Die Dimension der Lüge
Wie das politische System des Westens seine eigene Glaubwürdigkeit unterminiert
Der Machtkampf in der Ukraine und das abgehörte Telefonat von Victoria Nuland ("Fuck the EU") werfen ein neues Schlaglicht auf die Diskrepanz zwischen angeblicher und tatsächlicher Politik des Westens. Während die Medien in diesem Zusammenhang vor allem die "sprachliche Entgleisung", den "Fauxpas" bzw. die "Peinlichkeit" der Enthüllung betonen, wird der eigentliche Skandal fast schon wie eine Selbstverständlichkeit behandelt: Nicht nur die Russen manipulieren in der Ukraine, auch der Westen zieht hinter den Kulissen Strippen, an denen die Führer der "demokratischen Opposition" eher wie Marionetten aussehen.
Nuland, im US-Außenministerium für Europa zuständig, ist dabei ein klassischer Vertreter für die Art von "Troubleshooter", die eine Außenpolitik exekutieren, die in auffälliger Weise unabhängig ist vom jeweils amtierenden Präsidenten oder dessen Parteizugehörigkeit.
Die Karrierediplomatin arbeitete bereits unter George Bush dem Älteren Anfang der 1990er Jahre an der Botschaft in Moskau, als dort noch Boris Jelzin mit tatkräftiger Unterstützung westlicher Berater regierte. Nulands Ehemann Robert Kagan gründete 1997 die Lobbygruppe "Project for the New American Century" mit. In deren nur ein Jahr vor den Anschlägen von 9/11 veröffentlichten Studie "Rebuilding America's Defenses" wurde "ein neues Pearl Harbor" bekanntlich als wünschenswert dargestellt.
Nuland selbst arbeitete unter Clinton und Bush Junior zeitweise als NATO-Botschafterin in Brüssel, wo sie unter anderem eine Schlüsselrolle bei der fragwürdigen Ausrufung des NATO-Bündnisfalls nach dem 11. September 2001 einnahm. Auch die NATO-Osterweiterung fiel dort in ihr Ressort. Anschließend arbeitete die Expertin für Machtausdehnung mehrere Jahre im Stab von Vizepräsident Cheney.
"Regime Change Management"
Nun also der Job als Strippenzieherin im US-Außenministerium. Und wieder einmal steht - wie schon bei der sogenannten "Orangenen Revolution" von 2004 - die Ukraine im Mittelpunkt des Geschehens. Altstratege Zbigniew Brzezinski hatte bereits Mitte der 1990er Jahre die Einbeziehung des Landes in den Einflussbereich von EU und NATO angemahnt, da das Land ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt sei und Russland ohne die Ukraine kein eurasisches Reich mehr sein könne.
Abseits dieser großen Linien gibt das abgehörte Telefonat (Transkript der BBC) von Nuland mit dem US-Botschafter in Kiew jetzt einen kleinen Einblick in den Alltag des routinierten "Regime Change Managements". Die komplizierten slawischen Namen der Oppositionsführer kürzt Nuland dabei der Einfachheit halber ab: Klitschko wird zu "Klitsch", Jatsenjuk zu "Jats" - fast wie Helden in einer Zeichentrickserie.
Nuland: "Ich denke nicht, dass Klitsch in die Regierung sollte. Ich denke, das ist nicht notwendig. Ich halte es für keine gute Idee."
Botschafter, nach einer kurzen Pause: "Ja. Ich meine … wenn es darum geht, dass er nicht in die Regierung kommt, sollte man ihn einfach draußen lassen, wo er seine politischen Hausaufgaben machen kann und so weiter. (…)"
Nuland: "Ich denke, Jats ist der Typ, der die wirtschaftliche Erfahrung mitbringt, die Regierungserfahrung."
Auch die UN wird laut dem Telefonat vorrangig als Marionette benutzt. Man habe "einen neuen Namen für den Typen von der UN", der käme demnächst nach Kiew, um dabei zu helfen, die Dinge miteinander zu verbinden: "And, you know, fuck the EU." Worauf der dienstfertige Botschafter antwortet: "Exactly".
