Die Armenier: Ein erneuter Kampf ums Überleben

Hintergrund zum Konflikt zwischen Aserbeidschan und Armenien um Bergkarabach oder Arzach

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Mit überlegener militärischer Macht, überrennen die autokratischen Regime der Türkei und Aserbaidschans, eine der einzigen demokratischen und christlichen Nationen der Region. Während die internationale Gemeinschaft durch die Pandemie abgelenkt ist, fürchten die Armenier - nach 105 Jahren - die Fortsetzung des Völkermords und das Ende ihrer Existenz.

Am Sonntagmorgen, dem 27. September, griff Aserbaidschan mit militärischer Unterstützung aus der Türkei und jihadistischen Söldnern aus Syrien das kleine Volk der Armenier an, um kleines Stück Land, bekannt als Bergkabach oder Arzach, zu erobern. 1 Dieser Angriff, in der Nähe des Kaukasusgebirges am südöstlichen Rand Europas, ist die größte Eskalation seit dem Ende des Bergkarabachkriegs in 1994. Mit Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Toten innerhalb von einer Woche entwickelt sich der Krieg zu einem der blutigsten Kriege des Jahres.

Der Großteil der Medien scheut sich, den aserbaidschanischen Angriff auf die Armenier zu verurteilen und vermittelt gleichzeitig eine irreführende Darstellung der Gleichstellung zwischen Armeniern und Aserbaidschan. Somit werden die Angreifer und die Opfer gleichermaßen für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gemacht und gleichermaßen dazu aufgefordert, das Kämpfen einzustellen. Dieser Beitrag klärt über die historischen Hintergründe des Konflikts auf und erläutert, weshalb die Aggressoren es schaffen, sich internationaler Rechenschaft zu entziehen.

Wem gehört Bergkarabach?

Des Öfteren wird in den westlichen Medien berichtet, dass Bergkarabach eine von Armenien besetzte Region Aserbaidschans ist. Hierbei wird stets auf die Integrität der Grenzen Aserbaidschans verwiesen und lediglich am Rande erwähnt, dass Bergkarabach (Arzach auf Armenisch) "seit [mehreren] Jahrhunderten" mehrheitlich von Armeniern bewohnt ist, wie es auch die Kaukasus-Expertin Silvia Stöber jüngst bestätigte.2

Die Tatsache, dass Bergkarabach völkerrechtlich nur zu Aserbaidschan gehört, weil das in den 1920ern während der Sowjetherrschaft unter Stalins Aufsicht - gegen den Willen der Bevölkerung - beschlossen wurde, wird leider oft gänzlich komplett missachtet.3 Dazu sei auch gesagt, dass schon damals die lokale Bevölkerung zu über 94% aus Armeniern bestand und es großen sozialen Widerstand gegen die Entscheidung aus Moskau gab.4

Um den Widerstand einzudämmen und den Autonomieansprüchen der Bergkarabach-Armenier entgegenzukommen, wurde eine semi-autonome Region namens Nagorno-Karabach kreiert (siehe Karte).5 Diese beruht auf künstlich gezogenen Grenzen, die es in dieser Form nie in der Geschichte Bergkarabachs oder Arzachs, gegeben hat und die keine Rücksicht auf die ethnische Herkunft und Ansiedelungsgeschichte der Bevölkerung nahmen. Ganz im Gegenteil wurden die Grenzen in der Absicht gezogen, keine direkte Verbindung zur Sowjetrepublik Armenien zu schaffen, um auf diese Weise eine Exklave mitten in Aserbaidschan zu bilden.

Die ArmenierInnen in Bergkarabach waren, im Zuge der knapp 60-jährigen sowjet-aserbaidschanischer Herrschaft, einer systematischen Diskriminierung durch die Behörden in Baku ausgesetzt.6 Dadurch entwickelte sich die Region zu einem der ärmsten Regionen Aserbaidschans und der Anteil der armenischen Bevölkerung sank stetig bis auf 74% im Jahre 1989.7

Als die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre begann auseinanderzubrechen, entstanden in Aserbaidschan ultra-nationalistische Bewegungen, die zu den brutalen Massakern von Sumgait 1988 und Baku 1990 führten.8 Hier wurden über Hunderte von in Aserbaidschan lebenden Armeniern auf offener Straße und in ihren Häusern von gewalttätigen Mobs massakriert - während die Behörden und Sicherheitskräfte absichtlich nicht oder viel zu spät einschritten.9

