Die Flucht der Weißen in den USA
Wie hätten sie ihren Rassismus am liebsten: verlogen oder offen?
Wie wir in Die No-Go-Gebiete der USA berichtet, lebten im Süden der USA schon seit alters her Schwarze und Weiße nebeneinander - zwar nicht in einer vorbildlichen Multikulti-Gesellschaft, aber immerhin im engen Kontakt. Im Norden nicht die Spur davon: Während die Republikaner Mitte des 19. Jahrhunderts sich stark für die Befreiung der Sklaven einsetzten, ließ die Unterstützung stark nach, als es darauf ankam, die Schwarzen zu Hause zu integrieren - so jedenfalls das Fazit von James Loewen in seinem Buch "Sundown Towns". Am Beispiel von Chicago und Detroit im Norden und New Orleans im Süden lässt sich erkennen, wie unterschiedlich die Entwicklungen waren. Wo keine andere Quelle angegeben ist, verweise ich hiermit auf Loewens Buch.
Der "Dissimilarity Index" ist ein Versuch, den Grad der Segregation nach Wohngebieten zu ermitteln. Wohnen also Schwarze und Weiße jeweils unter sich, steigt die Zahl. Leben Schwarze und Weisse gemischt, tendiert die Zahl gegen 0. Wie man hier sieht, stehen Detroit und Chicago ganz oben; New Orleans gehört nicht auf die Liste der 20 am wenigsten integrierten Städte in dieser Analyse. Mehr noch: Bis auf zwei Städte in Alabama (Plätze 14 & 16) sind alle Städte auf der Liste entweder im Mittelwesten oder in Neuengland. Hier wird jedoch nur Schwarz/Weiß untersucht, es gibt aber auch Statistiken für Hispanic/Weiß/Schwarz. Im Dissimilarity Index für Hispanic/White rangiert Chicago an erster Stelle. Quelle: William Frey und Dowell Myers Analyse der Census 2000
The Windy City
Noch 1927 machte die schwarze Bevölkerung lediglich 8% von Chicago aus. Trotzdem war dort die Kacke am Dampfen.
Bereits 1919 kam es zu den größten race riots in der Geschichte der USA. Ein paar Schwarze hatten nämlich an einem Teil des Strands von Lake Michigan gebadet, der nur Weißen vorbehalten war. Diese steinigten die Unbefugten an Ort und Stelle. Die Schwarzen in Chicago protestierten, weil die Polizei nichts unternahm, und es kam in der South Side zu Ausschreitungen.
Das weiße Chicago reagierte prompt, und zwar mit einer neuen Strategie: Wenn Schwarz und Weiß nicht zusammenleben können, dann halt getrennt. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen viele Soldaten heim und suchten eine Bleibe. 1919 erließ das Chicago Real Estate Board (sozusagen der "Ring der Makler") so genannte covenants, in denen sich Makler und Bauherren verpflichteten, bestimmte Regeln einzuhalten.
Nehmen wir das Beispiel Kenilworth, einen Vorort von Chicago. Der Ende des 19. Jahrhunderts von Joseph Sears (Geschäftsführer der gleichnamigen Handelskette; der Sears Tower in Chicago, das höchste Gebäude Nordamerikas, ist nach ihm genannt) gegründete Vorort hatte vor allem vier Punkte in seiner Satzung:
- Die Liegenschaften müssen groß sein
- Es müssen hohe Baustandards eingehalten werden
- Keine Gassen erlaubt
- Nur Weiße
Punkt 4 ist offensichtlich rassistisch, aber auch ineffektiv, denn mit der Zeit durfte man so was nicht mehr so offen sagen. Deshalb wurden Punkte 1 bis 3 umso wichtiger. Sie haben eines gemeinsam: Sie zwingen Bauherren dazu, richtig viel Geld auszugeben. Und Geld hatten damals die wenigsten Schwarzen. Das Verbot von Gassen dient vor allem dazu, dass keine Sozialwohnungen gebaut werden, sondern nur Einfamilienhäuser. Der Chicagoer Vorort Deerfield stimmte damals in einem Bürgerentscheid, bei dem 95% der Wähler zur Urne gingen (!), gegen den Bau solcher Wohnungen; heute ist Deerfield zu 0,33% schwarz.
