Deutschland geht es gut, weil es Armut gibt
Alle Jahre wieder - der Armutsbericht des "Paritätischen"
Alle Jahre wieder kurz vor Weihnachten erscheint der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. War es vor Jahren noch umstritten, ob Armut in Deutschland überhaupt ein nennenswertes Problem darstellt, geht der Befund inzwischen als Selbstverständlichkeit durch und die Meldung über Armutslagen in Deutschland in der Vorweihnachtszeit fast unter angesichts der vielen Meldungen über Not und Elend in der Welt, die die Menschen regelmäßig zum Spenden veranlassen sollen.
Spenden ändern zwar nichts, verschaffen aber ein gutes Gefühl, sind also ein passendes Angebot zum christlichen Fest des Friedens und der Liebe, bei dem nicht nur der Einzelhandel, sondern auch mildtätige Organisationen die Zahlungsfähigkeit der Menschen für sich beanspruchen.
Armut ist relativ
Bei der Behandlung des Themas ist der traditionsreiche Wohlfahrtsverband - neben Caritas und Diakonie eine der wichtigen Säulen des Sozialstaats, der in Deutschland, interessanter Weise, vorrangig auf zivilgesellschaftliches Engagement zurückgreift - um betonte Sachlichkeit bemüht. Er stellt zunächst die Grundlage seines Berichts vor und erläutert den Armutsbegriff, auf den er sich stützt. Dabei bezieht er sich auf die Definition, wie sie durch die EU zur Kennzeichnung von Armutsgefährdung bei 60% vom mittleren Einkommen festgelegt wurde.
Der Paritätische betont aber, dass er die Unterscheidung zwischen Armut und Armutsgefährdung nicht mitmachen will, und weist auch auf die Problematik des offiziell gültigen relativen Armutsbegriffes hin. Hier gibt es methodische Probleme, wie sie immer wieder bei der Erhebung von sozialen Daten auftauchen. Es ist aber nicht das Anliegen des Paritätischen, das weiter auszuführen. Dabei hat gerade die Relativität des Armutsbegriffs politische Brisanz. Sie wird nämlich in der Öffentlichkeit gerne aufgegriffen, um die Ergebnisse zu relativieren.
Dass Armut relativ ist, ist in der Tat nicht zu bestreiten. Ein Bedürfnis nach einer Sache oder einer Leistung kann der Mensch schließlich nur dann entwickeln, wenn es den entsprechenden Gegenstand gibt, den man gerne haben oder in Anspruch nehmen würde. Das ist trivial: Solange es kein Smartphone gab, konnte man auch kein Bedürfnis danach entwickeln oder das Gerät bzw. seine Leistungen vermissen. Also gestaltet sich Armut in einer Gesellschaft, in der es - entgegen der Meinung vieler Volkswirtschaftler, die von einem Knappheitsdogma ausgehen - alles in Überfluss gibt, anders als in Gesellschaften, in denen kaum das Nötige hergestellt wird und die Menschen folglich am Hungertuch nagen.
Armut ist der Ausschluss von Dingen oder Dienstleistungen, die es in der Gesellschaft gibt
Hierzulande gibt es alles - zudem einen ganzen Wirtschaftszweig, die Werbebranche, die darauf gerichtet ist, Bedürfnisse beim Kunden zu wecken, und zwar nicht, weil ihr dessen Wohlfahrt am Herzen läge. Vielmehr geht es darum, die Zahlungsfähigkeit der Kundschaft in die Taschen der jeweiligen Auftraggeber zu lenken, die auf dem Markt darum kämpfen, ihre Konkurrenten auszustechen. Bedürfnisbefriedigung entscheidet sich eben nicht an dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Gutes, sondern an der Zahlungsfähigkeit der Konsumenten. Und so gibt es vieles, was der Mensch gerne hätte, sich aber verkneifen muss, weil er es nicht bezahlen kann.
Über Armut entscheidet also in einer Marktwirtschaft nicht das Verhältnis von Bedürfnissen zu der Masse an Gütern, die es gibt, sie definiert sich über die Zahlungs(un)fähigkeit der Kundschaft - und da ist die Wissenschaft wie die Politik kleinlich, auch wenn es zu methodischen Problemen bei Nachzählen kommt. Wer weniger als 60% des mittleren Einkommens im Lande verdient oder zur Verfügung hat, gilt nicht als arm, sondern nur als möglicherweise arm, als "armutsgefährdet". Arm ist der Mensch nach der offiziellen Definition erst dann, wenn er bloß über 40% des mittleren Einkommens verfügt. Armut kommt somit in der Statistik kaum vor - ein erster Ertrag der entsprechend gewählten Parameter.