So oder so ähnlich hat man sich solche Dialoge ja im Grunde vorgestellt. Eine standardisierte Managersprache, banal, kühl, auf den Punkt, wenig Zeit für Höflichkeiten. Der Skandal ist dabei natürlich nicht die Sprache, sondern die abgrundtiefe inhaltliche Diskrepanz des Gesprächs zum nach außen erklärten "Kampf für Demokratie und Freiheit", wie ihn viele verantwortliche Politiker in Deutschland und den USA ständig wiederholen und wie ihn Journalisten von ARD und ZDF allabendlich vom Kiewer Maidan-Platz in die deutschen Wohnzimmer tragen. Auch Nulands Telefonpartner, Botschafter Pyatt, hatte sich vor kurzem erst noch in schönster Sonntagsreden-Rhetorik bei einem Auftritt in der Kiewer Universität entsprechend geäußert:
Die Vereinigten Staaten unterstützen die Wahl des ukrainischen Volkes für Europa. Wir sind eure Freunde in dieser Unternehmung. Eine souveräne, demokratische und europäische Ukraine war immer unsere Hoffnung. Es ist eure Entscheidung - und niemand sonst hat ein Recht euch davon abzubringen. Niemand.
Dieses "es ist eure Entscheidung" ist offenkundig die große Lüge. Es ist dies im Grunde die Lüge des westlichen politischen Systems insgesamt. Die Liebe zur Demokratie ist geheuchelt, ob im Verhältnis zur Ukraine oder auch zu anderen geopolitischen "Dreh- und Angelpunkten" wie Ägypten, Syrien, Libyen oder Afghanistan. Früher nannte man es beschönigend "Realpolitik", doch inzwischen hat das Lügen eine Dimension angenommen, die jedes Maß sprengt.
Der Zwang zur Lüge
Wer sich in den Foren von Spiegel Online, der Tagesschau, der ZEIT etc. umschaut, wer mit Freunden und Kollegen spricht, der erkennt schnell: Das Vertrauen in offizielle politische Erklärungen und auch in die zugehörige Berichterstattung hat in einer langen Abwärtsbewegung nun DDR-Niveau erreicht. Den Verlautbarungen und Kommentaren wird einfach nicht mehr geglaubt. Man lacht darüber. Man ist zornig. Die Akzeptanz löst sich auf.
Der Zwang zur Lüge steht dabei in direkter Beziehung zur Dysfunktionalität des ökonomischen Systems. Letztendlich entspringt er dem Wachstumszwang, der seinerseits zurückführbar ist auf das Prinzip einer Geldschöpfung in Form von zinsbelasteten Schulden. Das Gesamtsystem ist ohne Frage noch wesentlich komplexer, mit vielen untereinander verflochtenen Akteuren und Interessen. Doch die grundlegende Logik der sich beschleunigenden Konzentration von Reichtum, wie auch der daraus ableitbaren wachsenden globalen Spannungen lassen sich klar auf dieses Prinzip zurückführen.
Während das ökonomische Weltsystem unhinterfragt weiter exekutiert wird - wenn auch mit kleineren Einschränkungen und Auflagen hier und da - und während die Ungleichgewichte dabei kontinuierlich zunehmen, wird sich zwangsläufig auch die Dimension der öffentlichen Lüge weiter entfalten.
Kein Wunder, dass jedem etwaigen Einbruch von Wahrheit in die öffentliche Debatte (9/11 Truth, Occupy Wall Street, Snowden Leaks) entweder mit Tabuisierung oder mit großer Hysterie begegnet wird. Auch dies ist letztlich ein Indiz dafür, dass die öffentliche Lüge zur akzeptierten Normalität im Gesellschaftsbetrieb geworden ist. Das System unterminiert damit seine eigene Glaubwürdigkeit. Es büßt rapide an ideeller Überzeugungskraft ein. Da diese aber die einzige mögliche Basis einer offenen und prosperierenden Gesellschaft ist, befinden wir uns derzeit auf einer abschüssigen und gefährlichen Bahn.
Der Ausweg - Abkehr vom Lügen - ist weniger einfach als er klingt. Denn er erfordert zugleich nichts weniger als einen Systemwechsel. Es kann nicht fortan einfach die Wahrheit gesagt werden, das ökonomische System zugleich aber beibehalten - dies wäre einfach nur der Gipfel des Zynismus und das Ende jeder Form von Humanismus.