Die Aleviten in der Türkei stehen unter Generalverdacht

Seite 2: Aleviten schon im Osmanischen Reich unterdrückt

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"Das Herz eines Menschen zu berühren ist viel wertvoller, als eine Pilgerstätte zu besuchen."

Die alevitische Religion ist eine besondere Form des schiitischen Islams. Viele Aleviten distanzieren sich jedoch vom Islam und wollen als eine eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt werden.

Bereits im sunnitischen Osmanischen Reich wurden die Aleviten verfolgt. Daher erwecken die Pläne des türkischen Präsidenten Erdogan, die Türkei nach dem "Vorbild" des Osmanischen Reiches zu "reformieren" Assoziationen mit der Verfolgung des Alevitentums in den vergangenen Jahrhunderten.

Die massive Verfolgung der Aleviten ist bis heute vor allem in Dersim (türkisch: Tunceli), im alevitischen Kernland des nördlichen Türkisch-Kurdistan, spürbar. 1937/38 wurden zehntausende Aleviten vom türkischen Militär massakriert. Hunderttausende wurden vertrieben. Viele Nachfahren der Dersimer Aleviten fanden in Deutschland Zuflucht und sind nun gut integrierte Staatsbürger. In der Türkei wurden sie von fanatischen Sunniten als "Kızılbaş" (deutsch: "Rotköpfe") abwertend bezeichnet. Anfang des 16. Jahrhunderts trugen Kämpfer des schiitischen Ordens der Safawiden in Persien rote Kopfbedeckungen.

"Wir waren die Ersten, die sich gegen die Panzer und Bomben der Putschisten gestellt haben"

Es ist gut, dass der Militärputsch in der Türkei gescheitert ist. Denn das türkische Militär war in seiner langen Geschichte der Hauptverantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrecher vor allem an Kurden in Türkisch-Kurdistan. Der türkische Präsident Erdogan nutzte aber den Putschversuch, um einen Rundumschlag zu vollziehen. Am ersten Tag nach der gescheiterten Übernahme durch das Militär beschrieb er den Putschversuch als ein "Geschenk Allahs", um "die Türkei von Verrätern zu säubern". In kürzester Zeit wurden 60.000 Beamte, Politiker, Soldaten sowie Hochschulprofessoren suspendiert, entlassen oder festgenommen. Zudem wurden Tausende Richter und Staatanwälte entlassen, was einen Eingriff in die Gerichtsbarkeit darstellt.

Das Ausmaß ist kaum vorstellbar. 16 Fernseh- und Radiosender wurden geschlossen. Gegen 42 Journalisten wurden Haftbefehle erlassen. 1.600 Universitätsdekane und Akademiker dürfen nicht mehr ins Ausland reisen. Auch Ärzte und Krankenschwestern wurden entlassen. Oft wurde das Vermögen der Verhafteten oder Suspendierten beschlagnahmt.

"Wir waren die Ersten, die sich gegen die Panzer und Bomben der Putschisten, in Sur, in Cizre… gestellt haben. Als wir uns vor die Panzer gestellt haben, waren diese Generäle eure Helden und wir die Verräter", reagiert Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der prokurdischen HDP-Partei, auf die Äußerungen von Erdogan über den Verrat der türkischen Generäle.

Gemeinsam mit den aus der Türkei stammenden Aleviten, Kurden, Assyrern/Aramäern, Armeniern, Yeziden, Christen, anderen Minderheiten sowie türkischen Demokraten müssen wir in Deutschland und in Europa dafür sorgen, dass die Verfolgung der Minderheiten und Andersdenkender in der Türkei sofort aufhört. Nur eine Türkei, in der die Menschen- Minderheitenrechte geachtet werden, kann ein Stabilitätsfaktor im Nahen und Mittleren Osten sein.

Kamal Sido, geboren im kurdisch Afrin in Nordsyrien, ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) .