Heute sind solche Auflagen wie die Punkte 1-3 für Bauprojekte gang und gäbe. Man findet oft (gerade in Kalifornien) Verbote für Bürgersteige und Fahrradwege (es soll ja keiner kommen, der sich kein Auto leisten kann) oder für pick-up trucks (die Bauarbeiter sollen ja nicht auf die Idee kommen, selber hier einzuziehen). Das Verbot von "for sale"-Schildern im Vorgarten dient dazu, dass kein Privatmensch an den Maklern vorbei an ungebetene Parteien verkauft - schließlich setzen heute noch die Makler ungeschriebene Gesetze durch, indem sie Schwarzen erzählen, es gäbe gar keine Häuser im Angebot. Manchmal wird sogar vorgeschrieben, was ein Haus zu kosten hat: 260.000 bis 290.000 in einem Block, 290.000-320.000 im nächsten.
Wieso griff der Bund nicht durch? Weil er selbst solche Siedlungen baute. In einem Verfahren namens redlining wurden Stadtteile als ungünstig für "Eigenheimzulagen" auf Stadtplänen rot umrandet. 1938 sprach sich die Federal Housing Authority für die Beibehaltung der Rassen- und Klassentrennung nach Wohngebieten aus1:
If a neighbourhood is to retain stability, it is necessary that its properties shall continue to be occupied by the same social and racial classes.
1940 war 80% der Fläche von Chicago durch covenants gedeckt. Die Schwarzen lebten in den anderen 20%. 1943 wurde geschätzt, dass 80% der Schwarzen auf einer 13 Quadratkilometer kleinen Fläche hausten. Dabei war diese Praxis nicht außergewöhnlich: Beispielweise waren die Levittowns - sozusagen die ersten Modellvororte nach dem Zweiten Weltkrieg für das neue, motorisierte Amerika - laut ihrer Satzung "rein weiß" zu halten. Noch heute ist Levittown/New York nur zu 0.5% schwarz. Ein Comiczeichner, der in einem Levittown aufwuchs, brachte den Text der covenants von den Levittowns einmal im Wortlaut als Comic.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden wieder heftige Ausschreitungen statt, bevor der heuchlerische Rassismus während der Bürgerrechtsbewegung überhand nahm. 1946 besuchte ein schwarzer Soldat seinen weißen Kumpel aus dem Krieg zu Hause in einem weißen Stadtteil Chicagos. Die Nachbarn warfen Steine auf das Haus, bis der Schwarze abhaute. Nach dem Krieg wollte Chicago sogar Wohnungen für heimkehrende Soldaten bauen, aber als die Einwohner davon Wind bekam, kam es zu Ausschreitungen in den so genannten Airport Homes Race Riots. Die Schwarzen zogen nicht ein.
Und wenn ein Schwarzer sich ein teueres Haus in einem weißen Stadtteil leisten konnte? 1950 wollte der renommierte schwarze Chemiker Percy Julian in ein Weißenviertel von Chicago einziehen. Zum Erntedanktag, kurz bevor seine Familie eingezogen war, versuchten Nachbarn, das Haus abzubrennen. Julian zog trotzdem ein, aber die Stadtwerke weigerten sich, das Wasser anzustellen. 1951 versuchten dann die Nachbarn, das Haus mit Dynamit zu zerstören.
Julian blieb und obsiegte am Ende. Er und andere Schwarze, die sich für die gute Sache trotz Mordversuche einsetzten, setzten auch ihre eigenen Kinder Gefahr aus. So vertraute Julian darauf, dass die Chicagoer Polizei, die 1919 am Strand nicht eingriff, 1950 alles anders machen würde. Unzählige Schwarze schickten ihre wehrlosen Kinder während der Bürgerrechtsbewegung in Schulen, die noch gar nicht integriert waren - und hofften, dass irgendwer die gewalttätigen Weißen aufhalten würden. Wie viele Schwarze hatten ähnliches in den Jahrzehnten davor schon gemacht, und wir wissen nichts mehr von ihrem Misserfolg? Wer wundert sich, dass manche Schwarzen noch heute gerne unter sich sind?
Doch selbst wenn ein Schwarzer sich in einem Weißenviertel etabliert hatte, mussten sich die Weißen nicht geschlagen geben. Sie konnten in die Vororte flüchten: die white flight hatten begonnen. Sobald ein Schwarzer einzog, hieß es: "there goes the neighborhood". Und wer es sich leisten konnte, zog weg.
