Diamanten im Morast

Bei der alljährlichen Adolf-Grimme-Preisverleihung zeigt das Fernsehen, was es könnte. Dokumentiert wird aber nur der Abgesang des selbsternannten Leitmediums

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Seit 1964 wird der vom Deutschen Volkshochschul-Verband e.V. gestiftete "Fernseh-Oskar" verliehen. Laut den Statuten des im westfälischen Marl ansässigen gleichnamigen Instituts, werden mit dem Grimme-Preis Leistungen geehrt, welche "die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen auf hervorragende Weise nutzen und nach Inhalt und Methode Vorbild für die Fernsehpraxis sein können". Der Namensgeber Adolf Grimme wurde 1889 in Goslar geboren und war zuletzt Generaldirektor (1948-1956) des Nordwestdeutschen Rundfunks. Seit dem Jahr 2001 wird auch ein Grimme-Online-Award verliehen, zu dessen Preisträgern Telepolis gehört, und der herausragende Internet-Angebote auszeichnet. Pro7, der Haussender des einzigen Preisträgers aus den Reihen der Privaten, Stefan Raab, ist gleichzeitig der einzige Privatsender unter den meist öffentlichen Institutionen in der Liste der Förderer des Adolf-Grimme-Institutes.

Stefan Raab für die Entdeckung und Förderung von Musiktalenten durch "SSDSGPS - Ein Lied für Istanbul" (ProSieben) in der Kategorie Spezial

Würde man Stefan Raab als legitimen Nachfolger der öffentlich-rechtlichen Allzweckwaffe Dieter-Thomas Heck bezeichnen, wäre der Graben, der sich durch die Grimme-Preisverteilung 2005 zieht, vielleicht etwas kaschiert - die Wirklichkeit aber sieht anders aus. Nach der Bekanntgabe der diesjährigen Gewinner stürzte sich die Publizistik besonders auf ein Detail: Die wenig gesehenen Produktionen der öffentlich-rechtlichen Sender haben kräftig abgeräumt, während die Quotenrenner des Privatfernsehens fast vollständig weggezappt worden sind.

Wer leiten will, der muss das Licht anmachen

Durch Deutschland geht ein Riss, der für die Fernsehzuschauer in den letzten Jahren zur Wahl zwischen Pest und Cholera geworden ist und mitten durch das Duale Rundfunksystem führt. Sind die als besonders werberelevant eingestuften Altersklassen bei RTL, Kabel 1 und Konsorten zu finden, tendiert der Altersdurchschnitt der Zuschauer von ARD und ZDF mittlerweile in Richtung Renteneintritt. Während die privaten Sender alles versuchen, um das ihnen seit ihrem Sendebeginn im Orwelljahr 1984 anhaftende Image des Schmuddelfernsehens nicht zu verlieren, verhält sich das Programm der öffentlich-rechtlichen Sender wie seine Zuschauer: Der Kulturauftrag, die öffentlich-rechtliche Domäne schlechthin, wurde nach und nach ausgelagert, aber nicht ins Glas: Kultur findet nunmehr fast ausschließlich in den Dritten statt - "Kukident-TV" ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden. Für die Gesellschaft wird es derweil höchste Zeit zu diskutieren, ob der Mythos des Fernsehens als Leitmedium noch aufrecht zu erhalten ist.

Aber was ist überhaupt ein Leitmedium? Zu allererst ist der Begriff natürlich eine Metapher. Die Frage ist nur für was? Denn eine genauere Definition steht immer noch aus. Außerdem ist es strittig, ob es sich beim Fernsehen überhaupt um ein Medium im engeren Sinne handelt, denn sein eigentliches Medium ist das Licht, womit es eher als eine Medientechnik zu begreifen wäre. Auch bedarf es, um ein Leitmedium werden zu können, der Koexistenz mit anderen Medien in einem Medienverbund. Zum Zeitpunkt des Eintritts in diesen Verbund waren die wichtigsten Koexistenzpartner für das Fernsehen eine große Anzahl von Printpublikationen sowie der Hörfunk. Der bemerkenswerteste Unterschied zu heute ist, dass es damals trotz des Vorhandenseins der Apparatur kein Fernsehen gab: Nachmittags wurde für die Hausfrau eine Stunde Programm gesendet, und abends für den Papa zwischen 20 und 22 Uhr zwei weitere, der Rest war Testbild (auch schon gestorben) und Ameisenrennen (Rauschen). Es gab also ein "Mit-ohne-Fernsehen": Anders als beim Rund-um-die-Uhr-Fernsehen von heute war der funktionierende Apparat dann tatsächlich funktionslos - kaum mehr vorstellbar.

