Deutschtürken: "Seit der Flüchtlingskrise sind die Debatten krasser geworden"

Seite 2: "Der Frust hat sich zu einem Berg aufgetürmt"

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Mit der AfD sitzt nun eine rechtsradikale Partei im Bundestag. Wie wird unter den Deutschtürken der Rechtsruck wahrgenommen?

Hülya Özkan: Sie sind alarmiert, und diese Dinge geben ihnen Recht auch bei den Gefühlen, die sie schon vorher hatten. Der Frust hat sich zu einem Berg aufgetürmt. Das fing an mit den Brandanschlägen auf ihre Häuser, dann kamen die NSU-Morde.

Dann die Sarrazin-Geschichte, wo einer sich über sie erheben und sie beschimpfen konnte. Viele fühlten sich schon damals ziemlich alleingelassen. Und jetzt gibt es die AfD, die ungestraft über Türken, Muslime und auch Juden hetzen kann, und das macht ihnen natürlich große Sorgen.

Immer sind es die "äußeren Mächte" ...

Erdogan, schreiben Sie in Ihrem Buch, habe schon lange vor Trump die Macht des Postfaktischen entdeckt. Das haben beide mit der AfD gemein. Inwiefern setzt Erdogan dieses Element ein?

Hülya Özkan: Er arbeitet viel mit postfaktischen, populistischen Elementen, und was er in der Türkei macht, überträgt er auf Deutschland. Zum Beispiel, indem er von äußeren Mächten spricht, die die Türkei und die Deutschtürken bedrohen.

Äußere Mächte sind immer Schuld an allem; die Presse ist unfair, weil es da nur Türkei-Bashing gibt; die Deutschtürken werden von Nazis bedroht. Natürlich gibt es diese Dinge, aber nicht flächendeckend. Sehen wir auf die AfD: 87 Prozent der Menschen in Deutschland haben andere Parteien gewählt.

Sind es bestimmte gesellschaftliche Gruppen, bei denen diese Art von Populismus verfängt?

Hülya Özkan: Erdogans Klientel sind die islamisch-konservativen und neuerdings auch die nationalistischen Kreise. Denen kann er solche Sachen erzählen, die glauben alles. Das liegt auch an dem sehr autoritären und patriarchalischen türkischen System. Die Menschen hinterfragen nur selten, wenn jemand aus einer angesehenen oder einer Machtposition ihnen etwas erzählt.

In Deutschland wird viel darüber diskutiert, wie man mit AfD, Pegida und Co umgehen soll. Die einen plädieren für Dialog. Die anderen sagen: Man kann nicht reden mit Leuten, die Rassisten und Rechtsradikale wählen. Dass lässt sich auf die Erdogan-Anhänger übertragen. Was ist aus Ihrer Sicht der richtige Weg?

Hülya Özkan: Den harten Kern und die Fanatiker wird man kaum von einer anderen Meinung überzeugen können. Aber ich denke, auf die meisten kann man zugehen, sie nach ihren Befindlichkeiten fragen. Es ist nichts verloren, man kann diese Menschen für sich gewinnen. Wie ich vorhin schon sagte: Man muss sie respektieren, ihnen zuhören, sie fordern und fördern.

"Alles wird zu einem Riesenproblem vermengt"

Wie sieht denn das Feedback zu Ihrem Buch aus? Kommt das nur von Lesern, bei denen Sie offene Türen einrennen, oder kommt auch Gegenwind, löst es Diskussionen aus?

Hülya Özkan: Es wird viel diskutiert. Die einen meinen, man sollte auf die Deutschtürken zugehen, sie versuchen zu verstehen, im Gegensatz zu jenen, die direkt Dönerverzicht und Ausweisung fordern, wenn Deutschtürken für Erdogan demonstrieren. Aber seit der Flüchtlingskrise sind die Debatten krasser geworden, es wird zu viel durcheinandergeworfen. Die Integrationsdebatte, die Islamdebatte, der Hass auf Erdogan, und so weiter.

Dazu kommen Flüchtlinge, Anschläge, und alles wird zu einem Riesenproblem vermengt. Und manchmal hat man das Gefühl, dass die Deutschtürken die Leidtragenden sind, weil sie die größte islamische Gruppe darstellen. Dazu gibt es immer wieder viele Fragen.

Es ist auch wichtig, zu differenzieren: Nicht jeder Türke ist automatisch auch praktizierender Muslim. Es gibt da ein Feinddenken nach dem Motto: Wer Muslim ist, ist nicht in der Lage, sich zu integrieren. Wir sollten der Religion weniger Raum geben, sie als Privatangelegenheit betrachten. Ich glaube, das würde vielen Menschen helfen, besser miteinander auszukommen.