Diciotti-Drama: Anklage wegen Freiheitsberaubung?
Die Migranten an Bord des Schiffs der italienischen Küstenwache dürfen nicht an Land. Salvini besteht auf der "australischen Lösung". Di Maio droht der EU - Update
27 Minderjährige durften gestern gegen 23 Uhr im Hafen der sizilianischen Stadt Catania von Bord der Diciotti gehen, um in ein Aufnahmezentrum zu kommen. Das Schiff der italienischen Küstenwache hatte am vergangenen Mittwoch 190 Personen, die aus Libyen geflüchtet waren, von zwei kleineren Patrouillenbooten der italienischen Küstenwache übernommen.
Nach Angaben der Guardia Costiera wurden sie von einem Schlauchboot gerettet, das in Schwierigkeiten war und zu kentern drohte ("in difficoltà e stava imbarcando acqua"). Da die Rettungsaktion in Gewässern geschah, die zur Such- und Rettungszone Maltas gehören, entwickelte sich ein Streit zwischen den beiden Ländern über den Anlandungshafen der Geretteten - "der nächste sichere Hafen" laut Seerecht. Italiens Regierung vertrat die Auffassung, dass sich der nächste sichere Hafen in Malta befindet.
Aus Maltas Sicht stellt sich die Situation anders dar. Man habe die geforderte Sorgfaltspflicht erfüllt und die maltesischen Küstenwache zu dem Boot mit den Migranten beordert. Dabei sei festgestellt worden, dass das Boot mit den Migranten nicht in Schwierigkeiten war und die Passagiere erklärt hätten, dass sie nach Lampedusa wollten.
Man habe keine Veranlassung gehabt, in die Freiheitsrechte der Passagiere einzugreifen. Italien habe das Boot abgefangen, um zu vermeiden, dass es für die Anlandung zuständig sei, so Maltas Regierungsvertreter (vgl. Migranten aus Libyen: Nun ist die italienische Küstenwache das Problem).
Der Streit ist bislang noch nicht beigelegt, nach längerem Hin- und Her wurde gestattet, dass das Schiff der italienischen Küstenwache in einem italienischen Hafen anlanden konnte. Allerdings durfte außer 13 Personen, die klinisch behandelt werden mussten, und den eingangs genannten Minderjährigen und Kindern niemand das Schiff verlassen.
Es ist unverständlich. Sogar peinlich. Das Schiff Diciotti ist ein Militärschiff des italienischen Staates und darf nicht in einem italienischen Hafen anlegen! Wir Militärs gehorchen natürlich der Regierung, aber wir erwarten auch eine entschlossenere Politik, wenn es darum geht, Vorkehrungen zu treffen! Auch weil es ein Problem gibt.
Oberleutnant Antonello Ciavarelli, Delegierter des Zentralrats der militärischen Vertretung (Cocer) der Küstenwache
Mehr als 140 Personen (die genauen Zahlenangaben sind unterschiedlich) sind noch an Bord. Da es Migranten aus Afrika sind, weigert sich der italienische Innenminister Matteo Salvini, sie in Italien an Land gehen zu lassen. Die EU soll die Neuankömmlinge unter ihren anderen Mitgliedstaaten verteilen, Italien hat in den letzten Jahren schon genug aufgenommen, lautet seine Haltung.
Salvini: "No way"
Salvini bekräftigte sie noch einmal. Sein Ziel sei die australische "No way"-Politik, wird er von der italienischen Nachrichtenagentur Ansa zitiert. "Alle an Bord der Diciotti sind illegale Migranten. Italien ist nicht länger Europas Flüchtlingslager", sagte er Ansa zufolge. Er betonte, dass niemand ohne seine Erlaubnis an Land gehen dürfe.
Seine Äußerungen reagieren auf Einlassungen eines Mitglieds des Koalitionspartners von Salvinis Partei Lega: Roberto Fico von der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, auch: M5S), der den Posten als Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer bekleidet, hatte vorgeschlagen, die Migranten von Bord gehen zu lassen, um erst danach eine EU-Vereinbarung zu treffen.
Salvini, der zusammen mit dem Vorsitzenden der Fünf-Sterne-Bewegung, Luigi Di Maio, die eigentliche Macht hinter Premierminister Conte ausübt, stellte laut Medienberichten gegenüber Fico schnell klar, wer in der Sache das Sagen hat: "Sie sind der Präsident der Kammer und ich bin der Minister, mit einem sehr spezifischen Programm und einem Regierungsvertrag."
