Diderots Traumtagebuch

Seite 2: Slashdots kleiner Bruder

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Everything2 war ursprünglich als Erweiterung des Geek-Weblogs Slashdot gedacht. Im Frühjahr 1998 strickte Nate Oostendorp, Hacker und Freund des Slashdot-Gründers Rob Malda, die erste Version von "Everything" zusammen, die unter everything.slashdot.org zu finden war. Wie der Name andeutet, sollte die Website jedem Besucher erlauben, zu praktisch jedem Thema Hintergrundartikel zu schreiben - zunächst waren das aufgrund der Nutzer-Community natürlich die typischen Slashdot-Themen wie Linux, PC-Hardware, Star Wars und Anime.

Ein typischer Everything2-Artikel: (1) ist ein Link auf einen nicht-existierenden Artikel, (2) die Zahl der "Coolings", die der Artikel durch andere Nutzer bekommen hat, (3) der Name des Autors, (4) ein Link auf einen existierenden Artikel (kein sichtbarer Unterschied in der Darstellung). Abgesehen von den immer angezeigten "Coolings" wird die Bewertung des Artikels erst sichtbar, wenn der Leser selbst eine Beurteilung abgegeben hat. Man beachte die hohe Zahl von Links, die von den meisten Autoren auf praktisch jedes relevante Substantiv gesetzt werden.

1999 wurde die Software neu geschrieben, und am 13. November ging die Website unter dem Namen Everything2.com erneut an den Start, jetzt deutlich abgekoppelt von Slashdot. Die Everything-Hacker gründeten eine Firma namens Blockstackers, welche die Software für andere Anwendungszwecke vermarkten sollte. Daneben schaltet Everything2 Werbebanner und ruft regelmäßig zu Spenden auf.

Während Wikipedia-Inhalte dank der GNU Free Documentation License frei kopierbar sind und es auch bleiben, gilt für die Everything2-Texte das klassische Urheberrecht: Die Firma Blockstackers erhält lediglich das nicht-exklusive Recht zur Verbreitung über die Website, alle weiteren Rechte verbleiben bei den Nutzern. Wer also einen Artikel in anderer Form weierverwerten möchte, muss jeweils den individuellen Nutzer kontaktieren und um Erlaubnis bitten. Die Everything2-Software ist dagegen Open Source.

Everything2 enthält weder Bilder noch WWW-Links (inoffiziell werden sie manchmal angegeben, werden aber von der Software noch nicht einmal automatisch "klickbar" gemacht und bleiben folglich reiner Text). Es handelt sich also um ein weitgehend geschlossenes, textbasiertes System. Die einzige offizielle Sprache ist Englisch. Kein Open Content, keine Bilder, keine URLs, keine deutsche Version - warum sich also überhaupt damit befassen?

Insgesamt befinden sich im System derzeit fast 500.000 Artikel ("Write-Ups"), knapp 65.000 Benutzer haben sich registriert. Damit ist Everything2 rein nominal größer als Wikipedia. Wie groß die Site wirklich ist, lässt sich nicht prüfen, da die Daten nicht frei heruntergeladen werden können. Veröffentlichte statistische Analysen beschränken sich auf Systemdetails.

Was ist die Matrix?

Everything2 unterscheidet zwischen Write-Ups und "Nodes". Ein "Node" ist ein gemeinsamer Oberbegriff, unter dem sich verschiedene Artikel befinden können, auch zu völlig unterschiedlichen Themen. Nodes werden wie bei Wikis erstellt, indem man einem Link zu einem nichtexistenten Artikel folgt und diesen anlegt. Doch hier gibt es einen wesentlichen Unterschied zu Wikipedia: Verweise auf nichtexistente Artikel werden genauso dargestellt wie solche auf vorhandene Texte. In einem Text mit Hunderten von Links gibt es außer "Versuch und Irrtum" also keine Möglichkeit festzustellen, welche Artikel bereits geschrieben wurden. Immerhin wird bei einem Klick auf einen nichtexistenten Link eine Volltextsuche durchgeführt, die häufig relevante ähnliche Treffer zu Tage fördert.

