Die "Durchseuchung" kommt, wir sehen gleichgültig zu
Zwischen Ukraine-Krieg und Diskurs-Hopping: Was ist mit der kritischen Reflexion der Coronamaßnahmen geschehen?
Österreich führt die Maskenpflicht wieder ein, weil die Covid-Inzidenzen in den letzten Tagen stark gestiegen sind. In Deutschland wurden zwei Jahre nach Beginn der Lockdown-Maßnahmen "Lockerungen" beschlossen. Viele Menschen haben sie bereits umgesetzt.
Wenn man aktuell am Freitagabend durch die bevölkerten Szenebezirke der größeren Städte geht, sind die Menschen, die Masken tragen, eindeutig in der Minderheit. Dabei steigen die Inzidenzen auch in Deutschland merklich.
Medial ist das Corona-Thema aber spätestens nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine weit nach hinten gerückt. Das war am letzten Donnerstag besonders deutlich zu sehen. Nachdem der ukrainische Präsident Selenksyj dem Bundestag zugeschaltet war, sollte es darüber keine Aussprache geben.
Vielmehr wurde die vorher geplante Tagesordnung umgesetzt. Thema war die Neuordnung des Infektionsschutzgesetzes. Die parteipolitische Auseinandersetzung darüber bei Corona-Höchstständen hätte eigentlich die mediale Debatte bestimmen müssen. Stattdessen gab es heftige Kritik an der Parlamentsmehrheit, weil sie statt über die Ukraine über die Coronamaßnahmen diskutiert hat.
Corona-Debatten nur noch Selbstbeschäftigung?
Eine Kommentatorin des Tagesspiegel rügt: "Die Bundesregierung weiß keine Antwort auf die Bitten des ukrainischen Präsidenten. Deutschland beschäftigt sich lieber mit sich selbst".
Besser kann man gar nicht deutlich machen, dass sowohl in den Medien wie auch in der Politik und mehr noch in der Wirtschaft viele Betroffene ein Ende der Corona-Debatten herbeisehnen.
Die kapitalistische Normalität soll möglichst schnell wieder durchgesetzt werden. Dass die Pandemie nun keineswegs besiegt ist, spielt dann keine Rolle mehr. Gesundheitsminister Lauterbach, der ja selbst bei Teilen der ZeroCovid-Bewegung wegen seiner Warnungen vor zu frühen Öffnungen Unterstützer hatte, bringt als Minister klar zum Ausdruck, worum es in der ganzen Corona-Debatte immer gegangen ist.
Das Gesundheitssystem ist aktuell nicht überlastet und da ist es auch für ihn vertretbar, dass trotz hoher Inzidenzen ein Großteil der Beschränkungen fallen sollen. Einige Länder haben die Verordnungen zumindest noch bis 2. April verlängert und ziehen sich damit den Unmut der Wirtschaft zu, die möglichst schnell zur vollen Normalität zurückkehren will.
Das politische Ziel war es hingegen nie, die sogenannten vulnerablen Gruppen besonders zu schützen. Denn für die ist die neue, alte Normalität eher noch eine zusätzliche Gefahr. Darauf machte die Journalistin Susanne Messmer in der Taz aufmerksam.
Nach einem kurzen Sommer der Freiheit und Lebensfreude 2021 leben wir seit einem Dreivierteljahr wieder so isoliert, wie uns das möglich ist, ohne dabei verrückt zu werden. Wir arbeiten fast ausschließlich im Homeoffice, machen nur die Termine, die wir online nicht machen können, und treffen uns gerade so oft mit unseren Freunden, dass sie noch unsere Freunde bleiben ….
Der Grund für all das: Mein Mann ist im Sommer schwer erkrankt. Er hat immer noch mit dieser Krankheit zu tun. Seine Ärzte sagen nicht alle dasselbe. Aber der Tenor ist und bleibt, dass er sich trotz dritter Impfung im Dezember im Moment besser nicht mit dem Coronavirus anstecken sollte.
Susanne Messmer, Taz
Diskurs-Hopping in Teilen der Linken – von der Pandemie zur Ukraine
So wie der Mann von Susanne Messmer sind es Hunderttausende Menschen, die sich lieber nicht mit dem Coronavirus anstecken sollten. Immer wird darauf hingewiesen, dass es längst nicht nur alte oder vor erkrankte Menschen betrifft, die aber besonders.
Linke Gruppen haben in den letzten zwei Jahren immer betont, aus Solidarität mit diesen Menschen müsse das Konzept der sogenannten "Durchseuchung" der Gesellschaft mit Covid-19 verhindert werden. Das war ja der Plan verschiedener Wirtschaftskreise und konservativer Politiker in aller Welt seit Beginn der Pandemie. Nun wird es auch in Deutschland umgesetzt und tonangebend dafür ist in der Regierungskoalition die besonders wirtschaftsfreundliche FDP.
