Deutschtürken: "Seit der Flüchtlingskrise sind die Debatten krasser geworden"

Poster zum Deutschlandbesuch von "Ministerpräsident Erdogan" aus dem Jahr 2011. Bild: pfatter / CC BY 2.0

Die Journalistin Hülya Özkan über den schwierigen deutsch-türkischen Dialog und Erdogans Einfluss auf die Deutschtürken. Ein Interview

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Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei bleibt schwierig. Auch die Deutschtürken geraten immer wieder in den Mittelpunkt politischer und medialer Debatten, sei es beim Thema Doppelpass oder wenn es um Auftritte türkischer Politiker in Deutschland geht.

Längst nicht nur rechte Parteien nutzen das um sich mit markigen Sprüchen zu profilieren. Die Journalistin Hülya Özkan hält das für kontraproduktiv und sagt stattdessen, dass man den Menschen zuhören und den Dialog suchen sollte. Ihr Buch "In Erdogans Visier" analysiert sie auch die Gründe für den Einfluss, den der türkische Präsident hierzulande ausübt.

"Von Augenhöhe kann keine Rede sein"

Bei ihrem jüngsten Treffen sprachen der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel und sein türkischer Amtskollege Mevlut Cavusoglu von Dialog und Annäherung. Zugleich sitzen deutsche Bürger in türkischer Haft, die regierungsnahe Presse bezeichnet die deutsche Regierung als "Nazi-Koalition"? Wie soll unter diesen Umständen ein Dialog "auf Augenhöhe" möglich sein?

Hülya Özkan: Ich denke, dass von Augenhöhe keine Rede sein kann. Dieses Treffen ist sicher seitens der Türkei aus der Not heraus entstanden. Die Achillessehne der Türkei ist die Wirtschaft. Der wirtschaftliche Druck und die Verschärfung der Reisehinweise haben der Türkei sehr geschadet. Deswegen wollte man das diplomatisch angehen.

Aber selbst wenn Deniz Yücel freigelassen wird, ändert das die Situation in der Türkei in keiner Weise. Außerdem wissen wir nur wenig über die Themen, die besprochen wurden. Sind Menschenrechte und Meinungsfreiheit angesprochen worden, gab es ein Tauschgeschäft? All das wissen wir nicht.

Stichwort Reisehinweise: Reisen Sie noch in die Türkei?

Hülya Özkan: Ich werde es erstmal nicht tun. Wir sehen ja, wie unberechenbar diese Regierung ist, dass sehr schnell Menschen mit fingierten Anschuldigungen hinter Gitter kommen können. Das möchte ich mir und meiner Familie natürlich nicht antun.

Der türkische Geheimdienst MIT unterhält in Deutschland Berichten zufolge ein großes Spitzelnetz, Erdogan-Gegner werden offen bedroht, auf den Erdogan-kritischen Fußballer Deniz Naki wurde geschossen, ein HDP-Abgeordneter warnte vor Killerkommandos, die in Deutschland auf AKP-Gegner angesetzt seien...

Hülya Özkan: Ob das im Detail alles stimmt kann ich nicht verifizieren, aber es ist Erdogan zuzutrauen. Nach dem Putschversuch haben wir gesehen, wie Andersdenkende bedroht und denunziert wurden.

"Es gibt ein Vakuum in Deutschland"

Müsste die Bundesregierung hier energischer reagieren?

Hülya Özkan: Die Bundesregierung sollte dagegen hart vorgehen. Und Deutschland sollte klar trennen zwischen dem autokratischen Regime und den Deutschtürken hierzulande. Außenpolitisch meine ich, dass man die Türkei nicht isolieren und den Dialog fortführen sollte.

Zugleich sollte in den Bereichen, in denen es möglich ist, Druck ausgeübt werden. Ansonsten würden wir die vielen Mutigen in der Türkei, die nicht hinter Erdogan stehen, im Stich lassen.

Eine Mehrheit der Wahlberechtigten Türken in Deutschland stimmte beim Verfassungsreferendum für Erdogan. Sie sind unter den in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln aber eine kleine Minderheit. Wie hoch ist Ihrer Einschätzung nach die tatsächlich Unterstützung für die AKP hierzulande?

Hülya Özkan: Ich schätze, dass das ungefähr deckungsgleich ist mit dem Ergebnis beim Verfassungsreferendum, dass also dreizehn bis vierzehn Prozent der drei Millionen Deutschtürken Erdogan unterstützen.

Es stößt oft auf Verwunderung, dass Menschen in einer Demokratie leben und zugleich im Ausland für einen Despoten votieren. Woran liegt das?

Hülya Özkan: Diese Frage war einer der Gründe für mich, das Buch zu schreiben. Erdogan kann einen Teil der Deutschtürken, die wie er islamisch-konservativ sind, instrumentalisieren. Für seinen Machterhalt braucht er jede Stimme.

Aber warum funktioniert das? Offenbar ist in Deutschland ein Vakuum entstanden, das er füllen kann. Tatsache ist, dass viele Deutschtürken sich ausgegrenzt fühlen. Erdogan hingegen respektiert sie und ihre Lebensleistung, er gibt ihnen Selbstbewusstsein.

Politiker sollten Deutschtürken als ihre Bürger betrachten

Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass die deutsche Politik mit der Zuspitzung von Themen wie dem Doppelpass die Probleme nur verstärkt. Welche Optionen gäbe es denn, die zur Deeskalation beitragen und konstruktiv sein könnten?

Hülya Özkan: Da muss man nur auf Erdogan blicken: Die Lebensleistung dieser Menschen respektieren. Er bezeichnet sie als seine Bürger. Warum können Politiker hierzulande die Deutschtürken nicht auch als ihre Bürger betrachten?

Stattdessen versucht man aus kritischen Situationen parteipolitisch Kapital zu schlagen, indem man zum Beispiel sagt: "Wer für Erdogan ist, soll das Land verlassen." Oder man stellt den Doppelpass zur Disposition. Was soll das? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.