Olli Dittrich für "Dittsche - Das wirklich wahre Leben" (WDR) in der Kategorie Fiktion und Unterhaltung

Volker Panzer, Moderator des "nachtstudio", zitierte einmal den langjährigen Redakteur von "aspekte", Hannes Keil, folgendermaßen: "Fernsehen ist nichts anderes als Hörfunk mit Sichtbarmachung der Tonquelle". Eine zwar verkürzte Aussage, für viele der wichtigsten Fernsehereignisse jedoch trifft sie nach wie vor zu. Stellvertretend hierfür steht die mittlerweile oft unerträgliche Moderation von Sportereignissen und als Konsequenz die Rückkehr vieler zum Hören: Die Radioübertragungen der Fußballbundesliga sind beliebter denn je. Ein weiteres Indiz das gegen eine Leitfunktion des Fernsehens spricht, ist die fast ausschließliche Darstellung des "Medium im Medium" (Marshall McLuhan), wobei zum Hör-Funk hier noch zumindest das Theater und das Kino zu nennen sind - die Liste könnte aber beliebig erweitert werden.

Dieser oft mehrdimensionale Darstellungszwang anderer Medien in sich selbst stellt die eigenständige Leistungsfähigkeit von Fernsehinhalten in hohem Maße in Frage. In Bezug auf die "Bild"-Zeitung sprechen Experten sogar vom Verzicht auf eine eigenständige publizistische Rolle, die diese, um den Aufmerksamkeitswerten des Fernsehens nahe zu kommen, zugunsten eines symbiotischen Verhältnisses ihm gegenüber aufgibt. Welches Licht also will das Fernsehen nach Meinung der Televisionäre anknipsen und wo leitet es die Zuschauer damit hin? Bleibt man bei der Relevanz als der wichtigsten Ausprägung eines Leitmediums, so berührt dieser Punkt beim Fernsehen das Thema Quote.

Gibt es gutes oder schlechtes Fernsehen?

Innerhalb des Mediensystems wird die Wirkungsmächtigkeit von Einzelmedien unter anderem durch die Zitierhäufigkeit gemessen. Dabei schneidet das Fernsehen äußerst schlecht ab: Unter den zehn meist zitierten Medien des Jahres 2003 war als einziger Fernsehsender das ZDF auf dem vorletzten Platz, wie der Fachdienst Medien Tenor ermittelte. Die anderen Plätze belegten ausschließlich Printmedien. Was dagegen die generelle Verbreitung, auch Reichweite genannt, anbelangt, ist das Fernsehen fast unschlagbar - noch. Jedoch wird dies einzig durch eine Art von quantitativer Autorität belegt. Die qualitative Autorität aber, die von der nachhaltigen Wirkung, also dem geistigen Einfluss her, das Entscheidende ist, verbleibt bis heute bei der Schrift, dem Buch, ist jedenfalls dem Printbereich vorbehalten. Gleichwohl zeigen Studien zum Einsatz von Computer und Internet eine frappierende Abhängigkeit von Medienkompetenz und Bildungsstand. Bleiben diese Tendenzen unverändert, werden die Neuen Medien Internet und Computer in Zukunft weniger mit dem Fernsehen, wie immer noch angenommen, als mit dem Buch in Konkurrenz treten.