Schreiben kann man bei Everything2 erst, nachdem man sich registriert hat, was die hohe Zahl angemeldeter Nutzer erklärt. Ein Write-Up gehört dem jeweiligen Autor, das Editieren des gleichen Textes durch Dritte ist nicht möglich. Man kann allenfalls versuchen, dem jeweiligen Nutzer eine Nachricht zukommen zu lassen (dazu gibt es die "Chatterbox", eine Art Mini-Chat) und ihn bitten, fehlende Informationen zu ergänzen. So kommt es, dass häufig zu dem gleichen Thema eine große Zahl verschiedener Artikel mit unterschiedlichen Perspektiven existiert. Bei Wikis ist das anders: Dort wird praktisch jeder größere Artikel gemeinsam verfasst, Versuche, einen Artikel für sich zu beanspruchen, sind verpönt - eine Ideologie des Gemeinwissens, die man sonst nur in der Open-Source-Welt findet.

Um E2-Artikel zu schreiben, bedient man sich einer Untermenge der WWW-Sprache HTML; Absätze müssen mühselig mit "<P>"s voneinander getrennt werden. Links werden statt wie bei Wikipedia mit doppelten mit [einfachen eckigen Klammern] gesetzt. Everything2 ist von allen kollaborativen Systemen das Link-intensivste. Links werden von vielen Autoren als Mittel der Hervorhebung von Schlüsselphrasen in einem Text eingesetzt. Dabei macht es oft keinen Unterschied, ob jemals ein sinnvoller Text über die entsprechende Phrase geschrieben werden kann; im Gegenteil, wer seine Artikel nicht mit genügend Links übersät, wird schnell von anderen Everything2-Usern zurechtgewiesen. Alles in E2 ist darauf ausgelegt, den User im System zu halten. Der Weg des geringsten Widerstands soll es stets sein, zu anderen Texten weiter zu klicken oder eigene Artikel zu schreiben.

Die Liste von "Soft-Links", die sich unter jedem E2-Artikel befindet. Diese Liste wird dynamisch aus dem Verhalten der Leser generiert; die Helligkeit des Hintergrunds kennzeichnet die Relevanz (Popularität) des jeweiligen Links.

Eine E2-Innovation sind die sogenannten "Soft-Links". Da die Entwickler offenbar der Meinung waren, dass die zahlreichen von Autoren eingefügten Links immer noch nicht ausreichen, wird unterhalb der Liste der Write-Ups eine dynamische generierte Liste von bis zu 48 Links angezeigt. Dabei handelt es sich um eine nach Zahl der Klicks geordnete Liste von Artikeln, die Benutzer vom aktuellen Artikel aus besucht haben, oder von denen sie auf den aktuellen Artikel gekommen sind. Ein Soft-Link wird angelegt, sobald man einen "harten" Link in einem Text anklickt, oder wenn man auf einer Artikelseite die Suchfunktion nutzt und damit zu einem anderen Text navigiert. Aufgrund der Sortierung nach Popularität handelt es sich hier durchaus häufig um relevante Verweise. Das System erinnert so an ein neuronales Netz, in dem ständig dynamisch Verknüpfungen zu neuen Informationen entstehen und durch Verwendung intensiviert werden: eine interessante Idee.

Motivationskontrolle

Eine weitere E2-Eigenheit ist das "Abstimmungs- und Erfahrungssystem". Man darf nicht vergessen, dass E2 aus der Slashdot-Ecke kommt, folglich ist es wenig überraschend, dass die Entwickler von Rollenspielen wie "Dungeons & Dragons" beeinflusst wurden. Bei diesen Spielen, für die man keinen Computer braucht, schlägt sich der Spieler in einer Fantasiewelt mit Monstern oder anderen Gegnern herum. Zur Belohnung erhält er gelegentlich Waffen und Schätze, aber vor allem Erfahrungspunkte. Hat er genügend Punkte gesammelt, kann er zur nächsten "Stufe" aufsteigen, was seine Spielereigenschaften wie Stärke, Geschicklichkeit, Zaubersprüche usw. verbessert.