Im Zuge dessen entwickelten die in Bergkarabach lebenden Armenier den verständlichen Wunsch, einem solchen Schicksal zu entfliehen. Sie nahmen im Laufe des Zerfalls der Sowjetunion die erste Gelegenheit wahr, sich von Aserbaidschan zu lösen und sprachen sich in einem Referendum im Jahr 1991 für ihre Unabhängigkeit aus.10 Aserbaidschanische Streitkräfte begannen, diese Freiheitsbewegung mit grober Gewalt niederzuschlagen, Bergkarabach-Armenier mussten sich wiederum mittels eigener Verteidigungsverbände und armenischer Unterstützung verteidigen - der Bergkarabach-Krieg begann.

Armenien, Aserbaidschan und Arzach / Bild: Gemeinfrei

Zahlen und Fakten: Der Bergkarabach-Krieg11

*Schätzung

Bereits damals zeichnete sich eine Ungleichheit aus: Aserbaidschan erhielt bis 1991 politische und militärische Unterstützung von der sowjetischen Regierung in Moskau, welche gegen die Freiheitsbewegung in Bergkarabach vorging, um anderen ethnischen Minderheiten in der Sowjetunion sezessionistische Ideen auszutreiben.12 Hinzu kamen sowohl die militärische Unterstützung der Türkei, als auch Waffenlieferungen aus Israel und der Ukraine.13 Armenien konnte seine Waffen hauptsächlich lediglich aus Russland (ab ca. Ende 1992) beziehen und war militärisch auf sich allein gestellt.14

Zusätzlich betrug die Zahl der aserbaidschanischen Streitkräfte nahezu das Doppelte im Vergleich zu jenen armenischen Kräften, während das aserbaidschanische Arsenal um ein Vielfaches größer als das armenische war: 63 aserbaidschanischen Flugzeugen standen drei Armenische gegenüber, 436 aserbaidschanische Panzer standen 77 Armenischen gegenüber.15 Trotz dieses Ungleichgewichts und dank einer strategisch günstigeren Geografie, gelang es den ArmenierInnen den Großteil der Region zu befreien sowie strategisch umliegende Gebiete einzunehmen, um einen weiteren Einmarsch Aserbaidschans nachhaltig verhindern, wie auch sich effektiver verteidigen zu können. So wurde 1994 ein Waffenstillstand unterzeichnet und die Republik von Arzach erklärte sich unabhängig.

Diese Unabhängigkeit wird jedoch bis heute von keinem Staat offiziell anerkannt; etliche Versuche eine langfristig friedliche Lösung mit Aserbaidschan zu finden sind gescheitert. In den westlichen Medien wird somit stets die territoriale Integrität Aserbaidschans betont, während die Missachtung der völkerrechtlichen Grundsätze, allen voran das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in Bergkarabach seitens Aserbaidschans nicht einmal thematisiert, geschweige den in einem angemessenen Zusammenhang verurteilt wird.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker besagt, dass ein Volk über das Recht verfügt, einen eigenen Staat zu gründen oder sich in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuknüpfen, wie es sich anhand des Beispiels der jüngsten Gründung der Republik Kosovo zeigt.16 Nichtsdestotrotz waren die Bestrebungen der Arzach-ArmenierInnen, sich als unabhängig auszurufen, stets vergeblich, ob in den 1920er Jahren unter aserbaidschanischer Sowjetregierung, oder in der heutigen Gegenwart, in der das Interesse der Bergkarabach-ArmenierInnen keinerlei internationale Aufmerksamkeit erreicht. Dies wiederum ermutigt Aliyev, der regelmäßig und mit höchst angriffslustiger Rhetorik verkündet, dass Aserbaidschan eine militärische Endlösung für den Konflikt vorsehe: "Der Krieg ist noch nicht beendet, nur der erste Teil des Krieges ist beendet" (2018).17

Ein Konflikt unter "Gleichen"?

