Deutschland - überrollt, überfremdet, überfordert?!?

Seite 5: Die Periode der EU-Osterweiterung, Finanzkrise sowie des Syrienkriegs 2001-2015

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In die Periode der folgenden 15 Jahre von 2001 bis 2015 fallen eine Reihe schwerwiegender politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ereignisse. Gleich zu Beginn in 2001 setzte mit dem Ende des IT-Booms (dot.com-Blase) eine Rezession ein. Es folgte noch im selben Jahr der aus Anlass der Terroranschläge vom 11. September ausgelöste Krieg in Afghanistan (2001), gefolgt zwei Jahre später von dem im Irak (2003). Auch der Aufstand der Albaner in Mazedonien (2001) fällt in diese Anfangszeit.

Die EU, deren Erweiterung bis dahin über 45 Jahre hinweg in größeren Abständen und jeweils geringdosiert von sechs (1958), neun (1973), zwölf (1981) auf 15 (1995) Mitglieder vonstattengegangen war, nahm zu Beginn des Jahres 2004 auf einen Schlag weitere zehn Mitglieder auf (EU-25: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern). Bereits drei Jahre später traten die beiden Staaten Rumänien und Bulgarien (2007) der EU bei. 2013 folgte dann Kroatien als 28ter Mitgliedsstaat.

Noch im Sommer des Jahres 2007 begann als Teil der Weltwirtschaftskrise die Banken- und Staatsschuldenkrise. In den USA und Europa (z.B. Spanien) entstand zunächst eine Immobilienkrise als Folge eines spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkts mit der Folge hoher Verluste und Insolvenzen von Finanzunternehmen (z. B. Lehman Brothers, Sept. 2008). Die Finanzkrise veranlasste mehrere Staaten, die Existenz großer Finanzdienstleister (in Deutschland unter anderem die Commerzbank, West LB, Hypo Real Estate etc.) durch Kapitalerhöhungen enormer Größe durch vor allem staatliches Fremdkapital zu sichern. Einige Banken wurden verstaatlicht und später geschlossen. Die ohnehin hohe Staatsverschuldung vieler Staaten stieg krisenbedingt stark an.

2011 brachen im Zuge des Arabischen Frühlings unter Beteiligung internationaler Mächte sowohl Bürgerkriege in Syrien als auch in Libyen aus und dauern bis heute an. Zudem gerieten Teile des Irak und Syriens in kriegerischen Konflikt mit dem sog. Islamischen Staat, der dort seit Juni 2014 ein "Kalifat" aufzubauen versuchte.

Wanderungen 2001-2009

Wegen der grundsätzlichen Kehrtwende des Zuwanderungsgeschehens ab 2010 wird im Folgenden zunächst die Zeit bis 2009 betrachtet. Trotz der neuen kriegerischen Konflikte war in den ersten neun Jahren keine Erhöhung der Zuwanderungszahlen von Schutzsuchenden festzustellen. Ganz im Gegenteil setzte sich die abnehmende Zahl Schutzsuchender aus der Vorperiode fort - mit 88.000 in 2001 bis hin zu 28.000 in 2009 (Abb. 4: grün). Im Gegensatz zu den 173.000 p. a. in der Vorperiode kamen 2001-09 im Jahresdurchschnitt lediglich 40.000 Schutzsuchende nach Deutschland. Insgesamt zogen in diesen neun Jahren nur rd. 360.000 Schutzsuchende nach Deutschland. Zum Vergleich: in den neun Jahren zuvor (1992-2000) waren es immerhin 1,5 Mio..

Die Zuwanderung aus Drittstaaten ohne Schutzantrag erreichte aufgrund der Rezession 2001 (dot.com-Krise) und der Finanzkrise ab 2007 ff auch in den neun Jahren von 2001-2009 nur ein Saldo von plus rd. 550.000 Personen. Die jährlichen Zuwanderungssalden gingen von 103.000 in 2001 auf -4.000 in 2009 zurück (Abb.4: rot). Im Jahresdurchschnitt kamen lediglich 61.000 Migranten aus Drittstaaten ohne Schutzantrag nach Deutschland.