Darüber hinaus bewertete er Ficos Äußerung als in Opposition stehend zu den Auffassungen anderer Persönlichkeiten des M5S. Mit deren Parteichef Luigi Di Maio würde er sich gut verstehen. Zudem habe man einen Wählerauftrag und einen Regierungsvertrag.
Ein Staatsanwalt geht an Bord: Fragen zur Legimität des Aufenthalts
Dass die Minderjährigen gestern Nacht von Bord gehen konnten, war eine Konsequenz des vorhergehenden Besuchs des Staatsanwalts von Agrigento, Luigi Patronaggio, an Bord der Diciotti. Dieser stellte ein paar Schwierigkeiten fest, wie die Zeitung Corriere della Sierra berichtet.
Es gebe aus medizinischer Sicht mehrere Fälle von Krätze. Aus juristischer Sicht gebe es "auf jeden Fall" die Auflage, dass unbegleitete Minderjährige nach den internationalen Konventionen und dem italienischem Recht von Bord gehen.
Darüber hinaus stellte er die Legitimität des erzwungenen Aufenthalts auch der Erwachsenen an Bord der Diciotti infrage.
Wir müssen eine sorgfältige Bewertung vornehmen. Die Politik hat die ganze Legitimität, um Entscheidungen zu treffen, aber diese Entscheidungen können nicht im Gegensatz zu dem stehen, was die italienische Verfassung und das Strafgesetzbuch vorsehen. Die Hypothese der illegalen Verweildauer der Personen an Bord bestätigt das.
Luigi Patronaggio
Ob eine juristische Untersuchung den Vorwurf eines illegalen Festhaltens der Personen an Bord der Diciotti bestätigt, ist noch offen.
Aber der Vorwurf, der in der englischsprachigen Nachricht von Ansa als "alleged abduction" verbreitet wird, wird von Gegnern der Politik des neuen italienischen Innenministers als Vorwurf der Freiheitsberaubung herausgestrichen - zumal sich Salvini mit seiner Äußerung, er wolle die Migranten wieder nach Libyen zurückschicken, ohnehin als jemand ausgibt, dem Gesetze und Regeln weniger wichtig sind als der Beifall seiner Wähler.
Doch ist Salvini auch unter Politikern nicht allein mit seiner Verärgerung und Ablehnung der bisherigen, für alle anderen europäischen Staaten sehr bequemen Routine ("Alle Migranten, die im Mittelmeer gerettet werden, kommen nach Italien"). Auch der italienische Ministerpräsident Conte und der Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, fordern, dass sich die EU-Staaten solidarisch zeigen.
"Brüssel schläft"
Tajani, der für eine Reform der Dublin-Vereinbarungen plädiert ("der Schlüssel für die Lösung der Probleme"), ist sogar für Sanktionen der Visegradstaaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei, weil sie sich der Verteilung von Migranten verweigern.
Der Ministerpräsident Italiens, Giuseppe Conte, beklagt ein "feiges Schweigen" der europäischen Länder. Brüssel schlafe und Länder wie Deutschland, Spanien, Portugal, Irland und Malta hätten ihre Versprechen vom Juli, Migranten abzunehmen, nicht eingehalten. Allerdings richtet Malta ähnliche Vorwürfe an Italien. Das Land habe bei einer Anlandung von Migranten mit der MS Lifeline in Malta im Juni versprochen, Migranten aufzunehmen, und dies nicht eingehalten.
Der italienische Außenminster Moavero Milanesi drängt indessen die EU: "Die Regierung hält es für unerlässlich, dass die Kommission direkt die Initiative ergreift, um die EU-Länder zu ermitteln, die bereit sind, die auf See geretteten Menschen aufzunehmen."
Update
Später am Donnerstag drohte Luigi Di Maio, der Vorsitzende der Fünf-Sterne-Bewegung und neben Salvini stellvertretender Regierungschef, damit, dass Italien die Zahlungen an die EU einstelle - Di Maio spricht von 20 Milliarden Euro jährlich -, "wenn morgen nichts über die Diciotti und die Umverteilung der Migranten herauskommt". Er habe in dieser Sache die ganze Regierung und seine Partei hinter sich.