Beim mittleren Einkommen mag sich mancher vorstellen, es ginge um das durchschnittliche Einkommen. Doch die Statistiker kennen unterschiedliche Mittelwerte. Bei der Grenzziehung für die Armutsgefährdung beziehen sich Wissenschaft wie Politik nicht auf den Durchschnitt, sondern auf den Median, d.h. die Grenze, unterhalb derer sich 50% der Einkommensschwächsten befinden. Die oberen 50% und deren Einkommen fallen bei dieser Betrachtung also gleich heraus. Armutsgefährdet sind nur die, die 60% des Einkommens der unteren Hälfte der Einkommensbezieher erhalten. Würde man den Durchschnittswert aller Einkommen nehmen, wäre die Bezugsgröße höher zu veranschlagen, da dieser Wert eben auch die oberen Einkommensbezieher und die Spitzenverdiener einbeziehen würde, was in der Folge das Ausmaß der Armut vergrößern würde.
Die Unterscheidung zwischen "arm" und "armutsgefährdet" ist zudem eine politische Angelegenheit. Ihr offizieller Charakter macht deutlich, dass die Rechnereien und Erhebungen zwar im wissenschaftlichen Gewand daherkommen, aber nicht die Wissenschaft über die Kriterien entscheidet, sondern die Politik - hier in Form der EU -, und dass die Wissenschaft ihr lediglich das Zahlenmaterial und die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten vorgibt.
Als Ergebnis kann der Paritätische jedenfalls verkünden, dass die Armut in Deutschland im letzten Jahr geringfügig (0,3%) abgenommen hat, im Zehnjahresvergleich jedoch allgemein zugenommen. Damit gelangt der Armutsbericht zu dem Fazit, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung von der Armutsbekämpfung "abgekoppelt" habe. Er geht also davon aus, dass das Wirtschaftswachstum eigentlich allen zugutekommen müsse. Dabei belegen die Zahlen gerade, dass der zehnjährige Wirtschaftsaufschwung mehr Armut und nicht weniger hervorgebracht hat. Und damit ist der Sache nach die landläufige Behauptung, den Bürgern gehe es gut, wenn es der Wirtschaft gut geht, widerlegt.
Daher müsste der Schluss eigentlich heißen: Deutschland geht es gut, nicht obwohl es Armut gibt, sondern weil es Armut gibt. Doch so will der Paritätische die Angelegenheit nicht sehen. Obgleich er feststellt, dass die Zunahme der Armut im ganzen Land mit dem von der Politik eingerichteten Niedriglohnsektor und mit den Hartz-Gesetzen zusammenhängt, möchte er die Aufgabe der Politik in etwas ganz anderem sehen, nämlich in der Armutsbekämpfung - bei der die Zuständigen allerdings versagt haben sollen. Und so sucht der Verband nach Möglichkeiten, der Politik Hinweise zu geben, wo sie besser ansetzen könnte, damit ihr die unterstellte Aufgabe der Armutsbekämpfung gelingt. Dazu braucht es als erstes Differenzierungen.
Armut erfordert Differenzierung
Das vermitteln die einschlägigen Sozialstatistiken - ob jetzt staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Provenienz - überhaupt: Man kann es sich bei der Betrachtung von Armut nicht leicht machen, sondern muss differenzieren. Denn, so der Bericht des Paritätischen, in Bayern und Baden-Württemberg gibt es weniger Arme und dort boomt die Wirtschaft besonders, womit die Behauptung gerettet sein soll, dass nichts so wichtig für die Bürger ist wie der Wirtschaftserfolg, also das gelingende Wachstum privater Geschäfte, von deren Gewinn alles abhängig gemacht ist. Die Schlussfolgerung hat nur einen Schönheitsfehler. Die Ergebnisse zeigen nämlich auch, dass sich in den genannten Ländern die Armut in den letzten zehn Jahren stark erhöht hat. Und so muss der Bericht dann alle Bundesländer durchdeklinieren, um in einigen festzustellen, dass die Armut enorm abgenommen hat - z.B. im Osten - und dennoch hoch ist, während sie in anderen nicht so hoch, dafür aber gewachsen ist.