Abbildung 4

EU-Binnenmigration: Ebenso verliefen in diesen neun Jahren die Zuwanderungssalden aus der EU-Binnenmigration mit Ausnahme 2007 durchweg im Minusbereich (Abb. 4: blau). In den neun Jahre zusammen genommen erreichte die Zuwanderung einen Saldo von minus 106.000, und das, obwohl 2004 zehn und 2007 nochmals zwei neue EU-Mitglieder hinzugekommen waren. Dabei konnten die neuen Mitglieder bereits ab 2004 aufgrund der Dienstleistungsfreiheit Arbeitnehmer von dortigen Unternehmen in Deutschland zum Einsatz bringen (Entsendung von Arbeitnehmern durch Einsatz von (Sub-)Unternehmen insbesondere im Bau-, Schlachter-, Reinigungs- und Transportgewerbe sowie in der Landwirtschaft). Auch galt seitdem die Niederlassungsfreiheit, wodurch sich die Zahl z. B. der hier arbeitenden selbständigen polnischen Handwerker erhöhte.

Für diese Staaten galt ab 2007 dann zusätzlich die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, wodurch sich Arbeitnehmer aus diesen Staaten auch auf direktem Weg Arbeit in Deutschland suchen konnten. Gerade die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird der Grund dafür gewesen sein, dass - im Gegensatz zum allgemeinen Trend dieser Jahre - speziell im Jahr 2007 ein positiver Zuwanderungssaldo von rd. 54.000 eingestellt hat. Doch bedingt durch die 2007/8 ausgebrochene Finanz- und Weltwirtschaftskrise sank er bereits schon im Folgejahr auf minus 15.000 (siehe Abb. 4: blau).

Die hier dargestellten (bis auf 2007) niedrigen Zuwanderungssalden im Rahmen der EU-Binnenmigration lassen allerdings außer Betracht, dass eine große Zahl von Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern nur saisonal im Jahr einer Arbeit in Deutschland nachgeht, z. B. in der Landwirtschaft als Erntehelfer. Deren Zu- und Fortzug aus Deutschland innerhalb eines Jahres ist dann "systembedingt".

Der jährliche Wanderungssaldo in diesen Jahren bringt diese temporären/saisonalen Arbeitsmigrationen nicht zum Ausdruck, denn ein hoher unterjähriger Zuzug wird durch einen entsprechend hohen unterjährigen Fortzug im Saldo neutralisiert. Daher muss man bei der Frage, inwieweit Deutschland ein Einwanderungsland ist, zusätzlich auf die jährlichen Zu- und Fortzüge schauen. Von 2001 bis 2006 zogen insoweit im Durchschnitt immerhin 132.000 Personen pro Jahr aus der EU nach Deutschland, 157.000 zogen wieder fort (durchschnittlicher Saldo -25.000).

Mit der EU-Erweiterung bzw. der ab 2007 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit schnellten die durchschnittlichen jährlichen Zuzugszahlen dann aber bereits von 2007-2009 um das Dreifache, nämlich auf 400.000 Personen in die Höhe. Ebenso verstärkte sich die Dynamik bei den jährlichen Fortzügen auf durchschnittlich 385.000 (Abb. 5). Also hohe Wanderungsdynamik bei kleinem Saldo!

Abbildung 5

Somit kann festgehalten werden, dass die im Zuge der EU-Erweiterung einsetzende Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht sofort zu einer saldierten Erhöhung der Zahl ausländischer EU-Bürger geführt hat, die hier einen dauerhafteren Aufenthalt suchten. Allerdings ist eine deutliche Steigerung der unterjährigen Zu- und Abwanderungsbewegungen aus Anlass nur temporärer Arbeitsaufnahmen festzustellen. Eine wachsende Zahl von ausländischen EU-Bürgern hält sich somit im Jahresverlauf nur vorübergehend in Deutschland auf. Gleichwohl hat dies Auswirkungen auf die Wahrnehmung der insoweit temporären Bevölkerungszusammensetzung.

Wanderungen 2010-2015

Mit dem Jahr 2010 setzte dann in allen drei Kategorien wieder ein langsamer Anstieg der Zuwanderungssalden ein. Im Bereich der Zuwanderung aus Drittstaaten ohne Schutzantrag stiegen die jährlichen Wanderungssalden zunächst moderat an, erzielten dann aber parallel zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 ebenfalls einen Spitzenwert von 382.000 (siehe Abb. 4: rot). Der Jahresdurchschnitt der Wanderungssalden aus Drittstaaten ohne Schutzantrag lag bei 107.000 und damit deutlich über den ersten neun Jahre dieser Periode (2001-2009: 61.000) und der zwölf Jahre der vorigen Periode 1989-2000 (37.000).