ZDF-Produktion "Abdullah Ibrahim" von Ciro Cappellari in der Sparte "Information und Kultur

Auch was die Möglichkeit einer qualitativen Autorität des Mediums Fernsehen anbelangt, offenbarte der diesjährige Grimme-Preis eine Spaltung innerhalb des deutschen Fernsehsystems. Dies ist beileibe keine neue Erkenntnis - schon lange gibt es eine kontroverse Diskussion über ein Abgleiten des Fernsehen zum "Unterschichtenmedium" -, aber unabhängig davon zeigt die Wirklichkeit, dass derartige Fernsehpreise und das Emporheben von einzelnen Qualitätsprodukten über den tatsächlichen Zustand eines Gesamtsystems weitgehend hinwegtäuschen können. Zwar ähnelt die Funktion solcher Veranstaltungen jener von Literaturkritikern, die durch den Aufbau von Qualitätsdämmen versuchen der Bücherschwemme Herr zu werden. Als eine funktionale oder konstruktive Kritik am Medium sind Fernsehpreise aber kaum als wirkungsvoll anzusehen.

Dass es überhaupt zu wenig Medienkritik gibt, vor allem am Fernsehen, zeigt eine jüngst erschienene Studie ("Zur Kritik der Medienkritik", Vistas Verlag, Berlin, 586 Seiten, 25 Euro). Darin wird beanstandet, dass es neben der Verkürzung der Medien auf ökonomische Faktoren und der extremen Neigung zu Insidergesprächen eine generelle Unfähigkeit des Mediensystems gibt, aus sich selbst heraus eine öffentliche Kritik am Fernsehen hervorzubringen.

Ist der Ruf erst einmal ruiniert...

Um diese Kritikschwäche zu überwinden, schlagen die Autoren der Studie unter anderem die Einrichtung einer "Stiftung Medientest" als medienunabhängige Qualitätskontrolle vor. Momentan suchen die Technischen-Überwachungs-Vereine und Warentester nämlich "nur" die materielle Welt nach Schwachstellen und Gefahren ab, das letztendliche Prüfsiegel medialer Fernsehprodukte aber ist und bleibt die Quote. Das Primat der Quote gilt sowohl für die privaten (existenziell) als auch für die öffentlich-rechtlichen (legitimatorisch) Sender. Kann es für ein Medium, welches die Quote als Richtschnur einer Existenz machen muss, gute oder schlechte Sendungen, ein Niveauvoll oder eine "unterste Schublade" überhaupt geben? Die häufig geäußerte Kritik dieser Art ist offensichtlich unangebracht, denn man wirft dem Fernsehen nur seine strukturelle Eigenart als Massenmedium vor. Haben die öffentlich-rechtlichen Sender durch ihr Finanzierungsmodell hier noch einen gewissen "qualitativen" Spielraum, könnte der sich innerhalb kurzer Zeit auf Druck der Europäischen Kommission als nicht mehr haltbar erweisen.

Allerdings, und hier nehmen all die genannten Probleme eine entscheidende Größe an: Das Fernsehen ist ja nicht nur technischer Apparat, eine Unterhaltungsmaschine oder Informationsquelle, es ist in erster Linie eine Kulturtechnik. Es wäre medienhistorisch also zu fragen, aus welcher Kultur diese Technik entstanden ist und wie sie auf die Kultur, in welche sie "eingedrungen" ist, zurückwirkt. Auffällig dabei ist, dass es sich beim "Fernsehzeitalter" um einen äußerst kurzen Zeitraum handelt. Nicht einmal ein Jahrhundert ist seit seiner Erfindung vergangen, und erst recht wenn man bedenkt, dass selbst die Alphabetschrift schon einige tausend Jahre alt ist. Anders gefragt: Kann das Fernsehen die Kultur aus der es entstand, überhaupt konservieren, transportieren, und notwendigerweise auch evolutionieren?

Wertewandel, nicht Werteverlust!