Neben den Regionen widmet sich die Untersuchung einzelnen Risikogruppen. So gelten als besonders armutsgefährdet: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Unqualifizierte, Flüchtlinge, Rentner, Familien mit Kindern usw. Damit ist einmal mehr unterstrichen, dass das Armutsproblem nicht aus den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen resultiert, in denen Menschen nur dann einen Unterhalt verdienen können, wenn sich ihre Anwendung für ein Unternehmen lohnt, das die Kosten für Lohn und Gehalt natürlich als Beschränkung des Gewinns behandelt. Ihre Nichtanwendung für die Gewinnerzielung von Unternehmen soll vielmehr die Quelle der Übel sein und den Schaden der betreffenden Personen verursachen, der also nicht aufs Konto von Arbeitgebern und deren negativem Urteil geht, sondern der Eigenschaft der jeweiligen Personen geschuldet ist.
Sie taugen nicht mehr für die Arbeitswelt, wenn sie - aus welchen Gründen auch immer - zulange pausiert haben, oder sie sind im Betrieb nicht flexibel genug einsetzbar, wenn sie etwa auf ihre Kinder aufpassen müssen. Wer in Schule und Ausbildung nicht nachgewiesen hat, dass er sich in der Konkurrenz um Leistung zu behaupten vermag und über entsprechende Qualifikationen verfügt, ist der ideale Kandidat für den Niedriglohnsektor, wenn er überhaupt, auch bei Arbeitskräftemangel, eingestellt wird. Flüchtlinge können kein Deutsch, treten also gleich mit einem Manko auf den Arbeitsmarkt. Wer mehr als ein Kind hat, bei dem reicht der Lohn nicht für den Unterhalt der Familie, und die Alten haben eben in ihrem Leben nicht genügend vorgesorgt. So gibt es eine Vielzahl von Menschen, über die der Arbeitsmarkt das Urteil "unbrauchbar" gesprochen hat, und die in der Armutsforschung als besondere Problemgruppen auftauchen.
Dass die persönlichen Probleme dieser Menschen für die soziale Lage verantwortlich sind, will der Paritätische aber nicht einfach so stehen lassen. Er tritt Vorurteilen entgegen und für die Ehrenrettung der Betroffenen ein. Zwar haben die aufgezählten Gruppen ein erhöhtes Risiko, arm zu werden, die Mehrzahl von ihnen ist aber, das hält der Bericht fest, in Arbeit und verdient sich ihren Unterhalt oder gehört nicht zu den Armen dieser Gesellschaft.
Gutgemeinte Vorschläge zur Abhilfe
Als Wohlfahrtsverband will der Paritätische nicht nur kritisieren, sondern auch positive Vorschläge machen, sein Bericht dient nicht akademischen Zwecken, soll vielmehr die Armutsbekämpfung voranbringen. Wenn z.B. die Altersarmut zunimmt, dann liegt in seinen Augen die Rentenpolitik im Argen, dann hält er entschieden daran fest, dass es Aufgabe der Politik sei, dem zu begegnen. Dabei irritiert ihn keineswegs, dass die Politik die zunehmende Armut der Alten mit den verschiedenen Änderungen der Rentenformel im Wesentlichen selber bestimmt hat.
Dasselbe bei den Armutslöhnen: Obgleich fast alle Parteien, von CDU/CSU, FDP, SPD bis zu den Grünen, in ihrer Regierungszeit Entscheidendes dafür getan haben, dass es in Deutschland einen wachsenden Niedriglohnsektor gibt und der Druck auf die Löhne durch die Hartz-Gesetze aufrechterhalten bleibt, glaubt der Paritätische weiterhin an das Gute in den Parteien: Eigentlich müssten sie durch stärkere Tarifbindung, höheren Mindestlohn und eine höhere Grundsicherung der Armut besser entgegentreten, die sie doch selber hergestellt haben.
Und so ist die Wunschliste lang, die der Paritätische der Politik zu Weihnachten unterbreitet, und man kann ihm nicht vorhalten, dass er beim Elend im Lande wegschaut und an dessen Beseitigung desinteressiert ist. Seine Vorschläge sind durchaus auch als Kritik an der praktischen Politik gemeint. Was man ihm jedoch bescheinigen kann, ist seine Gutgläubigkeit, wenn es um die Politik und deren Ziele geht. So lässt er sich nicht durch deren Praxis erschüttern und hält strikt daran fest, dass sie die Aufgabe der Armutsbekämpfung habe. Dabei sind die Politiker, wie sie selber als erste kundtun, nicht der Weihnachtsmann oder das Christkind.