In einem oberflächlichen Vergleich beider Länder mögen sie, aufgrund ihrer jeweiligen sowjetischen Vergangenheit, Gemeinsamkeiten aufweisen - so ähneln die sowjetischen Betonbauten am Rande Bakus jenen außerhalb Jerewans. Blickt man jedoch genauer hin, sind grobe Unterschiede zwischen beiden Ländern zu verzeichnen.

Aserbaidschan wird seit 1993 von der Aliyev-Familie regiert, welche mit einer breitaufgestellten Propagandamaschinerie durch aus opulenten Öl- und Gasvorkommen gewonnenen "Petrodollars" seit nahezu 30 Jahren als autoritäre Macht über Aserbaidschan herrscht.18 Diese erlauben es der Aliyev-Familie nicht nur die Gunst des Volkes zu erkaufen, sondern auch die vieler internationaler PolitikerInnen. Selbst die Justiz in Europa wird mittels Petrodollars umgangen: Das beste Beispiel hierfür ist der aserbaidschanische Leutnant Ramil Safarov, der während einer NATO-Friedenskonferenz in Budapest in das Zimmer seines schlafenden armenischen Kollegen einbrach und ihm mit einer Axt den Kopf abhackte. 19 Nach seiner Verurteilung in Ungarn wurde er wenige Jahre später nach Aserbaidschan ausgeliefert, dort als Nationalheld empfangen und zum Rang eines Majors befördert.20

Diese totalitäre Propaganda hat zufolge, dass beispielsweise bereits Kindern im Kindergarten der Hass gegenüber ArmenierInnen beigebracht und gezielt gefördert wird. Deshalb überraschen nicht die Bilder vom Juli dieses Jahres, als im Zuge der erneuten Ausschreitungen entlang der aserbaidschanisch-armenischen Grenze, DemonstrantInnen in Baku nicht den Frieden, sondern eine vollständige Mobilisation zum Krieg forderten.21

Schnell nahm die Demonstration jedoch auch oppositionelle Tendenzen auf, weshalb diese gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die Kritik an Aliyevs menschenrechtsverachtendes und korruptes Regime hat - im Zuge des niedrigen Ölpreises, der wirtschaftlichen Einbrüche durch die globale Pandemie und anderen wirtschaftlichen und politischen Fehlschlägen - ein für ihn gefährliches Maß angenommen. Nichts überraschend ist es somit, dass zu Beginn des Konflikts mit dem Angriff am Sonntagmorgen auf armenische ZivilistInnen nahezu alle sozialen Medien in Aserbaidschan gesperrt wurden, um effektiv dafür zu sorgen, dass allein die Staatspropaganda den Narrativ aller Medien dominieren kann.22

Noch alarmierender ist Aserbaidschans Umgang mit der (internationalen) Presse: keine internationalen Journalisten sind erlaubt nach Aserbaidschan einzureisen (abgesehen von türkischen) und regelmäßig werden Journalisten auf armenischer Seite beschossen - beispielsweise wurden französische Le-Monde-Journalisten während sie sich in zivilen Häusern befanden durch aserbaidschanische Artillerie schwer verletzt.23

Allein ein Blick auf die nackten Zahlen (siehe Grafik) zeigt, dass die beiden Länder von großen Unterschieden zueinander geprägt sind: Das islamisch geprägte Aserbaidschan verfügt über eine Bevölkerung von rund zehn Millionen EinwohnerInnen, ein BIP von 47 Mrd. USD und Militärausgaben von 24 Mrd. USD im Zeitraum von 2009 bis 2018. Das christliche Armenien wiederum weist eine Bevölkerung von knapp drei Millionen EinwohnerInnen, ein BIP von 14 Mrd. USD und ein Militärausgaben von rund 4 Mrd. USD im gleichen Zeitraum auf. Während im Juli dieses Jahres in Baku DemonstranInnen den Krieg forderten, waren in Jerewan Rufe nach Frieden zu hören. Des Weiteren erlebte Armenien im Frühjahr 2018 eine friedliche, die sogenannte "samtene Revolution", die es schaffte, den zu dieser Zeit regierenden, oligarchischen Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan zum Rücktritt zu erzwingen und den oppositionellen Journalisten Nikol Pashinjan zum neuen Ministerpräsidenten zu küren.24

