Die No-Go-Gebiete der USA

Eine differenziertere Geschichte der Rassenintegration in den USA

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Die herkömmliche Geschichte geht so: Als die Neue Welt erobert wurde, verfrachtete man versklavte Afrikaner dorthin. 1808 wurde der Import von Sklaven in den USA verboten, d.h. neue Sklaven mussten die Sklavenhalter ab dann "züchten" - und nötigenfalls selbst dabei Hand anlegen. 1863 befreite der republikanische Präsident Lincoln die Sklaven in den noch nicht eroberten Südstaaten (also dort, wo er das Sagen gar nicht hatte). Die Nordstaaten, die die Sklaverei noch nicht verboten hatten, dürfen ihre Sklaven noch zwei Jahre bis zum Ende des Krieges 1865 behalten. Ab etwa 1916 begann dann die „Große Migration“: Schwarze verließen den rassistischen Süden, um ihr Heil im Norden und Westen der USA zu finden. Mitte der 1950er nahm dann die Bürgerrechtsbewegung im Süden endlich ihren Anlauf, und seitdem hat die USA schon zwei Schwarze hintereinander im Verfassungsgericht sowie als Außenminister gehabt – 3 der 4 von Republikanern ernannt. Mit der Zeit wird also alles langsam, aber stetig besser. Alles soweit klar, nur: Wieso wählen eigentlich die Schwarzen heute mehrheitlich demokratisch?

"The Negro Motorist Green Book" - ein Wegweiser für schwarze Autofahrer 1949, zuerst in den 1930ern für New York City erschienen. Das Buch erhält keine deutlichen Ermahnungen, dass man bestimmte Orte vermeiden sollte (es ist lediglich von "peinlichen Situationen" die Rede), sondern nur Namen und Adressen von Läden, in denen schwarze Kunden sogar willkommen sind: Neben Restaurants, Apotheken, usw. stehen Listen von Hotels und Tankstellen. Es wurde nämlich nicht überall gerne gesehen, wenn ein Schwarzer tanken wollte. Und wenn man die ganze Familie mit in den Urlaub genommen hatte und nach mehreren Fehlversuchen kaum noch Benzin hatte, konnte die Situation gerade in den vielen sundown towns , wo Schwarze nicht übernachten durften, schon "peinlich" werden. Das Green Book ist also eher Whitelist als Blacklist, aber wenn man zwischen den Zeilen liest, hört sich der Werbespruch auf dem Cover ganz anders an: "Führen Sie ihr Green Book mit sich - Es könnte nützlich sein." Quelle für das Bild. Das Green Book kann als 91MB-starkes PDF hier heruntergeladen werden.

Die Menschen im Norden und Western der USA halten sich für weniger rassistisch als die Südstaatler. Das wurde vor etwa einem Jahr bei der Flut in New Orleans klar: Alle haben gesehen, dass die Weißen die Schwarzen im Stich gelassen hatten - typisch Südstaaten eben. Die Süddeutsche Zeitung meint:

Irgendwann kamen sie und warfen Wasserflaschen über den Zaun, so wie man die Affen im Zoo füttert. Weiße waren es, ausnahmslos Weiße, Polizisten aus Jefferson Parish, dem Vorort im Westen von New Orleans, die sie bewachten. Und hinter dem Zaun saßen Schwarze, ausnahmslos Schwarze aus den untergegangenen armen Vierteln im Osten der Stadt.

In einem Radiointerview mit der Deutschen Welle kurz nach der Katastrophe sprach ich mit dem deutschen Korrespondenten in Washington, der meinte, die Behandlung der Schwarzen sei typisch für den "white trash" im Süden - so, als könnte so was im Norden nicht passieren. Dabei hätte er nicht weit schauen müssen, um festzustellen, dass manch einer im Norden durchaus die Schuld bei den Schwarzen selbst lokalisiert hatte - so etwa der Journalist Steve Sailer aus Chicago, der kurz nach Katrina unter anderem meinte:

Im Gegensatz zu New Orleans gab es nur wenige Plünderungen nach dem furchtbaren Erdbeben 1995 in Kobe/Japan - denn schließlich sind die Japaner nicht schwarz.