Das vorweihnachtliche Medienecho
Obgleich keine Sensation, hat es der Armutsbericht bis auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft. "Bild am Sonntag" kann auch gleich die Armut im Lande mit Einzelschicksalen unterlegen: alles anständige Menschen, die schildern, wie sie mit der Armut zurechtkommen. Da wird der LKW-Fahrer vorgestellt, der mit seinem Lohn seine Familie nicht unterhalten kann, die Alleinerziehende, die zur Tafel gehen muss, die Rentnerin, die ihre Söhne großgezogen hat und nun die Altersarmut kennen lernt usw. Diese Einzelschicksale sollen nicht etwa das Elend der Betroffenen, sondern die tiefe Spaltung des Landes dokumentieren: Der Wirtschaftsaufschwung hat nicht allen Wohlstand beschert, was er eigentlich müsste, wie auch die BamS glauben machen will. Dass das Wachstum der Wirtschaft dennoch für Wohlstand sorgen soll, wird damit unterstrichen, dass die Spaltung des Landes eigentlich eine zwischen Bayern und Baden-Württemberg auf der einen und Bremen, NRW und Hessen auf der anderen Seite sei.
Auch weiß die Sonntagszeitung um die Relativität von Armut und verweist auf den indischen Fabrikarbeiter, für den deutsche Arme eigentlich reiche Menschen seien. Das Ganze lässt sie auch noch durch einen Psychologen untermauern, der die Weisheit zu vermelden weiß, dass "jede Wahrnehmung relativ ist". Und ausgewogen, wie die Zeitung ist, darf sich noch ein Herr Gröhe von der CDU melden, der behauptet, dass die Einkommen, Löhne und Renten in den vergangenen Jahren stark gestiegen seien, und zwar in allen Regionen Deutschlands.
Dass diese angeblich so stark gestiegenen Löhne nicht zur Zahlung der Mieten in den Städten reichen, weiß "Bild am Sonntag" ebenfalls zu vermelden, will damit aber den CDU-Politiker nicht blamiert haben. Der Arbeits- und Sozialminister erhält in dem Blatt denn auch reichlich Gelegenheit, seine Anstrengungen in Sachen Armutsbekämpfung herauszustellen. Dazu gehöre etwa die geplante Grundrente als Maßnahme gegen Altersarmut. Oder der SPD-Mann stellt denjenigen, die in der Mitte der Gesellschaft wegen der Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze Angst vor Armut haben, einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Ausbildung, auch mit 40 oder 50 Jahren, in Aussicht. Eine wahrlich beruhigende Perspektive!
Die WAZ, die sich gerne als Sprachrohr der Metropole Ruhr begreift, sieht sich besonders herausgefordert angesichts dessen, dass das Ruhrgebiet in dem Bericht wieder einmal als das Armenhaus der Nation in Erscheinung tritt. Deshalb betont das Blatt gleich, dass es mehrere Armutsbegriffe gibt, die Zahlen also mit Vorsicht zu genießen seien. Doch auch der gängige Armutsbegriff mit seinem Vergleich von Armen mit Armen ist Journalisten noch zu problematisch: Sie bemängeln, dass bei der Zählung der Armen auch Studenten und Auszubildende einbezogen werden, die ja im eigentlichen Sinne nicht arm seien, auch wenn sie wenig Geld zur Verfügung hätten, sondern später einmal mehr verdienen könnten, so dass die Aussicht auf spätere bessere Zeiten die aktuelle Armut eigentlich in den Hintergrund rücken müsste.
Bei allen Spezialproblemen steht auch hier eins fest: Die Wirtschaft und ihr Erfolg können nicht für die Armut im Lande verantwortlich sein, sie kann nur von zu wenig Wachstum kommen. Unter dem Zuwenig leide ganz besonders das Ruhrgebiet, das in der Hitliste der Armutsregionen weit oben zu finden ist. So mündet die Erinnerung an die notwendige Armutsbekämpfung in den Vorschlag der Entschuldung der Kommunen, damit diese mehr Wirtschaftsförderung betreiben und in der Konkurrenz als Wirtschaftsstandorte Pluspunkte machen können, indem sie z.B. Unternehmen Kosten bei der Ansiedlung abnehmen. Da kommt es eben auch darauf an, dass man dem Kapital besondere Bedingungen zu bieten vermag, was Kosten für Werksgelände, Erschließung und Verkehrsanschlüsse betrifft. In der Hinsicht können die Ruhrgebietsstädte schon einiges aufweisen, so die Ansiedlung neuer Logistikunternehmen, die übrigens eine Vielzahl von Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor geschaffen haben!