Seitdem bereitet sich Armenien darauf vor, sich innenpolitisch in die politische und wirtschaftliche Moderne zu entwickeln und sich nicht von der rauen Nachbarschaft von autoritären Regimen wie Aserbaidschan, Russland und der Türkei beeinflussen zu lassen. Armenien ist landumschlossen, nahezu gänzlich von seinen Nachbarstaaten isoliert und verfügt über keinerlei erwähnenswerten Rohstoff-Vorkommnisse. Daher setzt das Land für seine wirtschaftliche Entwicklung auf IT und Digitalisierung, wie es beispielsweise die TUMO-Bildungszentren, welche ebenfalls in Standorten in Berlin, Paris und Beirut vertreten sind, zeigen.25

Im Zuge dessen sind ArmenierInnen auch an keiner militärischen Auseinandersetzung, sondern, gerade auch durch die aus der samtenen Revolution getragene Hoffnung der Modernisierung des Landes, daran interessiert, staatliche Ausgaben in Bildung und Entwicklung, statt in eine militärische Aufrüstung zu investieren. Ferner befürchten ArmenierInnen weitere bevölkerische Verluste zu ihrer bereits durch mehrere ethnische Verfolgungen und Morde geschrumpfte Bevölkerungszahl.

Zahlen und Fakten: Aserbaidschan und Armenien26

Davon abgesehen könnte ein geografisch wie auch politisch und wirtschaftlich kleines Land wie Armenien in keinster Weise bei diesem Rüstungswettbewerb mithalten, wodurch es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Ungleichgewicht zu groß ist, um die Front noch halten zu können. Wenn allerdings in der westlichen Berichterstattung die Situation auf eine Weise dargestellt wird, in der "sich beide Seiten wieder bekriegen" würden und doch "beide Seiten [endlich] die Waffen niederlegen" sollten, erweckt dies den Anschein von zwei gleich starken Parteien, die beide vergleichbar aggressiv zueinander und gleichermaßen an der andauernden Gewalt verantwortlich sind.

Durch Formulierungen in offiziellen Erklärungen wie "beide Seiten sollten die Feindseligkeiten einstellen" wird ein wichtiger Gedanke ausgelassen: sowohl den Angreifer als auch das Opfer aufzufordern, die Kämpfe einzustellen, bedeutet, die Zielbevölkerung aufzufordern, die Verteidigung einzustellen, während sie von den Angreifern heftig angegriffen wird. Somit ist ein Narrativ der Gleichsetzung beider Staaten nicht nur überaus unfair, sondern kommt dem autoritären aserbaidschanischen Regime des Ilham Aliyev zu Hilfe.

Das falsche Narrativ: Russland als Schutzmacht der Armenier

Ein weiteres gefährliches Narrativ ist es, Russland als Schutzmacht Armeniens zu porträtieren. Russland bespielt traditionell und insbesondere bis heute beide Seiten.27 Über die letzten Jahrzehnte wurde daraus ein gutes Geschäft entwickelt - nach dem Prinzip: Der Verkauf von Raketen an Aserbaidschan, der Verkauf von Raketenabwehrsysteme an Armenien.28 Wie es auch der führende Südkaukasus-Experte Thomas de Waal betont, hat Russland Interesse daran, den Status-Quo in der Region, welche es als ein Sicherheitspuffer vor seinen Grenzen, besonders in Hinblick auf die Türkei, ansieht, beizubehalten.29

Dies ist auch der Grund dafür, dass Russland in Armenien ausschließlich entlang der türkischen und nicht der aserbaidschanischen Grenze seine Militärstützpunkte aufgestellt hat. In verschiedenen Berichten, wie beispielsweise der Tagesschau, wurde fälschlicherweise implizit vermittelt, dass Russland Truppen und Waffen in der Region von Berg-Karabach stationiert hätte.30 Russland als Schutzmacht Armeniens einzig auf Basis der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu sehen, ist zudem höchst reduktionistisch.

Abgesehen von der Tatsache, dass Aserbaidschan und Armenien zeitgleich im Jahre 1994 der Organisation beigetreten sind und es nichtsdestotrotz regelmäßig zu Ausschreitungen entlang der Grenze kam und kommt, gibt es kaum Indizien dafür, dass die OVKS potent genug wäre, um ihren Verpflichtungen tatsächlich nachzukommen - zumal die OVKS nur Armenien, nicht aber die Republik Arzach (Bergkarabach) einschließt. Somit ist es bisher als ein leeres Konstrukt großer Symbolik zu verstehen, dessen reale Praxis noch unter Beweis gestellt werden muss.