Umso erstaunter war ich, als ich dann wenige Tage nach Sailers tief schürfender Feststellung folgende private Nachricht von einer schwarzen Kollegin per email bekam - ausgerechnet aus Chicago:

Racist mother fuckers to the south!--pls send your unwanted "Niggers" (living and dead) to Chicago, Detroit, etc. --We'll take them, and you can keep the South--just as long as you GO there and leave us the fuck alone.

Schön wär's…

… wenn die Schwarzen in den Südstaaten irgendwo hingehen könnten, wo sie dem Rassismus eingebildeter Weißer nicht mehr ausgesetzt wären - der Rest der USA bietet leider keinen solchen Zufluchtsort. Nach ihrer "großen Migration" gen Norden waren die Schwarzen oft bitter enttäuscht. In seinem Rising Tide: The Great Mississippi Flood of 1927 beschreibt John Barry, wie viele Schwarze aus Mississippi nach Kansas zogen, und stellt lapidar fest: "Kansas turned out not to be the promised land", weshalb sich die Auswanderung dorthin abschwächte. Der Norden und Westen versuchten nämlich nicht etwa, alles besser als der Süden zu machen, sondern nur die Enttäuschung der Schwarzen herunterzuspielen, wie ich in Selbst ist die Justiz beschrieben habe.

Warum ist es denn außerhalb der Südstaaten nicht besser? Eines Abends erzählte mir um das Jahr 1990 ein schwarzer Freund aus New Orleans von seinem Bruder, der Arzt in Boston war. Ich wollte wissen, warum es seinem Bruder dort nicht gefiel:

Er fühlt sich ausgegrenzt. Niemand lädt ihn zum Essen ein. Boston ist nur 1/4 schwarz, New Orleans dagegen 2/3. Auch wenn es hier nicht gerade optimal ist: Es ist unsere Stadt. In Boston ist er dagegen einsam unter Weißen, die ihn freundlich aber distanziert ignorieren.

Oral history

Solche Anekdötchen liefert James W. Loewen, Autor von Lies my teacher told me: everything your American history textbook got wrong, in seinem 2005 erschienenen Sundown Towns: a hidden dimension of American racism. Zwar hat Loewen genug schriftliche Belege für seine Thesen in alten Zeitungen, auf Fotos und in archivierten Dokumenten, die er aber oft mit den Aussagen von Menschen, die er persönlich an Tankstellen, in Bibliotheken und auf der Strasse interviewt hat, lebendig macht. Es ist eine relativ neue Art der Geschichtsschreibung, die auch in Deutschland unter dem Begriff oral history praktiziert wird. Durch diese mündlich überlieferte Geschichte kämen (so die Vertreter dieser Methodik) die Unterdrückten endlich zu Wort - schließlich werden Geschichtsbücher von den Siegern geschrieben.

Ein Sundown Town ist ein Städtchen, das klein genug war, um sich "weiß zu halten". Der Name kommt daher, dass viele dieser Ortschaften ein Schild am Ortseingang aufstellten, das zum Inhalt hatte, dass Schwarze nach Sonnenuntergang nicht willkommen waren. Typische Beispiele:

  1. Nigger, don't let the sun go down on you in [Name des Ortes]
  2. Nigger, wenn du diese Zeilen lesen kannst, hau ab. Und wenn du nicht lesen kannst, hau trotzdem ab.
  3. "Nigger! This is Shepherdstown. God help you if the sun ever sets on you here." (Beispiel aus Kurt Vonneguts Roman "Breakfast of Champions" - Vonnegut stammt aus Indiana, wo laut Loewen Sundown Towns gang und gäbe waren)
  4. "Whites only within city limits after dark" - das einzige Straßenschild, das Loewen als Foto nachdruckt; es stammt aus Connecticut.