Und so schnell kann es gehen - z.B. im Vorort West Englewood:
Wie man sieht, konnte man sich mit den covenants bis 1960 recht gut schützen, nach 1990 kamen der wirtschaftliche Ruin und die allgemeine Abwanderung. Die Wegwurfgesellschaft wirft ihre eigenen Städte weg. Aber wohin gingen diese Weißen aus West Englewood?
Na, eben in weitere Vororte wie Chicago Lawn:
Wie man sieht, blieben sie nicht lange da. Es waren wieder irgendwelche Schwarzen einige Jahrzehnte später nachgezogen. Wohin nun? Na klar, in die Vororte der Vororte: die so genannten exurbs. Wie wäre es mit Kendall, Illinois, heute zu 1,23% schwarz? Das hält man sicher noch ein paar Jahrzehnte aus. Als Pensionär zieht man sowieso woanders hin - siehe unten.
Heute ist Chicago schön aufgeteilt. Meist erledigen die covenants und die ungeschriebenen Gesetze der Makler. 1970 gab es in allen Vororten Chicagos keine 500 Familien. 1980 waren 117 von 285 Vororten zu weniger als 1% schwarz. In den 1990ern zog die erste schwarze Familie in Berwyn ein (heute zu 1,3% schwarz). Der Wall Street Journal berichtete dann über den "Forschritt" in der Integration, als die Familie einzog. Als die Familie zwei Wochen später wieder fortzog, weil ihre Kinder fortwährend belästigt wurden, war in der WSJ nichts mehr zu lesen.
1981 ließ der Leiter der öffentlichen Schulen in Cicero, einem Chicagoer Vorort, verlauten:
There are no blacks in the Cicero Public Schools, and there will be none as long as I am superintendent.
Er blieb im Amt. 1951 wurden in Cicero die Habseligkeiten des Busfahrers Harvey Clark in seinen Vorgarten geschmissen und angezündet. Die Party dauerte einige Tage. Laut dem Wikipedia-Eintrag über Cicero war die Gewaltbereitschaft der Weißen so stark, dass die Bürgerrechtsbewegung dort keine Großdemonstration abhalten wollte.
Hätten Sie, geschätzter Leser fernab in Europa, als Schwarzer ihre Kinder in eine Schule dort geschickt? Einer muss den Anfang machen. Oder würden Sie, wie viele Weiße übrigens, aus Angst vor der Gewalt ihre Kinder woanders zur Schule schicken? Wie wäre es mit einem Vorort, in dem die Kriminalitätsrate niedrig ist? Zugegeben: Der ist zu 95% weiß wie Sie, aber Sie flüchten doch nicht, nein - Sie möchten nur die beste Schule für ihre Kinder!
Oder hätten Sie lieber eine gated community, die von einer Mauer umgeben ist, wo keiner an den Wächtern vorbeikommt, der nicht dort wohnt oder eingeladen ist? Ich empfehle Rosemont, ein Vortort von Chicago - zur Hälfte eine gated community.
Fazit? Chicago schneidet nicht bei der Integration von Schwarz und Weiß gut ab, aber immerhin: Es sähe noch schlimmer aus, wenn man Gary, Indiana - die Nummer 1 im Dissimilarity Index oben - hinzu zählen würde, denn Gary ist Teil von Greater Chicago oder Chicagoland, wie man so sagt. Und wenn man den Wikipedia-Eintrag zu Gary liest, möchte man spötteln: Das schönste an Gary ist der Blick auf Chicago. Aus dem Eintrag geht auch hervor, dass Gary seinen wirtschaftlichen Ruin bereits hinter sich hat, denn die Bevölkerung hat sich seit 1960 fast halbiert - der Integration der Wohngebiete (und daher der Schulen) sei Dank.
The Motor City
Detroit ist heute zu knapp 82% schwarz und zu mehr als 12% weiß - fast so einseitig schwarz wie Gary mit mehr als 84% schwarz und weniger als 12% weiß. Eine weitere Besonderheit von Detroit: Die Stadt schrumpft am schnellsten von allen US-Großstädten. Detroit hat heute nicht einmal halb so viele Einwohner wie 1950.