Was sich jedoch in der letzten Zeit veränderte, ist die wachsende türkische Ambition in der Region, die dem turkstämmigen Aserbaidschan volle militärische Unterstützung zuspricht.31 Dies verleitet Russland gleichzeitig dazu, Aserbaidschan mit Zugeständnissen entgegenzukommen, um es in seiner Einflusszone zu behalten. Als es zu den Ausschreitungen im Juli 2020 kam, wurde unmittelbar klar, dass Russland weiterhin seine Balance zwischen den beiden Ländern behalten und seine Beziehung zu Aserbaidschan nicht riskieren wollte.

Russland sprach erneut davon, dass beide Parteien die Waffenruhe einhalten sollten und bezog keinerlei Stellung zur Verteidigung Armeniens, wie es der Charakter einer sogenannten "Schutzmacht" erwarten und hoffen ließe. Dieses reduktionistische Narrativ ist deshalb so gefährlich, weil es den Anschein von Sicherheit und Schutz erweckt, in Wahrheit jedoch steht Armenien alleine da und muss wieder einmal alleine - in der nahezu gänzlich umgebenden feindlichen Nachbarschaft - um die nackte Existenz und das Überleben kämpfen.

Guter Journalismus braucht Mut

Anhand der oben präsentierten Argumente möchte ich noch einmal betonen, dass eine laxe und oberflächliche Berichterstattung gefährliche Folgen nach sich ziehen kann - zumal die Berichte hinsichtlich der jüngsten Ausschreitung den Beiträgen vom Juli dieses Jahres sowie den Beiträgen vom April 2016 höchst ähneln. Das erweckt den Anschein, als ob sich in der Zwischenzeit nichts geändert habe und sich erneute, kriegerische Ausschreitungen stetig wiederholten.

Ferner werden viele Fragen nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Warum gibt es diesen Konflikt noch? Wer ist der Aggressor? Warum scheint die Lage so intransparent? Warum wird der Aggressor nicht zur Rechenschaft gebracht? Wie kann man der Gewalt ein Ende setzen? Welche Mechanismen zur Einhaltung der Waffenruhe stehen zur Verfügung und wie können diese genutzt werden? Wie kann mehr Transparenz in Zukunft geschaffen werden und der Weg für einen Frieden geebnet werden?

Werden solche Fragen nicht gestellt, eröffnet die Berichterstattung den Raum für ein gewaltiges Informationsvakuum, indem insbesondere autoritäre Regime diesen mit Propaganda und Fake-News bespielen können. Guter Journalismus hingegen informiert angemessen und legt auf dieser Weise Propagandisten und Fake-News das Handwerk.

Wer ist der Aggressor?

Wer sich mit dem Konflikt beschäftigt und sich allen voran auch nur das ungleiche Stärken- und Bündnisverhältnis anschaut, wird feststellen, dass Armenien keinen einzigen Anreiz hätte, Aserbaidschan anzugreifen, was der Südkausus-Experte Thomas de Waal ebenfalls bestätigt. Die von Armeniern seit Jahrtausenden bewohnte Region Bergkarabach ist frei, möchte lediglich in Frieden und insbesondere Unabhängigkeit leben.

Warum wird der Aggressor nicht gerügt?

Es gibt drei außerordentliche Faktoren, die es Aserbaidschan erlauben, diese aggressive, teils kriegslustige Politik fortzusetzen. Zum einen sind es geopolitische Interessen: Aserbaidschan hat Erdöl und Erdgas, welches besonders für Europa von strategischer Bedeutung ist. Zum anderen werden diese "Petrodollars" geschickt genutzt, um sich Einfluss in der internationalen Politik zu erkaufen. Etliche Skandale wurden bereits aufgedeckt, auch im europäischen Parlament und im deutschen Bundestag - dies wirft ein Licht auf die umfassende "Kaviardiplomatie" Aserbaidschans, die große Geldsummen und teure Geschenke beinhaltet, um die Gunst einflussreicher Politiker zu gewinnen.32