Beantwortet man dies mit nein, und diese Antwort ist am wahrscheinlichsten, dann ist das, was einige dem Privatfernsehen immer wieder vorwerfen - es sind vor allem diejenigen die es eingeführt haben - nämlich, dass es zum Verlust der guten Sitten und der Moral beiragen würde, nicht nur heuchlerisch, sondern grundweg falsch. Bedingen die Kommunikationstechniken das Denken, Handeln und Kommunizieren einer Gesellschaft und seiner Individuen tatsächlich in dem Maße, wie es heute angenommen wird, dann kann man nicht von einem Werteverlust sprechen, sondern muss von einem durch Medienwandel induzierten Wertewandel ausgehen. Dass dies alles nicht mit den medialen Inhalten zusammen hängt, sondern mit den Medien an sich, ist eine viel zu selten aufgegriffene Perspektive. Schließlich hat das jahrzehntelange Moralisieren jedes angeblichen Durchbruchs auf der nach unten (zur Hölle?) offenen Niveaulosigkeitsskala rein gar nichts, jedenfalls keine Qualitätsverbesserung gebracht. Der pauschale Vorwurf einer Verdummungsmaschine ist auch deshalb unglaubwürdig, weil es so gut wie keine wissenschaftlich haltbaren Kausalitäten für diese Annahme gibt. Und überhaupt: Wie sähe das 24-Stunden-Qualitätsfernsehen aus?

Den nachhaltigsten Effekt, den das Privatfernsehen bislang ausgelöst hat, bleibt die "Verwandlung" der Zuschauer in Fernsehkonsumenten. Ob man die Evolution des Nachkrieg-Telekolleg-Operninszenierung-Fernsehens mit dem Anspruch der Belehrung und einem manchmal recht steif wirkenden Bildungsauftrag zum viel gesehenen, aber wenig geschätzten Dadell-TV gut findet, ist einen andere Frage. Selbstverständlich gibt es etliche Phänomene, die überwiegend dem Privatfernsehen zuzuschreiben sind. Beispielsweise musste durch den Mehrkonsum an Fernsehzeit der "Flow" immer stärker betont werden, also der Effekt des störungsfreien Fließens der Programminhalte zum Zuschauer, um dessen Aufmerksamkeitsstrom nicht zu stören. Dazu wurde der klassische Werbeblock durch verschiedene neue Spotvarianten wie Single Spot, Splitscreen, Single Split, Logo Morphing und virtuelle Werbung ergänzt. Dies führte in Studien nachweislich dazu, dass sich beim Zuschauer ein überdurchschnittliches Aufmerksamkeitsniveau nebst der besseren Erinnerung an die Testspots einstellte.

Die "Gleichheit der Waffen" zwischen Rezipienten und Sendemaschine, wie es Alexander Kluge mit seinen Produktionen zwischen Kunst und Denkanstößen anstrebt, ist so nicht herzustellen - das kann das Internet besser. Zum anderen ist der sinkende Stern des Leitmediums Fernsehen an der um sich greifenden Kreativitätskrise bei fiktionalen Fernsehproduktionen fest zu machen. Der Forschungsverbund Eurofiction (in: media perspektiven, 1/2005) spricht nach der Analyse seiner neuesten Datenerhebungen von einer "kreativen Stagnation", die vom Boom bei Realitiy-Formaten und allgemeinen wirtschaftlichen Problemen flankiert wird.

Ist das Fernsehen überhaupt noch existent? Ja, aber nur wenn es um Highlights geht. Dann sticht aus dem Rauschen des Massenmediums etwas hervor: Wenn Harald Schmidt zynisch über die Privaten, wie auch die Öffentlich-Rechtlichen spottet, je nachdem von wem er gerade bezahlt wird; wenn Desiree Nick im Dschungelcamp den Hoden eines Kängurus aus dem Hodensack quetscht, um ihn öffentlich zu verspeisen; wenn der Zuschauer irritiert über die Differenz zwischen Fernseh- und tatsächlicher Wirklichkeit nachdenkt, weil unglaublicherweise zwei Flugzeuge in ein Hochhaus rasen, am 11. September 2001. Für manche der die Relevanz des Mediums wirklich darstellenden Fernsehereignisse sollte es auch einen Grimme-Preis geben. .