Die Angst vor dem Volk
Rot-Grün will den Volksentscheid auf Bundesebene einführen, aber bekommen werden wir ihn wohl nicht
In der direkten Demokratie, so findet man in Meyers Lexikon, "übt das Volk in Gestalt einer Volksversammlung die Staatsgewalt unmittelbar aus. Es entscheidet in Volksabstimmungen (Plebiszit) über alle Gesetze und polit. Maßnahmen..." In Deutschland geschieht Demokratie auf Bundesebene anders. Die Bundesrepublik ist eine repräsentative Demokratie, das Volk entscheidet hier über die Zusammensetzung des Parlamentes, es hat jedoch keine Möglichkeit, direkten Einfluss auf Gesetze zu nehmen.
Während z.B. die Verfassung der Schweiz und ihrer Kantone eine Verbindung direkter und indirekter Demokratie ist und somit das Volk auch direkten Einfluss auf die Gesetze nehmen kann, die ihr Leben bestimmen, ist dies in Deutschland bisher nur auf Landesebene oder darunter möglich.
Doch warum ist in der Schweiz eigentlich mehr Demokratie möglich als in Deutschland? Ist das Schweizer Volk mündiger als das deutsche? Wohl kaum. Und deswegen gibt es jetzt auch einen, wohl hauptsächlich auf Bestrebungen von Bündnis90/Grüne zurückgehenden Gesetzentwurf, der endlich auch in Deutschland dem Satz: "Demokratie geht vom Volke aus" zu etwas mehr Wahrheit verhelfen will (Dreistufenmodell-Volksentscheid).
Nach einer emnid-Analyse aus dem Jahre 2001 wünschen sich 79 Prozent der Bundesbürger, dass möglichst viele Gesetze in Zukunft per Volksentscheid beschlossen werden. Wer jetzt aber denkt, der Einführung des Volksentscheides stehe deswegen auch in Deutschland nichts mehr entgegen, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Ich bin ganz entschieden der Auffassung, dass plebiszitäre Elemente auf der Bundesebene nicht der richtige Weg sind.
Angela Merkel im Jahre 2001
Eine Begründung dafür liefert sie in diesem Interview des Gießener Anzeigers nicht, außer der, dass "komplizierte Fragen (..) nicht mit der einfachen Fragestellung Ja oder Nein zu beantworten" seien. Galt das denn auch für die Frage, ob die Deutschen den Euro wollten oder nicht? Oder für die Zustimmung zum Vertrag von Nizza? In anderen Ländern der europäischen Union, wie in Irland, Dänemark, Portugal usw. scheinen solche Fragen übrigens nicht so kompliziert zu sein. Dort reichten ein JA oder ein NEIN bisher immer aus. Und die Zustimmung zu einem Gesetz sollte mit diesen beiden Alternativen auch auskommen. "JA ich bin dafür" und "NEIN ich bin nicht dafür" sollte für niemanden zu schwierig sein.
74 Prozent der CDU Wähler befürworten laut einer weiteren emnid-Umfrage übrigens die direkte Demokratie und auch führende Politiker der CDU haben sich schon dafür ausgesprochen. Warum stehen die Chancen, dass der obige Entwurf in absehbarer Zeit also Gesetz wird, trotzdem so schlecht?
Die Antwort ist wahrscheinlich einfach: Politiker lassen sich nicht gern in das, was sie tun, hineinreden. Immer wieder von Demokratie zu reden, das machen alle gern. Sie umzusetzen gehört nicht dazu, denn dass würde einen realen Machtverlust bedeuten. Was die Politikerkaste leider ganz allgemein vom Volkswillen hält, kann man an Reaktionen auf unbequeme Volksentscheide auf Landesebene gut erkennen.
Im SPD-regierten Niedersachsen, wo 1999 291.000 Wahlbürger ein Volksbegehren zur Wiederinkraftsetzung des alten Kindertagesgesetzes forderten, versuchte die Landesregierung diese Unterschriftensammlung als nicht formgerecht abzulehnen. Obwohl der Text des Begehrens den Behörden von Anfang an bekannt war, wollte man nach Abgabe und Auszählung der Stimmen, die dafür mehr als ausreichend waren, plötzlich eine Verfassungswidrigkeit erkannt haben und deswegen das Ganze einfach so unter den Teppich kehren. Den Volkswillen hätte man so wieder einmal ignoriert (639.000 Unterschriften in Niedersachsen vom Tisch gewischt)
Die Initiatoren des Volksbegehrens wollten sich dann aber doch nicht so einfach geschlagen geben und reichten Klage beim Staatsgerichtshof in Bückeburg ein, der dem Bündnis für Kinder und Familien recht gab und das Volksbegehren für zulässig erklärte (Gewonnen!)
In Sachsen kam es am 21. Oktober 2001 zum ersten ostdeutschen Volksentscheid. Die sächsische Wahlbevölkerung war aufgerufen, über die Zukunft des Sachsen Finanzverbandes zu entscheiden (Volksentscheid im Freistaat Sachsen). Obwohl 85% der abgegebenen Stimmen sich für den Gesetzentwurf der Bürgerinitiative entschieden, weigert sich die sächsische CDU-Landesregierung jedoch, die geforderte Auflösung des Sachsen-Finanzverbandes umzusetzen.
Wie in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war, fürchtet die Union sogar ein Ende der Demokratie, wenn Volksentscheide zugelassen werden. "Die Hürden für das Zustandekommens eines Volksentscheids seien zu niedrig. Zudem seien die Bürger nicht in der Lage, über komplexe Themen auf Bundesebene zu entscheiden."
In der Schweiz sind Volksentscheide seit hundert Jahren möglich und werden auch regelmäßig praktiziert. Die Schweizer haben lange genug gezeigt, dass das ganze durchaus funktionieren kann und eine Bereicherung für das Land ist. Die Schweiz hat sich während der ganzen Zeit zu keinem undemokratischen Staat hin entwickelt, obwohl die Hürden für Volksentscheide wesentlich niedriger liegen (2% der Bevölkerung reichen aus, um diesen zu starten) als im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf der rot-grünen-Regierung.
Wie kann mehr durchgesetzter Volkswille weniger Demokratie bedeuten, wenn doch Demokratie die Herrschaft des Volkes ist? Eine Frage, die sich viele deutsche Politiker einmal stellen sollten.