Diese Stufensysteme tragen wesentlich zum Suchtfaktor von Rollenspielen bei; wer zwei Jahre gespielt hat, um seinen Magier auf Stufe 17 zu befördern, wird diesen Fantasie-Charakter ungern aufgeben. Der Siegeszug der Online-Rollenspiele hat zu so bizarren Phänomenen wie dem Verkauf virtueller Waffen und Rüstungen oder gar ganzer Charaktere über eBay geführt. Mitunter werden solche Games als "Heroinware" bezeichnet, Software, die süchtig macht. Die Rollenspiel-Parodie ProgressQuest spielt sich dagegen von ganz alleine: Der "Spieler" muss nur den Rechner laufen lassen und kann zuschauen, wie sein Charakter die nächste Stufe erklimmt; den Highscore erreicht, wer am längsten warten kann. Und sogar hier scheint der bizarre Effekt des Erfolgserlebnisses zu funktionieren: Über 50.000 Benutzer haben sich das Programm heruntergeladen, die Bestenlisten sind dominiert von "Spielern", welche die 79. oder 80. Stufe erklommen haben.

Ein solches Motivationssystem lässt sich natürlich auch zweckentfremden, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Manager ihre Angestellten wie Rollenspiel-Charaktere behandeln. Bei Everything2 ist das Erfahrungssystem vermutlich einer der Hauptgründe für die große Menge von Texten im System. Das System ist komplex: Insgesamt gibt es derzeit 13 Stufen, vom Initianten (Stufe 1) über den Schriftgelehrten (Stufe 4), Mönch (Stufe 5), Seher (Stufe 8) und Archivar (Stufe 9) bis schließlich zum Pseudo-Gott (Stufe 12) und - etwas enttäuschend - zum Pedanten (Stufe 13).

Um zur nächsten Stufe aufzusteigen, benötigt man jeweils eine bestimmte Zahl von Write-Ups und eine bestimmte Zahl von Erfahrungspunkten. Für Stufe 2 benötigt man 25 Write-Ups, bei Stufe 5 sind es schon 250 und bei Stufe 10 1215. Das System belohnt also Quantität, wie sieht es mit Qualität aus? Erfahrungspunkte (XP) sammelt man ebenfalls durch das Schreiben von Artikeln. Außerdem gibt es ein Bewertungssystem, das Nutzer ab Stufe 2 verwenden können: Man kann einen Text dann mit Plus oder Minus beurteilen, hat aber pro Tag nur eine begrenzte Zahl von Stimmen zur Verfügung, die mit der Stufe ansteigt. Eine hohe Bewertung gibt einen XP-Bonus, während eine negative Bewertung zu einem Malus führt. Wer also ständig negativ bewertete Artikel schreibt, wird nicht zur nächsten Stufe aufsteigen können.

XP werden für eine Vielzahl von anderen Anlässen vergeben, wozu auch die Bewertung von Artikeln selbst gehört - damit soll ein Anreiz geschaffen werden, Artikel im System zu lesen und zu beurteilen und jeden Tag die maximale Zahl von Stimmen zu verbrauchen.

Ein Redakteur hat's schwer

XPs zu sammeln ist deutlich leichter als das Schreiben von Artikeln. Das liegt auch daran, dass nicht jeder Artikel im System verbleibt. Artikel mit einer sehr negativen Reputation werden von den Everything2-Redakteuren und "Göttern" überprüft und gegebenenfalls gelöscht. Diesen zwei Benutzergruppen gehören insgesamt über 50 User an. Sie gehen auch selbst auf die Suche nach Artikeln, die sie für unbrauchbar halten, und können diese willkürlich löschen. Zu löschende Artikel werden kurzzeitig auf der Node Row platziert (der Name lehnt sich an "Death Row" an) und nach spätestens 24 Stunden vom System gelöscht.

Die Kriterien, denen ein Artikel genügen muss, um nicht gelöscht zu werden, sind nicht klar definiert, es gibt lediglich Tipps. Neulinge werden von Anfang an gewarnt, damit rechnen zu müssen, dass ein Großteil ihrer Artikel im "Node Heaven" landen wird, solange sie sich noch nicht im System auskennen. Tatsächlich hat es viel mit den Machtstrukturen zu tun, was akzeptabel ist und was nicht: Ein Stufe-10-Benutzer kann sich zweifellos mehr erlauben als ein Neuling und hat eine hinreichende Machtbasis, um die Löschung seiner Artikel zu verhindern.

Die für registrierte Nutzer stets sichtbare E2-"Chatterbox" erlaubt das Austauschen von Nachrichten mit anderen Usern. Dabei wird zwischen privaten Nachrichten (oben) und öffentlichen (unten) unterschieden.