Das Michigan Theater ist das augenfälligste Symptom dieses Untergangs. Ursprünglich als Schauspielbühne gebaut wurde das Theater bald in ein Kino umgewandelt, aber es überlebte die Konkurrenz mit Kinos in den Vororten nicht. Heute dient es als die vielleicht schönste Parkgarage (siehe Bild) der Welt.
1943 kam es auch in Detroit zu gewaltigen race riots, weil die Schwarzen in Detroit noch nicht verstanden hatten, dass sie nicht einfach einziehen konnten, wo sie wollten.
Noch schlimmer war es jedoch in den Vororten. Bekanntlich hatte Ford eine Fabrik im Vorort Dearborn. 1956 arbeiteten 15.000 Schwarze in dieser Fabrik, aber Dearborn hatte keinen einzigen schwarzen Einwohner. Es durfte damals keine offenen Gesetze gegen schwarze Einwohner geben, aber der damalige Bürgermeister Orville Hubbard (1942-78) setzte auch ungeschriebene Gesetze durch:
As far as I am concerned, it is against the law for Negroes to live in my suburb.
Bereits 1831 berichtete De Tocqueville über diese Einstellung, als er in Philadelphia fragte, weshalb die Schwarzen nicht zur Urne gingen, obwohl sie laut Gesetz wählen durften. Die Antwort:
The law with us is nothing if it is not supported by public opinion.
Noch heute wird Hubbard in Dearborn geliebt. Die Webseite Dearborn Area Living lobt ihn über den grünen Klee, und in den Leserkommentaren zu einer Biographie über Hubbard bei amazon.com wird der Rassist schmerzlich vermisst:
Hubbard was a hero to the citizens of Dearborn, Michigan. Hubbard knew what his constituents wanted, and he delivered. Never will there be a mayor as great or as popular as Orville L. Hubbard.
1966 versuchte die erste schwarze Familie, sich in Dearborn niederzulassen. Die Nachbarn stellten ihnen zur Begrüßung Grabsteine im Garten auf. Die Familie zog 1968 aus. Heute ist Dearborn zu 1,28% schwarz - aber allerdings auch zu rund 40% arabisch. Die Weißen ziehen zwar Leine und gehen in die exurbs, aber die Schwarzen erinnern sich an Hubbard und bleiben fern. So entstand die zweitgrößte arabische Gemeinde in den USA, was wiederum beweist, dass die USA lange nicht mehr nur aus Schwarz und Weiß besteht.
Viel Wind wird über die Mauer zwischen den USA und Mexiko gemacht, aber weniger bekannt ist die Mauer an der Alter Road zwischen der schwarzen Stadt Detroit und dem zu mehr als 92% weißen Vorort Grosse Point Park - eine Sundown Town. Sie wurde errichtet, um schwarze und weiße Stadtteile zu trennen.
Fazit: Detroit schneidet auch nicht gut ab.
New Orleans - the Crescent City
Wir verlassen nun Loewens Buch. Die Stadt New Orleans erwähnt er kein einziges Mal. Der Rassismus dort war eben anders als im Norden, wie er selbst über den Vergleich zwischen Mississippi und dem Norden schreibt:
As racist as Mississippi was during the civil rights struggle, I lived there for eight years and never heard of a town or even an individual gas station that would not sell gasoline to African Americans.
Auch andere Experten rätseln darüber, weshalb die Integration heute "besonders auffällig im Süden und im Westen ist", wie die Chicago Tribune 2001 berichtete. Bekanntlich war New Orleans der größte Umschlagplatz im Süden für Sklaven, bis die Union die Stadt 1862 eroberte. Aber neben Sklaven gab es auch freie Schwarze, und diese hatten 1840 sogar ihr eigenes Théatre de la Renaissance gegründet. Aus diesem Umfeld kamen sogar Komponisten wie Edmond Dédé (1827-1901 - hier ein Ausschnitt aus seinem Chicago, Grande Valse à l'Américaine).
Damals war New Orleans die drittgrößte Stadt der USA mit mehr als 100.000 Einwohnern; die größte Gruppe von Einwanderern waren Deutsche. Detroit hatte damals rund 9.000 Einwohner, Chicago (erst seit 1833 überhaupt eingemeindet) nicht halb so viele. 1869 wurde in New Orleans die Dillard University für Schwarze gegründet, 1881 Southern University, 1925 die Xavier University. Die Schwarzen waren in New Orleans relativ stark integriert und etabliert, bevor der Kampf im Norden überhaupt begonnen hatte.
