Deutscher Film: Warum Frauen und Arbeiterkinder selten hinter der Kamera stehen

Seite 2: Herkunft der Filmemacher:innen: Obere Mittelschicht

Ein Blick auf die Herkunft und Sozialisation der Kommunikator:innen zeigt, dass Drehbuchautor:innen, Regisseur:innen und Produzent:innen in Deutschland unabhängig von ihrem Alter fast ausnahmslos der oberen Mittelschicht entstammen und einen Familienhintergrund aufweisen, in der die Entscheidung für eine Tätigkeit in der Filmbranche ideell und finanziell Unterstützung erfährt. "Meine Eltern haben mich nicht unter Druck gesetzt, etwas Handfestes zu lernen", resümierte stellvertretend ein Regisseur und berichtete von den "Finanzspritzen", die er bis zu seinem 30. Lebensjahr von zu Hause bekam.

Außerdem absolvierten die meisten befragten Kommunikator:innen ein Studium an der Filmhochschule, einer oft staatlichen und stark zugangsbeschränkten Ausbildungsstätte, dies es hierzulande nur an wenigen Standorten gibt, was die Elitisierung unter den Kommunikator:innen weiter verstärkt (vgl. Wiedemann 2019).

Dort sammelt der Nachwuchs das nötige Startkapital für den Berufseintritt (insbesondere Social Skills, also Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft und die Wertschätzung von Teamarbeit, sowie Kontakte - zu Kommiliton:innen, noch wichtiger aber zu Förderreferent:innen und TV-Redakteur:innen, die zu Pitch-Terminen regelmäßig geladen werden), wird aber zugleich auch mit den Gesetzmäßigkeiten des Filmemachens hierzulande, vor allem den herrschenden Interaktionsroutinen, vertraut gemacht und so zu konformem Verhalten angeleitet. Ein Arthouse-Filmemacher fasste es so zusammen: "Wir werden ausschließlich auf diesen kleinen Markt hin ausgebildet."

Schlechte Karten für Außenseiter und Frauen

Die Ressourcen, die für eine Teilhabe an der filmischen Wirklichkeitskonstruktion in Deutschland erforderlich sind, verweisen einmal mehr auf das hohe Gewicht, das der Filmförderung und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in den Akteurskonstellationen im Produktionsprozess deutscher Kinospielfilme zukommt. Deutlich zutage trat in den Interviews, dass die Kommunikator:innen für einen dauerhaften Verbleib in der Branche neben künstlerischem und technischem Know-how, Organisationstalent und finanzieller Absicherung mindestens ebenso Beziehungen und eine "Visitenkarte" (ein Film mit Publikumserfolg, eine Auszeichnung) vorweisen müssen - die Währung schlechthin, um für den nächsten Film Fördermittel und Sendergelder zugesprochen zu bekommen.

Ohne Zweifel ist die Zementierung von Diversitätsgrenzen auch dadurch programmiert. So treffen sozial Benachteiligte, nicht zu Kompromissen bereite Außenseiter, Einzelgänger:innen und allgemein Frauen (vgl. Loist & Prommer 2019), die allesamt aufgrund ihrer Herkunft und ihres Lebensweges vermutlich eher in der Lage sein dürften, den herrschenden Diskurs infrage zu stellen und Räume für alternative Wirklichkeitskonstruktionen zu öffnen, auf deutlich größere Hindernisse, dauerhaft an der Aussagenentstehung in der Kinospielfilm-Szene mitzuwirken.

"Wir setzen auf Bewährtes"

Die erzählerischen und ästhetischen Visionen der Drehbuchautor:innen und Regisseur:innen werden notgedrungen mit dem Gebot der wirtschaftlichen Rentabilität konfrontiert. Dies bezieht sich auf Produzent:innen, die sich zwar als kreative Kompliz:innen verstehen, aber dennoch Risikoabwägungen treffen müssen. Entsprechend werden ihnen von den interviewten Regisseur:innen und Autor:innen oft Mutlosigkeit und Vorbehalte gegenüber provokanten Stoffen attestiert. Ähnliches trifft zu für Verleihfirmen, die unabhängig von ihrer Größe und Ausrichtung auf Gewinnmaximierung und Zielgruppenorientierung aus sind und umso mehr Mitsprache einfordern, je eher sie in ein Projekt eingebunden sind.

"Wenn ich mit der Besetzung oder mit dem Film-Ende nicht einverstanden bin", berichtete etwa selbstbewusst der Chef eines Independent-Verleihs, "dann gebe ich meiner kommerziellen Perspektive unmissverständlich Ausdruck". Verleihfirmen und Kinos scheuen Experimente: "Wir sterben für Filmkunst. Aber am Ende des Tages müssen wir unsere Löhne bezahlen", erklärte der Betriebsleiter zweier Programmkinos in Frankfurt am Main, und die Betreiberin eines Münchner Kinos im Premiumsegment sagte: "Wir setzen auf Bewährtes. Egal ob es immer von denselben vier, fünf Leuten kommt."

Natürlich spielt Rentabilität auch bei den Erwartungen der wichtigsten beiden Finanziers deutscher Kinospielfilme eine Rolle. Der Filmförderung und dem Fernsehen geht es aber nicht nur darum. Die Spielfilmredaktionen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verweisen einerseits auf den im Rundfunkstaatsvertrag festgeschriebenen Kulturauftrag, betonen andererseits aber auch ihre Zuschauerorientierung und verknüpfen diese mit dem Anspruch auf Aktualität. "Unser Ziel", so erklärte die Redakteurin einer Landesrundfunkanstalt der ARD, "ist ein Archiv der Gegenwart. Die von uns koproduzierten Filme sollen repräsentieren, was die deutsche Bevölkerung gerade bewegt: Flüchtlingskrise, Europa, aber auch Umwelt, Coming-of-Age, Cybermobbing."

Ist ein Koproduktionsvertrag unterzeichnet, haben die verantwortlichen Redakteur:innen weitreichende Entscheidungsbefugnisse bei der Buch-Entwicklung und dem Cast, aber auch in Sachen Kamera und Postproduktion, wenngleich sie beteuern, vorrangig beratend tätig zu sein. Dennoch beurteilten die meisten interviewten Drehbuchautor:innen, Regisseur:innen und Produzent:innen ihre Zusammenarbeit mit den Sendern rückblickend als problematisch und monierten die verbreitete Angst, an Tabus zu rütteln oder von den gesellschaftlich relevanten Gruppen, welche die Sender in den Aufsichtsgremien kontrollieren, zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die zunehmende Konvergenz von Kino- und Fernsehfilmen (vgl. Mikos 2011) zugunsten der Fernsehlogik, für die Alt-Filmemacher Edgar Reitz in einem Thesenpapier anlässlich des Kongresses "Zukunft deutscher Film" zu Perspektiven der deutschen Kino- und Filmkultur 2018 in Frankfurt am Main deutliche Worte fand: Da sich "halbstaatliche Superproduzenten" in alle Geschmacksentscheidungen einmischten, erkenne man den "camouflierten Fernsehfilm […] sofort an seiner thematischen Überspanntheit und der Instrumentalisierung der Handlungsfiguren" (Reitz 2018).