Außer der erwähnten Chat-Funktionalität sind Diskussionen unerwünscht: Innerhalb von Write-Ups soll nur begrenzt auf andere Write-Ups Bezug genommen werden; sogenannte "Getting to know you"-Nodes, in denen ein Nutzer andere nach ihrer Meinung oder ihren Erfahrungen fragt, werden unverzüglich gelöscht. Ganz anders als bei Wikipedia wird über die Texte selbst kaum geredet.

Wer jetzt glaubt, Everything2 sei aufgrund der rigiden Löschungen eine Sammlung hochqualitativer Informationen zu jedem Thema, könnte falscher nicht liegen. Im Gegensatz zu Wikipedia ist E2 ein Dschungel, eine Mega-Datenbank mit einem enorm hohen Rauschpegel. Ein Zufallstest fördert die folgenden Seiten zu Tage:

  1. Acht sogenannte "Nodeshells", leere Seiten, die mit Inhalten gefüllt werden können. Diese werden nicht gelöscht, aber trotzdem in Suchen aufgelistet und angezeigt, wenn man Links darauf folgt. Es gibt einige tausend Nodeshells, sie sind nicht Teil der oben zitierten Statistik.
  2. "Pleuritis", "Enshield", "Harddihead", "Dreadless" - Wortdefinitionen aus der 1913er Ausgabe des Webster Dictionary, Public Domain. Der komplette 1913er Webster wurde importiert.
  3. "Mit Out Sound", englische Filmterminologie für "ohne Ton"; Mini-Artikel.
  4. "Aeneid - Book Eight", klassischer Text von Virgil, aufgesplittet in verschiedene Nodes.
  5. "Cutler", angeblich ein Schlafsaal der Case Western Reserve University, wo, so erfahren wir, vornehmlich das Ballerspiel Quake gespielt wird.
  6. "Jeffrey Falcon", ein "cooler" Schauspieler, der in einem Apokalypse-Film mitspielte, in dem auch eine "coole" Band auftrat (zwei Sätze)
  7. "Sana Kurata", ein Charakter aus Kodomo no Omocha, einem Anime, wie wir durch einen Klick erfahren. Fünf kurze Sätze im Stil von "She makes music, mostly silly little rap songs about whatever is on her mind at the moment".
  8. Protein folding errors: Alzheimer's, Mad Cow, and Cystic Fibrosis, ein locker geschriebener, längerer Text über die Beziehung zwischen Proteinfaltung und bestimmten Krankheiten, der jedoch keine konkreten Forschungsergebnisse zitiert.
  9. Troglodyte kidneys measure your eyes in sardonic spasms, typische E2-Prosa, die entstanden ist, weil irgend jemand auf diese Phrase einen Link gesetzt hat, und jemand anders es für eine gute Idee hielt, einen Text darüber zu schreiben. "Some might say it's my fault for being so naive and so willing to accept the love she seemed to offer me. But they weren't there. They didn't have to looking into those beautiful haunting eyes." Et cetera.
  10. "Fry's Electronics plushie". Meinung des Autors über eine eine Serie von Plüschpuppen, die offenbar vom US-Elektronikhändler "Fry's" vertrieben wird.
  11. "Bleen", fiktive Farbe, die auf Nelson Goodman zurückgeht.
  12. Complete game, Baseball-Terminologie, verhältnismäßig ausführlich.
  13. The Tale of Tom Kitten, Public-Domain-Text der Dichterin Beatrix Potter.
  14. "Lur", über ein Musikinstrument aus vorchristlicher Zeit, mit einem Kommentar des Autors, der sich darüber wundert, dass der Ein-Absatz-Text eine negative Bewertung bekommen hat.
  15. Cigarettes are addictive, drei Texte, fast ausschließlich Meinung (für oder gegen Tabakkonsum), der erste glaubt, die meisten Raucher könnten aufhören, der zweite Text zitiert als Gegenbeleg einen unspezifizierten "Report" und verweist auf eine NIH-Pressemitteilung zum Thema, der dritte ergießt sich in Metaphern über Anti-Drogenkampagnen.

Abgesehen von "Lur" und "Bleen" würde wohl keiner dieser Texte Eingang in eine klassische Enzyklopädie finden, und der Artikel über "Lur" in Wikipedia ist dem E2-Äquivalent deutlich überlegen. Der Wikipedia-Text über Bleen zitiert im Gegensatz zum E2-Gegenstück auch die Arbeit, in der dieses Wort geprägt wurde.