Prominente Beispiele in Deutschland sind die laufenden Korruptions- und Bestechungsermittlungen gegen zwei CDU/CSU-Abgeordnete - Eduard Lintner und Karin Strenz -, denen u.a. vorgeworfen wird, im Austausch von Millionen von Euros pro-aserbaidschanische Politik im Auswärtigen Ausschuss und der Deutsch-Südkaukasischen Parlamentariergruppe geführt zu haben.33

Nicht zuletzt bleibt zu erwähnen, dass Aserbaidschans Politik nicht nur politisch, sondern auch militärisch und finanziell durch Erdogans Türkei unterstützt und angetrieben wird. Seit Kurzem schickt die Türkei nun auch Rebellen aus Syrien nach Aserbaidschan, um dort gegen Armenien zu kämpfen, wie u.a. der Guardian berichtet.34 Außerdem führt die zweitgrößte NATO-Armee nun immer häufiger militärische Übungen mit seinem Waffenbruder Aserbaidschan aus. Immer größer werden ihre Hoffnungen, das christliche Armenien ein für alle Mal zu überrennen und den Traum eines Pantürkischen Großreiches von Istanbul bis nach Almaty, das im Zuge des Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg nicht gänzlich vollendet werden konnte, zu verwirklichen.

Wie kann man der Gewalt ein Ende setzen?

Permanente internationale Beobachter wären ein Instrument, um Transparenz und Rechenschaftspflicht an der Grenze herzustellen. Damit es stets klar ist, wer die Angriffe, wann und aus welchen Gründen begonnen hat und sich nicht eine endlose Schleife von Anschuldigungen entwickelt.

Armenien und Bergkarabach versuchen seit Jahren, diese Maßnahmen durchzusetzen. Aserbaidschan hat diese Vorschläge stets vehement abgelehnt, um solche Situationen der Intransparenz ausnutzen zu können: Es erlaubt ihnen, Bergkarabach und Armenien anzugreifen und sich der Rechenschaft zu entziehen, indem es behauptet, die Gegenseite hätte zuerst angegriffen. Auf diese Art und Weise sind die internationalen Medien und die weltweite Politik paralysiert und scheuen sich davor, Position zu beziehen. Dies spielt umso mehr den autokratischen Herrschern um Erdogan und Aliyev Tyrannen in die Hände, die ein solches Informationsvakuum mit Propaganda und Fake-News füllen und sich der Rechenschaft der internationalen Gemeinschaft entziehen können.

Vieles weist darauf hin, dass die aserbaidschanische Regierung, unterstützt durch Erdogans Türkei, kein Interesse am Frieden hat. Während Armenien den UN-Waffenstillstandsaufruf anlässlich der weltweiten Pandemiesituation unterzeichnete und ein starker Befürworter dessen war, weigerte sich Aserbaidschan diesem zuzustimmen und griff stattdessen wenige Wochen später im Juli Armenien an.

Dieser Angriff war anscheinend ein Testlauf, um zu sehen, wie die internationale Gemeinschaft reagieren würde, nämlich kaum: Die OSZE, die traditionell das führende Organ für diplomatische Lösungen des Konflikts ist, befindet sich derzeit in einer Führungskrise und verhält sich dementsprechend sehr passiv. Trumps USA hatte schon damals kein reges Interesse für den Konflikt und sind mittlerweile völlig mit der nahenden Präsidentschaftswahl beschäftigt. Während die gesamte Welt mit der drohenden zweiten Pandemiewelle kämpft und somit abgelenkt ist, sehen Aliyev und Erdogan eine Möglichkeit, ihre pantürkischen Ziele auf alle Kosten zu verwirklichen.

Es bleibt unklar, wie viele Tage die Armenier in Bergkarabach die Front noch halten können, aber sollte sie durchbrochen werden und aserbaidschanische Streitkräfte in Bergkarabach oder gar in Armenien einmarschieren, werden die Bilder und Berichte an den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges erinnern - und es wird erneut zu spät sein, um einzugreifen.

Samuel Maier ist Unternehmensberater und lebt in München.
Er hat Politik, Wirtschaftswissenschaften und Geschichte studiert.

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