Auch New Orleans hatte seine race riots, und zwar 1866 und 1874 - letztere Ausschreitungen habe ich hier: Do you know what it means to miss New Orleans? beschrieben. In beiden Fällen sollte die alte Ordnung von vor dem Bürgerkrieg wieder hergestellt werden. 1874 ging es sogar darum, die Schulen nach Rassen getrennt zu halten - New Orleans hatte einen frühen Integrationsversuch gewagt... einen sehr frühen Versuch.
Nach 1874 kam es ein einziges Mal zu Rassenunruhen zwischen Schwarzen und Weißen in New Orleans. Im Jahre 1900 war Robert Charles wegen des Tod eines gelynchten Schwarzen in Georgia wütend (ein Weißer hat sogar ein Stück vom Herzen des gelynchten Mannes dem Gouverneur von Georgia persönlich überreicht): Charles - den ein Historiker den möglicherweise "first fully self-conscious black militant in the United States" nennt - streckte 7 Weiße nieder, bevor man ihn erschoss. Die schwarze Gemeinde von New Orleans versuchte, den Mann zu verstecken, und die Weißen griffen ganze Viertel an. Nur Zufall, dass das alles so früh im Süden stattfand? Jedenfalls war alles danach relativ ruhig in New Orleans im Vergleich zu den Städten im Norden und Westen, die im 20. Jahrhundert tobten. 106 Jahre ohne race riot - leider eine Meisterleistung für US-Großstädte.
Früher war (bis 1958) der berühmte streetcar in New Orleans nach Rassen getrennt. Bekanntlich begann die Bürgerrechtsbewegung, indem Rosa Parks sich in einem Bus in Alabama weigerte, ihren Platz für einen Weißen zu räumen. So was war aber in New Orleans Jahrzehnte früher nicht unbekannt. 1928 musste der ÖPNV in New Orleans die Tramfahrer sogar daran erinnern, die Schwarzen von ihren Plätzen zu vertreiben, wenn kein Platz mehr für Weiße war. Offenbar hatten sich viele weiße Passagiere beklagt, weil die (weißen) Tramfahrer keinen Finger rührten (die Fahrer sagten zur ihrer Verteidigung, sie könnten oft gar nicht zwischen Weiß und Schwarz in New Orleans unterscheiden). Kam das auch im Norden in den 1920ern vor? Oder kam es dort gleich zu Gewalt? Gab es auch im Norden Stände, die schwarz und weiß bedienten? Kam es im Norden vor, dass ein schwarzes Kind sich über solche Grenzen hinwegsetzen konnte, ohne dass die Weißen gleich mit Gewalt drohten?
New Orleans - eine progressive Stadt in Sachen Integration, viel weiter als der Rest der USA? Na ja, da wäre noch was. 1960 sollte eine Schule im Lower 9th Ward (wo der größte Deichbruch während Katrina stattfand) integriert werden - 84 Jahre nach dem ersten Versuch. Wieder waren die Schwarzen aufgerufen, ihre Kinder an die Front zu schicken. 6-jährige schwarze Mädchen nahmen den Kampf gegen erwachsene weiße Männer auf.
Damals war das 9th Ward eine rassisch gemischte Nachbarschaft von Arbeitern. Die Weißen waren zwar bereit, Gewalt anzuwenden, um die Schulen weiß zu halten, aber sie wussten auch, dass eine andere Strategie mehr Erfolg versprach, schließlich hatte der Norden bereits alles vorgemacht: Sie konnten in die Vororte flüchten. Als Katrina zuschlug, war das 9th Ward bereits zu mehr als 90% schwarz.
Vor allem der Vorort Metairie wuchs ab 1960, während New Orleans von 1960 bis Katrina rund ein Fünftel seiner Einwohner verloren hatte. Heute (nach Katrina) hat Metairie vermutlich mehr Einwohner als New Orleans, denn Metairie war kaum überflutet. Metairie ist zu fast 87% weiß und nur knapp 7% schwarz - nicht gerade das, was im Norden als "sauberer Vorort" gilt, aber immerhin weißer als New Orleans, in dem vor Katrina zwei Drittel schwarz waren.
