Die Bewegung als Bewegung
Seite 2: Die Krisenursachen werden personifiziert
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Dieser unsagbar dumme Gedankenmüll, der die Folgen von Hartz-IV und Agendapolitik in einer sozialdarwinistischen Pseudotheorie biologisiert, stellt aber auch das perfekte Muster für die weitere ideologische Entfaltung der neuen deutschen Rechten dar. Die operiert ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einer krisengeschüttelten spätkapitalistischen Gesellschaft. Schon der historische Nationalsozialismus wurde von Krisenideologie angetrieben, die in Wechselwirkung mit den großen Krisenschüben der Zwischenkriegszeit erstarkte (Erster Weltkrieg, gescheiterte Revolution, Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise). Und genauso verhält es sich auch aktuell. Die Sarrazindebatte brach kurz nach Ausbruch der Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2007-09 aus, als hysterische Abstiegsängste die deutsche Mittelklasse plagten und sozialdarwinistische Abgrenzungsreflexe gegenüber der anwachsenden Unterschicht um sich griffen. Die Eurokrise ließ den gegen die "faulen Südländer" gerichteten Kulturalismus und Rassismus explodieren, während die Flüchtlingskrise dem Hass auf Muslime und Menschen aus dem arabischen Kulturkreis in der Öffentlichkeit etablierte.
Ein jeder Krisenschub lässt die entsprechenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Wahngebilde weiter anschwellen. Der ideologische Reflex ist - wie von Sarrazin etabliert - immer der gleiche: Ein Krisenschub wird immer auf halluzinierte rassische oder kulturelle Minderwertigkeiten der Krisenopfer zurückgeführt. Die Krisenursachen werden so personifiziert. Die Arbeitslosen sind schuld an Verblendung und Arbeitslosigkeit, die Südeuropäer sind schuld an der Eurokrise, die Araber sind schuld an Krieg und Staatszerfall in ihrer Region. Deutschland müsse sich folglich gegenüber diesen Regionen, gegenüber diesen "minderwertigen" Menschengruppen schützen - koste es, was es wolle. Und seien es die letzten zivilisatorischen Mindeststandards. Die rechtsextreme Praxis, die aus solch einer Ideologie letztendlich resultieren muss, ist offensichtlich: Krieg gegen Arbeitslose, gegen Ausländer, gegen "volksfremde" und "parasitäre" Elemente, die das "Gastrecht" missbrauchten.
Und es ist übrigens das historische Verhängnis des rechten Flügels innerhalb der Linken, die Ausbildung und das Anschwellen dieser ideologischen Dynamik in der Bundesrepublik mit einer populistischen Politik befördert zu haben (Mit nationalem Sozialismus gegen die AfD?). Sahra Wagenknechts Bemerkungen über das verwirkte Gastrecht von Flüchtlingen, die Forderungen nach der Abriegelung von Grenzen durch Oskar Lafontaine sowie die Umtriebe eines Dieter Dehm haben zur Verfestigung der rechtsextremen Ideologiemuster in der deutschen Öffentlichkeit beigetragen.
Die dargelegten ideologischen Reflexe zur Personifizierung der Krisenursachen werden so zusätzlich durch "Linke" legitimiert, die an einer kategorialen Kritik des Kapitalismus längst nicht mehr interessiert ist. Die Rechten in der Linken sind somit Teil dieses ideologischen Prozesses, qausi dessen Nachgeburt, ohne selber organisatorisch in eben solchen Parteien oder Zusammenhängen vertreten zu sein. Nochmals: Wagenknecht, Dieter Dehm oder Lafontaine sind keine Nazis, sie müssen selber auch gar nicht zukünftig zu Nazis werden - sie tragen aber zur Etablierung, zur "Radikalisierung" des entsprechenden reaktionären Narrativs bei, zur Verfestigung der protofaschistischen Ideologiesplitter, die sich schon in Millionen von Köpfen ganz gewöhnlicher Bürger finden lassen.