Nur sitzen jetzt die Grünen und Karl Lauterbach mit am Koalitionstisch und haben keine Einwände dagegen. Da haben sie jetzt andere Rollen in der Politik und ihre Rhetorik ist entsprechend angepasst. Doch erstaunlich ist, dass man in den letzten Wochen auch von den außerparlamentarischen linken Gruppen kaum noch etwas hört, die in den letzten zwei Jahren doch mit dem Verweis auf eben die vulnerablen Gruppen für die strenge Durchsetzung der Maßnahmen und eine Impfpflicht eintraten.
Es gibt Ausnahmen, wie eine am kommenden Sonntag geplante Demonstration unter dem Motto "Freiheit geht nur solidarisch: Gesundheit bleibt eine Klassenfrage". Da muss man sich schon fragen, ob zum viel kritisierten Event-Hopping nun auch das Diskurs-Hopping kommt.
Es wäre traurig, wenn die sehr strenge Einhaltung der Coronamaßnahmen bei einem Teil der außerparlamentarischen Linken vorwiegend eine Einübung des Einverständnisses mit staatlichen Maßnahmen gewesen wäre. Es wäre interessant zu untersuchen, ob die neue Liebe zur Nato bei manchen Linken damit zusammenhängt.
Statt der sogenannte Querdenker wäre dann der "Putin-Versteher" das neue Feindbild. Dabei wäre es zwei Jahre nach Beginn der Lockdownmaßnahmen an der Zeit für kritische Debatten auch und gerade über die Rolle, die die gesellschaftliche Linke darin gespielt hat.
Eine merkwürdige "Staatsgläubigkeit" konstatiert der emeritierte Politologe Joachim Hirsch, der sich bereits vor einigen Monaten in einem Text fragte, warum die Linke ihre Instrumente, die Kritik an Staat und Nation in der Pandemie nicht ausgepackt hat. Er endet pessimistisch:
Immerhin waren es seit der Studierendenbewegung linke Initiativen und die darauf folgenden Entwicklungen, etwa die Entstehung der so genannten neuen sozialen Bewegungen, die allmählich demokratischere und liberalere Verhältnisse durchzusetzen vermochten. Es ist zu befürchten, dass dies wir in Zukunft kaum mehr der Fall sein wird. Die autoritäre Entwicklung, die durch die Corona-Krise und die darauf bezogene staatliche Politik erheblich verstärkt wurde, kann sich dadurch noch ungehemmter fortsetzen.
Joachim Hirsch, Was ist aus der Linken geworden?
Zumindest die Positionierung eines Teils der gesellschaftlichen Linken auch in der Ukraine-Krise auf der Seite der Bundesregierung und der Nato scheint seine Befürchtungen zu bestätigen
Bilanz von einem Jahr Zerocovid
Im Januar 2021 schienen Teile der gesellschaftlichen Linken endlich in der Pandemie eine eigene Rolle gefunden zu haben. Die Kampagne Zerocovid ist mit dem Vorhaben angetreten, dafür zu sorgen, dass die Inzidenzen möglichst auf null reduziert werden soll. Es gab ein kurzes mediales Interesse, das aber schnell abebbte.
Dass nun das "Desaster der Durchseuchung" durchgesetzt wird, die die Initiative verhindern wollte, ist auch eine Niederlage ihres Ansatzes. Über die möglichen Gründe werden am kommenden Montag Yaak Pabst, Wolfgang Hien und Frederic Valin in einer Online-Veranstaltung unter dem Motto "Vollständige Lockerung – zurück zur kapitalistischen Normalität" diskutieren.
Es ist eine der wenigen Veranstaltungen, die über ein Jahr später noch mal auf das Konzept Zerocovid kritisch eingeht. Es ist ja das Problem des Diskurs-Hoppings, dass man Themen aufgreift und dann schnell fallenlässt, wenn sie nicht so funktionieren wie erwünscht. Eine Auseinandersetzung über die Gründe, eine kritische Reflexion, die dann auch Lernprozesse bewirken könnte, wird oft gar nicht oder nur in winzigen Kreisen geführt.
Dann ist man dazu verurteilt, die alten Fehler zu wiederholen, wenn dann die Inzidenzen wieder so steigen, dass auch die Medien und die Politik sich wieder daran erinnern, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. In Österreich kam dieser Termin rasant.
Der Autor hat gemeinsam mit Anne Seeck und Gerhard Hanloser im Verlag AG Spak das Buch Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit herausgegeben.