Hoffnungsvoll gibt sich die Kommentatorin der "Süddeutschen Zeitung", die auch mit Einzelschicksalen aufwarten kann, aber gleich die geringfügige Abnahme von Armut im letzten Jahr als Erfolg würdigt. Sie kann positive Effekte wie Erhöhung des Bafögs und des Wohngelds und die wirtschaftliche Entwicklung in Bayern und Baden-Württemberg entdecken. Und da macht es auch gar nichts, dass das Bafög nicht die Lebenshaltungskosten von Studierenden deckt, die erste Anpassung erstmals nach sieben Jahren erfolgt ist, das Wohngeld kaum die gestiegenen Mieten ausgleicht und die genannten Länder mit die größten Zuwächse bei der Armut in den letzten zehn Jahren aufweisen. Die SZ-Autorin will im Wirtschaftswachstum dieser Länder die Lösung auch für die anderen gefunden haben. So empfiehlt sie, wie der Paritätische, die Entlastung der Kommunen und Wirtschaftsförderung, damit die Armen nicht das Gefühl bekommen, dass sich niemand um sie kümmert. Denn um nichts sorgt sich eine deutsche Journalistin mehr als um die Gefahr, dass durch soziale Notlagen die Falschen in der Republik ans Ruder kommen könnten.
Von allen Medien wird die Verantwortung der Politik angemahnt. Nicht in dem Sinne, dass sie mit ihrer Wirtschaftspolitik mitverantwortlich für die wachsende Armut im Lande ist, sondern in ihrer Rolle als Armutsbekämpferin. Als solche soll sie versagt haben. Der Beweis ist leicht zu haben, brauchen Journalisten doch nur auf die hohe Zahl an Armen zu verweisen; damit ist dann schon klargestellt, dass es in dieser Republik eigentlich keine Armen geben dürfte, auch wenn es sie immer gibt. Und so kann man genauso die hohen Mieten als Politikversagen besprechen wie die Höhe des Mindestlohns - ganz so, als ob der Wohnungsmarkt nicht das Ergebnis der Politik der letzten Jahre wäre, eben einer Politik der Förderung privater Wohnungsbauunternehmen. Und ganz so, als ob die Politik die Mindestlohnhöhe nicht daran orientiere, dass das Wirtschaftswachstum keine Beeinträchtigung erfährt, sondern befördert wird. Denn das ist ja Konsens in der Mindestlohnkommission, inklusive der dort sitzenden Gewerkschaft: dass das Wirtschaftswachstum und der Gewinn die Voraussetzung dafür sind, dass es überhaupt Arbeit und damit etwas zu verdienen gibt.
Besonders kritisch wird die öffentliche Debatte, wenn es um die Armut von Kindern geht. Zwar leben sie immer im Haushalt armer Eltern, aber die Erwachsenen scheinen irgendwie an ihrem Elend selber schuld zu sein, wenn die Armut der Kinder besonders hervorgehoben wird. Beim Nachwuchs soll nun offenbar gelten, dass er ganz unverschuldet ins Elend geraten und dringend Abhilfe nötig ist. Dafür benötigt er jedoch nicht einfach mehr Geld, vielleicht auch das, sondern vor allem eine Chance, um durch eigene Leistung der Armut zu entkommen. Was für die Kinder gefordert wird, ist daher Chancengleichheit bei der Bildung. Eine feine Forderung!
Bekanntlich macht die Schule keine Unterschiede bei der Beurteilung der Schüler im Blick auf ihre Herkunft. Sie setzt vielmehr alle Schüler einem Leistungsvergleich aus, bei dem die Kinder aus armen Verhältnissen dann meist auf der Strecke bleiben - ganz objektiv und sachlich, ohne dass hier eine soziale Diskriminierung vorgenommen würde. Durch ein Mehr an Förderung - von wem auch immer geleistet - sollen nun die Chancen armer Kinder verbessert werden, damit sie nicht sofort zu den Verlierern gehören (dafür andere in diese Rolle versetzen) und den Glauben an ihre Chance auf ein besseres Leben verlieren.
Wenn Armut so differenziert betrachtet worden ist und auch der Politik die passenden Ratschläge in Sachen Wirtschaftsförderung und Bildungspolitik ein weiteres Mal ans Herz gelegt worden sind, kann man sich getrost wieder dem Alltagsgeschehen zuwenden - bis zur nächsten Weihnachtszeit, wo sicher wieder ein neuer Armutsbericht die Menschen aufrütteln wird...
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