie auch die Staatsferne des Mediums insgesamt infrage stellt.

Demzufolge steht zur Vermutung, dass im heimischen Filmschaffen gesellschaftliche Hierarchien zum Ausdruck kommen und hier ferner eine Auseinandersetzung um legitime - mehrheitlich anerkannte - Wirklichkeitskonstruktionen stattfindet, sodass in letzter Konsequenz anstelle gesellschaftlicher Transformationsprozesse ohnehin schon dominante Deutungsangebote und Sinnmuster im Diskurs weiter befeuert werden.

Um die Mechanismen und Konventionen zu ermitteln, die das deutsche Filmschaffen in Anbetracht des politischen Gestaltungswillens prägen, wurden 95 Vertreter:innen aller für die Entstehung deutscher Kinospielfilme relevanten Betätigungsfelder und Gewerke interviewt: Drehbuch, Regie, Produktion, Verleih, Kinoabspiel, Filmfestivals, Filmförderung und öffentlich-rechtliches Fernsehen. Um deren Aussagen besser einschätzen zu können, wurden mehrere Dutzend Dokumente in die Analyse einbezogen, darunter Marktdaten und Statistiken, Stellungnahmen von Branchenverbänden, offene Briefe, Thesenpapiere, Protokolle von Diskussionsveranstaltungen und journalistische Artikel.

Kein Film ohne Förderung

Die Mehrheit der deutschen Kinospielfilmproduktionen sind Autor:innenfilme, bei denen Drehbuchautor:innen und Regisseur:innen nicht selten auch an der Produktionsplanung und der Postproduktion teilhaben. Dazu gesellen sich gleichwohl meist schon während der Buchentwicklung Produzent:innen, die fortan bis zur Fertigstellung eines Films auch bei kreativen Entscheidungen mitsprechen und insofern, wenn auch in geringerem Maße, ebenso als Kommunikator:innen zu betrachten sind. Dennoch ist die Macht dieser letztgenannten Akteur:innen in Deutschland begrenzt.

Es gibt kaum ein echtes Studiosystem und an den 157 deutschen Spielfilmen, die 2019 Kinopremiere hatten, waren knapp 200 Produktionsfirmen beteiligt (vgl. Spitzenorganisation der Filmwirtschaft 2020). Zu den Akteurskonstellationen im Produktionsprozess deutscher Kinospielfilme zählen ferner rund 120 Verleihfirmen, die im günstigsten Fall schon in der Entwicklungsphase eine Distributionszusage abgeben, sowie über 1.600 Kinos als traditionell wichtigster kommerzieller Auswerter, wenngleich diese an vorderster Stelle von den gegenwärtigen Umbrüchen der Branche (Stichwort: Home Entertainment) betroffen sind.

Zu nennen sind schließlich auch bedeutende deutsche Filmfestivals wie die Internationalen Filmfestspiele Berlin, auch bekannt als Berlinale, das Filmfest München, die Hofer Filmtage oder der Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken, die längst eine zentrale Rolle für die Distribution und Zirkulation insbesondere von Arthouse-Filmen spielen, zumal sie für öffentliche Aufmerksamkeit sorgen und bisweilen weitere Einnahmequellen erschließen, zumindest wenn für die Film-Programmierung eine Bezahlung ("screening fees") erfolgt.

Nur etwa jedes fünfte Projekt wird gefördert

Nichtsdestotrotz: Nur ein Viertel der durchschnittlichen Produktionskosten eines deutschen Kinospielfilms, die etwa drei bis vier Millionen Euro betragen, ist durch Eigenmittel, Rückstellungen und idealerweise Verleihgarantie und Weltvertrieb gedeckt. Rund die Hälfte des Budgets stammt aus den Töpfen der öffentlichen Filmfördereinrichtungen (darunter Filmförderungsanstalt, Deutscher Filmförderfonds, FilmFernsehFonds Bayern, Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen und Medienboard Berlin-Brandenburg), die 2019 ein Gesamtfördervolumen in Höhe 455,92 Millionen Euro auswiesen (vgl. Filmförderungsanstalt 2020b).

Natürlich: Ohne diese umfassende Unterstützung kann der deutsche Film in seiner gegenwärtigen Form - gerade mit Blick auf sein hohes Produktionsaufkommen - nicht überleben. Allerdings fungiert die Filmförderung auch als Gatekeeper, denn nur etwa jedes fünfte Filmprojekt erhält Förderung und kann realisiert werden: "Die Förderzusage für deinen Film bedeutet ganz klar das Ende eines anderen Filmprojekts", kommentierte ein befragter Produzent. Dabei sind Verrenkungen in der Produktionsplanung und "Fördertourismus" (ein geförderter Film erhält meist nicht nur von einer Einrichtung Zuschüsse) auch im besten Fall einzukalkulieren, wie die interviewten Produzent:innen einstimmig erklärten.

Für noch verbleibende Lücken im Budget (rund 25 Prozent) wird schließlich schon frühzeitig der Verkauf der TV-Lizenz angestrebt - in der Regel an öffentlich-rechtliche Fernsehsender, die im Gegenzug weitreichende Rechte in Sachen Koproduktion erwerben. Auch hier findet ein strikter Selektionsprozess statt. Den entsprechenden Senderredaktionen (für den Nachwuchs zum Beispiel "Das kleine Fernsehspiel" im ZDF) kommt also ebenfalls eine gewichtige Rolle hinter der filmischen Wirklichkeitskonstruktion zu.