Metairie ist ein typischer Vorort: Einstöckige Einfamilienhäuser, Einkaufzentren mit riesigen Parkplätzen davor, Ladenschilder an der Straße, und nicht immer ein Bürgersteig - grausam und genau das Gegenteil von New Orleans (hier Bilder von "Fat City", der Reeperbahn von Metairie). Das hinderte CNN nicht daran, Metairie zu einem der 50 besten Orte fürs Rentenalter zu erheben - neben lauter anderen vorwiegend weißen Städten.
Das Geld zog in die Vororte und so sank der Wert der Immobilien in New Orleans von 1960-1998 um 56% - immerhin besser als der 71%ige Verlust von Detroit. Metairie erhebt selbst keine Steuern und hat auch keinen Bürgermeister, sondern nur einen Polizeichef, der alle paar Jahre wieder verlauten lässt, dass die Schwarzen aus New Orleans nichts in seinem Vorort verloren hätten. Er fürchtet als Amerikaner chinesischer Abstammung keinen Vorwurf des Rassismus, und das finden die Menschen in Metairie gut so.
Fazit: Eine gemischte Bilanz, gemischt wie die Menschen, die dort wohnen. Es ist nicht immer alles schwarz oder weiß. Aber New Orleans schlägt Chicago und Detroit locker - zu meinem großen Bedauern.
Heuchlerei
Der Süden hielt Sklaven, der Norden war dagegen und musste deshalb einen Krieg gewinnen. Weshalb aber gab es dann aber in Cincinnati/Ohio 1834 einen Aufstand für die Sklaverei?
Die Presse hat zu wenig über die Praktiken im Norden berichtet. Loewen erklärt: "Murders sell newspapers. Chronic social pathology does not." Aber auch unter Historikern sieht er eine Schieflage. Alle schauen schon immer in Richtung Süden, um Fälle von Rassismus zu finden: "We simply have no idea about how many lynchings occurred in the Midwest or Northeast because of scholars' concentration on the South".
Auch Hollywood - wen wundert's - verdreht Tatsachen. Loewen beschreibt über zwei Seiten die Filme, in denen rassistische Praktiken aus dem Norden in den Süden verlegt wurden. Nur das Schauspielstück Raisin in the Sun berichtet von einem Sundown Town in einem Teil von Chicago. Dabei gab es, so Loewen, in "Kalifornien mehr Sundown Towns als in allen Südstaaten zusammen, und in Illinois ein Vielfaches mehr."
Als 1937 kein Hotel in Princeton die schwarze Sängerin Marian Andersen aufnehmen wollte, bot Albert Einstein ihr sein Gästezimmer an. Doch Andersen berichtet in ihrer Biographie nicht von diesem Vorfall und auch sonst nur von Vorfällen im Süden, nicht im Norden. Im Süden gab es aber Hotels für Schwarze und Hotels für Weiße. Im Norden gab es Städte für Schwarze und Städte für Weiße.
Und Deutschland?
Ist das alles hierzulande anders? Eines fällt sofort auf: In Europa brennen die Städte von außen, nicht von innen. Die Reichen schützen die traditionellen Altstädte Europas; die Amerikaner geben ihre traditionslosen Innenstädte auf.
In den USA waren die Schulen oft ein Knackpunkt: Die Weißen wollten getrennte Wohngegenden haben, um nicht in der gleichen Schule zu landen wie die Schwarzen. Hier hat sich Deutschland was Cleveres ausgedacht, um getrennte Schulen zu bekommen, ohne die Stadt aufzuteilen: Immigranten und Unterschichten gehen in die Realschule, dann ist der Nachwuchs der Elite ab der 5. Klasse wieder unter sich im Gymnasium. Das Studium bekommen dann auch die umsonst, die locker Gebühren bezahlen könnten.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Dann bin ich seit 2003 ein Schelm: Damals wollte der Kindergarten meines Sohnes mit einem anderen Kiga für den Sommer zusammengehen, um eine durchgehende Betreuung anzubieten - doch die Eltern des anderen Kindergartens machten nicht mit. Nach einigen Wochen hatten wir den Grund Schwarz auf Weiß: Bei uns im Kindergarten gäbe es "zu viele Ausländer".