Die Effekte der EU-Erweiterung samt Arbeitnehmerfreizügigkeit etc., die auch als eine Globalisierung in Klein verstanden werden kann, verstärkten sich mit zunehmender wirtschaftlicher Erholung in Deutschland. Sie machten sich sowohl mit sehr starken Erhöhungen in den Wanderungssalden als auch in der Dynamik der Zu- und Fortzugsbewegungen bemerkbar. Von einem mageren Plus von 3.700 noch in 2009 sprang der Saldo dann in 2010 gleich auf rd. 93.000 und dann direkt weiter auf 210.000 in 2011 und so weiter bis auf 332.000 in 2015 (siehe Abb. 4: blau). Betrachtet man separat die jahresdurchschnittlichen Zuzüge von 2010-2015, so stiegen sie im Vergleich zu den ersten Jahren der Arbeitnehmerfreizügigkeit (2007-2009: 400.000) um 180% auf 720.000 (2015 Spitzenwert von rd. 912.000 Zuzügen; Abb. 5). Die Fortzüge stiegen zwar auch im Jahresdurchschnitt, allerdings nur um 120% auf 469.000. Damit erklärt sich der deutliche Anstieg der positiven Salden. Allein in den sechs Jahren 2010-15 erfolgte eine saldierte Gesamtzuwanderung von rd. 1,5 Mio. ausländischen Personen aus der EU-Region.

Die Zuwanderung von Personen aus Drittstaaten mit Schutzantrag, die in den Jahren von 2001 bis 2009 mit einem jahresdurchschnittlichem Saldo von plus 40.000 recht moderat ausgefallen war (Periode 1989-2000: 173.000), steigerte sich auch von 2010 bis 2014 zunächst nur mäßig: 41.000 in 2010, 110.000 in 2013 und 173.000 in 2014 (Abb. 4: grün). Wie allseits bekannt, löste dann 2015 die von Bundeskanzlerin Merkel angeordnete Grenzöffnung und die über Medien international verbreitete deutsche Willkommenskultur einen bis dahin unbekannten Zustrom von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsländern aus, aber auch von (Arbeits-)Migranten aus anderen Ländern als "Mitläufer".

Nach wie vor ungeklärt ist allerdings, ob Kanzlerin Merkel dabei neben humanitären Erwägungen auch arbeitsmarktpolitische Aspekte im Auge hatte und damit von Anfang an das moralisch Gute mit dem ökonomisch Nützlichen verbinden wollte. Denn das Thema Demografie und den damit zusammenhängenden (möglichen?) künftigen Arbeitskräftemangel hatte sie bereits seit Längerem zur Chefsache erklärt. So erklärte sie bereits im August 2013:

Deutschland hat sich in den letzten Jahren daran gemacht, eine Willkommenskultur zu entwickeln. … Sie sehen, es ist viel in Bewegung geraten und die Zahl der nach Deutschland kommenden Fachkräfte zeigt uns, dass auch in ihren Herkunftsländern bemerkt wird, welche Chancen sich bei uns bieten.

Und in den Anfangszeiten der Flüchtlingsbewegung 2014/15 herrschte noch die irrige Vorstellung von weit überwiegend gut qualifizierten Flüchtlingen insbesondere aus Syrien. Diese nicht allein humanitäre sondern auch wirtschaftspolitische Interpretation der Ereignisse und Entscheidungen wird dadurch gestützt, dass Merkel auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im September 2015 direkt nach der Grenzöffnung durch den Daimler Vorsitzenden Zetsche Rückendeckung bekam, der erklärte:

Im besten Fall kann es auch eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden - so wie die Millionen von Gastarbeitern in den fünfziger und sechziger Jahren ganz wesentlich zum Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen haben. …Genau solche Menschen [!] suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land. ..Ich könnte mir vorstellen, dass wir in den Aufnahmezentren die Flüchtlinge über Möglichkeiten und Voraussetzungen informieren, in Deutschland oder bei Daimler Arbeit zu finden.

Innerhalb des Jahres 2015 zog dann die exorbitante Zahl von rd. 941.000 ausländischen Personen mit Schutzantrag nach Deutschland. Dieser Wert berücksichtigt die in 2015 rd. 442.000 gestellten Erstanträge auf Schutz sowie die rd. 499.000 Flüchtlinge, die zwar 2015 eingewandert waren, aber erst 2016 registriert wurden bzw. ihren Schutzantrag stellen konnten (vgl. Destatis, Ausländische Bevölkerung 2016, dort Methodische Einführung und Tabelle 14a). Ein Jahr später, 2016, kamen im Umkehrschluss dann insgesamt nur noch rd. 224.000 Flüchtlinge über die deutsche Grenze. Der singuläre Jahreswert von 941.000 Schutzsuchenden in 2015 übersteigt selbst die in den Jahrzehnten zuvor höchste Zuwanderung von rd. 440.000 im Jahr 1992 um mehr als das Doppelte.