Der Prozess der rechtsextremen "Radikalisierung von Ideologie" lässt sich sehr gut an dem Querfront-Projekt konkret nachvollziehen, an dem Dieter Dehm öffentlich beteiligt war: an den längst in Vergessenheit geratenen Montagsdemos. Hierbei trafen sich im Sommer 2014 wirre Verschwörungstheoretiker, rechte "Reichsbürger" und versprengte Linke, um mit taktischer Unterstützung von Teilen der Linkspartei die Querfront gegen Krieg, Finanzkapital und Sozialabbau zu üben. Diese "Montagsdemos" und Mahnwachen, aufbauend auf verkürzter Kapitalismuskritik, bildeten letztendlich aber nur den organisatorisch-praktischen Durchlauferhitzer, von dem dann PEGIDA und die offen faschistische deutsche Rechte profitieren konnte. Die Querfrontstrategie der "Mahnwachen-Bewegung" bildete die Initialzündung für eine offen faschistische Massenbewegung auf Deutschlands Straßen, anstatt der Rechten das Wasser abzugraben. Mitunter sind diese beiden ressentimentgeladenen Protestbewegungen in etlichen Städten tatsächlich ineinander übergegangen, oder die Teile der Anhängerschaft der Montagsdemos sind zu PEGIDA und Co. übergelaufen. Die an den Montagsdemos beteiligten "Linken" fungierten somit als - unfreiwillige - Geburtshelfer einer rechten Massenbewegung.
Wohin treibt das Ganze, diese partei- und strömungsübergreifende reaktionäre Bewegung, die sich zurücksehnt nach der guten alten Zeit, nach den 70er, 50er oder gleich 30er Jahren? Zum einen hat ja Sarrazin in einem einzigen Punkt tatsächlich recht: Deutschland verblödet tatsächlich - im Gefolge der krisenbedingt einsetzenden allgemeinen Verrohung. Der Sozialdarwinist Sarrazin ist der beste Beweis dafür, dass dieser Prozess der Verrohung und schlichten Verdummung auch die Funktionseliten ergriffen hat. Dabei wird inzwischen das Ressentiment mit regelrechter Aggressivität in den öffentlichen Raum hineingetragen. Ausgehend von Sarrazin hat sich eine allgemeine Tendenz etabliert, die eigene Blödheit wie eine Monstranz vor sich zu tragen, Respekt für den menschenverachtenden Wahn zu fordern, den man ausgebrütet hat - und sich sofort unterdrückt zu fühlen, sobald irgendwo noch Widerspruch erschallt. Der SPD-Politiker hat auch hier ein Bespiel geliefert für die Millionen von Trolls, die ihm im ganz persönlich modifizierten Wahn folgten. Die Rechtsverschiebung des öffentlichen Diskurses, die allgemeingesellschaftliche "Verrohung", bilden die Vorstufen zur Barbarei. Dies ist ein breiter gesellschaftlicher Prozess.
Es gibt aber keine Tendenz zur Ausbildung einer einheitlichen rechtsextremen Großideologie, wie sie der Nationalsozialismus hervorbrachte. Stattdessen schwillt eine Vielzahl von Ideologiesplittern an, die im rechtsextremen Hassschwarm, wie er sich im Internet konstituierte (Fluchtpunkt Amok) beliebig kombiniert und modifiziert werden. Jeder Internettroll schleppt seine eigene kümmerliche Kleinideologie mit sich.
Diese Individualisierung des Wahns - besser: seine Molekularisierung - verweist aber auch auf die Unbeständigkeit der Gruppierungen, Parteien und Zusammenhänge, die der Neo-Rechtsextremismus hervorbringt. Auch hier herrschen rasch fluktuierende, schwarmartige Organisationsformen vor, die im Pogrom kulminieren. Die AfD könnte sich genauso als ein Übergangsphänomen erweisen wie Pegida oder die "Mahnwachen". Das Racket, die lokal agierende Bande, gegebenenfalls in nationalen Netzwerken lose verankert, scheint die präferierte, zukunftsweisende Organisationsform des Rechtsextremismus zu sein. Die zentral gesteuerte, nationale Großpartei, wie der FN in Frankreich, könnte ein rechtsextremes Auslaufmodell zu sein - wie es objektiv und krisenbedingt auch die Nation ist (Die Nation in der Krise).