Deutscher Film: Warum Frauen und Arbeiterkinder selten hinter der Kamera stehen
Seite 4: Ständige Zugeständnisse an Verleiher:innen und Redakteur:innen
- Deutscher Film: Warum Frauen und Arbeiterkinder selten hinter der Kamera stehen
- Herkunft der Filmemacher:innen: Obere Mittelschicht
- Fördergremien: Immer "konservativer, ängstlicher und kulturspießiger"
- Ständige Zugeständnisse an Verleiher:innen und Redakteur:innen
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Das Wissen um die Ziele und Ressourcen der anderen Akteur:innen macht sich darüber hinaus in einer gehörigen Portion Pragmatismus bemerkbar. Neben dem oftmaligen "Kuhhandel" um Szenen (ein Drehbuchautor) zwischen den Kommunikator:innen selbst bedeutet das beispielsweise, dass nach dem Verleiher:innen-Feedback, ohne mit der Wimper zu zucken, "kooperativ" (Drehbuchautorin und Regisseurin) neue Buch- oder Schnittfassungen erstellt werden. Ebenso sind von der Stoffentwicklung bis zur Postproduktion Zugeständnisse an die Vorstellungen der beteiligten Fernsehredakteur:innen an der Tagesordnung.
"Mein Film", so erinnerte sich eine Autorenfilmemacherin an ihr Kinodebüt, "wurde durch den WDR-Redakteur sehr stark in Richtung Realismus gedrängt". Dass die Filmförderung auf die tatsächliche Produktion kaum noch Einfluss nimmt, ändert nicht viel, denn die Erwartungshaltung dieses Akteurs wurde von den Kommunikator:innen schon längst antizipiert. Man sei "beim Schreiben und Entwickeln in den Gesetzmäßigkeiten der Branche gefangen", offenbarte ein Drehbuchautor, der mittlerweile auch als Produzent tätig ist.
Man wisse, "was man tun kann, um Geld zu bekommen", und erfülle so Erwartungen, "ohne dass diese überhaupt bewusst formuliert sein müssen". Mehr noch: Dass selbst etablierte Filmemacher:innen und Produzent:innen wiederholt von Konflikten berichteten und ihre Kompromissfähigkeit schließlich als Tugend deklarierten, unterstreicht, wie begrenzt die Autonomie der Kommunikator:innen im deutschen Filmschaffen ist. "Es gibt viele Sachen, die ich gerne erzählen würde. Aber die will keiner hören", gestand eine Drehbuchautorin und ist damit keine Ausnahme.
Stattdessen vollzieht sich die Aussagenentstehung deutscher Kinospielfilme fast ausschließlich unter strenger Einhaltung folgender Kriterien: die Grenze zwischen Arthouse und Mainstream wahren, keine Genre-Experimente wagen, sondern lieber beispielsweise auf Culture-Clash- und Family-Entertainment-Formate oder historische Stoffe (am besten Biografien) setzen, sowie Themenfilme "geschmackvoll" und "ernst" umsetzen. Dass dabei die Systemfrage gestellt wird, ist auch angesichts der Herkunft und Sozialisation der meisten Kommunikator:innen alles andere als wahrscheinlich.
Fazit: Strukturreform des Filmfördersystems nötig
Erkennbar ist, dass sich das heimische Filmschaffen keineswegs nur im Spannungsfeld zwischen Kunst, Wirtschaftlichkeit und Publikumswünschen bewegt. Vielmehr weist die Kinospielfilmproduktion in Deutschland auch eine politische Dimension auf und zeichnet sich durch klare Hierarchien aus, was sich in den filmischen Deutungsangeboten und Sinnmustern niederschlägt und schlussendlich die bestehenden Machtverhältnisse in der Gesellschaft weiter verfestigen dürfte.
Denn als Kommunikator:innen nehmen vor allem Drehbuchautor:innen und Regisseur:innen zwar eine Schlüsselposition für die Wirklichkeitskonstruktion von Kinospielfilmen ein, doch übernehmen den Gegenpart im Kampf zwischen Kreativen und Geldgebern keineswegs nur Produktionsunternehmen, Verleihfirmen und Kinoauswerter:innen, sondern mindestens ebenso die Filmförderung und das öffentlich-rechtliche Fernsehen als wichtigster Finanzier oder Koproduktionspartner.
Die Folge: Kinospielfilme können in Deutschland erst realisiert werden und ein Publikum finden, wenn die Filmförderung von der Lukrativität oder Relevanz des Vorhabens überzeugt ist und der Stoff zum Profil der öffentlich-rechtlichen Sender passt. Mehr noch: Neben der Elitisierung der Branche (und etwa auch der Zementierung von Geschlechterungerechtigkeiten) sowie der Herausbildung einer klaren Berufsideologie aufseiten der Kommunikator:innen versuchen insbesondere die Filmemacher:innen, an Bestehendes anzudocken.
Der wesentliche Grund hierfür ist die Konstellation mit weiteren Akteur:innen im Filmproduktionsprozess, die über Risikomanagement, Gewinnmaximierung und Zielgruppenorientierung nachdenken, vor allem jedoch Vorbehalte gegenüber provokanten Stoffen haben, auf Publikumserfolge hoffen und sich mit Auszeichnungen schmücken möchten sowie eine standort- und kulturpolitische Agenda verfolgen. Während "gefördert wird, was Deutschland braucht", so formulierte es Regisseur Dominik Graf bereits 2012 in der Zeit (Graf 2012), gelingt es mit dem Filmförderkomplex offenbar nicht, Diversität und Pluralität zu verwirklichen.
Ohne eine strukturelle Reform des Filmfördersystems, wie sie im Übrigen auch von einigen Brancheninitiativen propagiert wird (neben den genannten Frankfurter Positionen beispielsweise auch von Pro Quote Film und vom Hauptverband Cinephilie), lassen sich die imaginative Kraft und das emanzipatorische Potenzial von Spielfilmen allenfalls bedingt ausschöpfen. Dass von der nationalen Kinospielfilmproduktion Impulse bezogen auf die großen Herausforderungen der Gesellschaft ausgehen oder gar Transformationsprozesse aktiv vorangetrieben werden, ist demzufolge nicht zu erwarten.
Dieser Text ist eine für Telepolis abgeänderte Version des von Thomas Wiedemann geschriebenen Beitrags in: Nils S. Borchers, Selma Güney, Uwe Krüger, Kerem Schamberger (Hrsg.): Transformation der Medien - Medien der Transformation: Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft, Westend Verlag 2021