Insgesamt betrachtet sind in den sechs Jahren von 2010 bis 2015 rd. 1,4 Mio. Schutzsuchende nach Deutschland gezogen. Das sind so viele wie in den 17 Jahren zuvor (1993-2009).

Das Zuwanderungsjahr 2015 ist somit geprägt durch das Zusammentreffen einer intensivierten EU-Binnenmigration und zugleich hohen Zuwanderung aus Drittstaaten ohne Schutzantrag mit einer extrem hohen Flüchtlingszuwanderung. Aus der saldierten Zuwanderung von rd. 332.000 EU-Binnenmigranten, 382.000 Zugewanderten ohne Schutzantrag aus Drittstaaten und den 941.000 zugewanderten Schutzsuchenden resultiert eine bislang - innerhalb eines Jahres - nicht dagewesene hohe Zahl von 1,66 Mio. neu zugewanderten Ausländern.

Dabei lässt sich die eigentliche in 2015 erfolgte Dramatik der Situation aus dieser saldierten Zuwanderungszahl nicht in Gänze erschließen. Denn, wie bereits oben dargestellt, gibt die Netto-Zuwanderung nur den Saldo von Zuzug und Fortzug wieder. Der tatsächliche Zuzug von Migranten aus dem Ausland lag 2015 bei rd. 2.515.000 Menschen. Davon entfielen aus Drittstaaten ohne Schutzantrag 663.000 Zugewanderte und damit ebenfalls der höchste bis dahin erreichte Wert in dieser Kategorie. (Die zweithöchste Zuzugszahl in dieser Kategorie, nämlich von 600.000, entstand ebenfalls parallel zum zweitgrößten Flüchtlingsjahr 1992!). Die Zahl der Zugezogenen aus der EU-28 lag noch um ein Drittel höher, d. h. insgesamt bei 912.000. Die Zahl der zugezogenen Migranten mit Schutzantrag lag mit 941.000 nur unwesentlich höher.

Allein diese nahezu gleich hohe extreme Zuzugszahl aus der EU ist in der politischen und medialen Aufbereitung unbeachtet geblieben. Bei den somit insgesamt rd. 2,5 Mio. Zugezogenen ergab sich nur durch den im gleichen Jahr erfolgten Fortzug von rd. 860.000 Ausländern der Saldo von 1,66 Mio. Zugewanderten. Rd. 580.000 (65%) der im selben Jahr wieder Fortgezogenen rekrutierten sich aus der EU-28. Aus den 2,51 Mio. Zuzügen und 0,86 Mio. Fortzügen resultierten im Jahr 2015 insgesamt Wanderungsbewegungen in der beeindruckenden Größenordnung von rd. 3,4 Mio..

Die Relevanz der Schutzzuwanderung

Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die tatsächlichen reinen Zuzugszahlen (Brutto-Zuwanderung, also nicht saldiert) sowohl von Personen aus dem Gebiet der EU als auch aus Drittstaaten mit und ohne Schutzantrag in dem Sinne: Wieviel Personen kommen im Jahr über die Grenze nach Deutschland?

Die folgende Abbildung 6 führt vor Augen, dass sogar in der besonders zuwanderungsintensiven Zeit 2007-2015 der Zuzug aus der EU-28 mit Ausnahme des singulären Flüchtlingszuzugs in 2015 die absolut größere Zuzugsbewegung repräsentiert. Und selbst 2015 waren die Zuzüge aus beiden Bereichen nahezu gleich hoch. Im Zeitraum 2007-15 machen die 1,4 Mio. Zuzüge aus Schutzgründen an den gesamten 9,2 Mio. Zuzugsbewegungen lediglich 16% aus.

Abbildung 6

In den in diesem Beitrag dargestellten vier Perioden schwankt der Anteil der Schutzzuzüge an den gesamten Zuzügen zwischen 1% (1953-1973) und 22% (1989-2000). Wählt man die insgesamt 63 Jahre des Gesamtzeitraums von 1953-2015, so erfolgten rd. 4,6 Mio. Zuzüge von Schutzsuchenden, das macht bei total 38,9 Mio. Zuzügen einen Anteil von 12%. Auch dies ist ein Aspekt, der der aktuellen Zuwanderungsdebatte einen anderen bzw. erweiterten Rahmen geben sollte.

Tabelle 1: Anteil Schutzzuzüge an Gesamtzuzügen
Periode Anteil
1953 - 1973 1%
1974 - 1988 11%
1989 - 2000 22%
2001 - 2015 13%