Das heißt, Schwarze konnten ausnahmsweise vielleicht in Sundown Towns arbeiten, aber sie mussten spätestens bei Sonnenuntergang weg sein - sie konnten also dort nicht wohnen. Solche Straßenschilder waren laut Loewen bis in die 1960er Jahre nichts Außergewöhnliches und standen mancherorts vereinzelt noch am Stadtrand sogar bis in die 1990er hinein. Dass er nur ein Bild von einem solchen Schild abbilden kann, liegt daran, dass die Beweislage von den Ratshäusern und sonstigen lokalen Behörden mit der Zeit vernichtet wurden ("Wer würde so was aufheben wollen?", erklärt ihm eine Bibliothekarin). Zwar wollten die Weißen im Norden und Westen unter sich sein, aber nicht mit ihrer eigenen Einstellung in Verbindung gebracht werden. Der Rassismus im Süden gilt nicht umsonst als ein offener, während die Weißen außerhalb des Südens oft auf die rückständigen "rednecks" herabsehen, ohne dabei die eigene Schule und Nachbarschaft mit Schwarzen teilen zu wollen.

In "Die Stimmen, die wirklich zählen, sind noch nicht abgegeben" habe ich den Spruch aus den Südstaaten erwähnt: "Der Norden liebt die Rasse und hasst das Individuum; der Süden liebt das Individuum und hasst die Rasse". Aber bevor Sie den Spruch für eine völlige Übertreibung von Weißen halten und es lieber vom einem Schwarzen aus der Zeit hätten – wie wäre es mit einem Zitat vom Robert Moton:

Whatever might be said to the contrary, the white man of the South loves the Negro. Many who have gone to the North have not found conditions as they had expected.

Das ist ja alles soweit skandalös genug, doch die eigentlichen Herausforderungen, die Loewen an die herkömmliche Geschichtsschreibung stellt, sind wie folgt:

  1. Diese Sundown Towns waren kaum im Süden zu finden, aber fast überall im Norden und im Westen. Im Bundesstaat Mississippi konnte Loewen z.B. gar kein Sundown Town finden, im Illinois dagegen fast 450 - und er vermutete viele mehr. Außerhalb der Südstaaten, so resümiert er gleich auf Seite 4, haben wohl die meisten eingemeindeten Ortschaften keine Schwarzen hereingelassen.
  2. Die Sundown Towns schossen ab etwa 1890 wie Pilze außerhalb der Südstaaten aus dem Boden, d.h. nach wenigen Jahrzehnten Fortschritt in der Gleichheit der Rassen kam ein großer Rückschlag, so dass - so Loewen - es heute in manchen Hinsichten noch schlechter um die Schwarzen als in den 1870ern und 1880ern bestellt sei, gerade was die Integration betrifft (In some ways, African Americans lived in better and more integrated conditions in the 1870s and 1880s).

Warum nicht im Süden?

Zunächst muss man vorwegschicken, dass mit "der Süden" hier eine kulturelle Einheit gemeint ist, d.h. Kalifornien und Arizona sind zwar geographisch im Süden, aber kulturell besteht der Süden eher aus den Bundesstaaten, die rebelliert haben - wobei man heute auch noch dazu tendiert, aus verschiedenen Gründen Florida und Texas nicht mehr zum Süden dazu zu zählen (Passau ist auch keine "ostdeutsche Stadt").

Während es im Norden und Westen der USA gegen 1860 verhältnismäßig wenige Schwarze gab, lebten Schwarz und Weiß seit eh und je eng in den Südstaaten zusammen: Auf Plantagen dienten Schwarze im Haus ihres Herrn - wenn sie Glück hatten - oder rackerten sich auf dem Feld ab, wenn sie Pech hatten. Im Allgemeinen erledigten sie im Süden die Drecksarbeit und waren von daher in bestimmten, aber durchaus alltäglichen Situationen recht gern gesehen. Loewen berichtet sogar, dass die Südstaatler diese Politik der Sundown Towns gar nicht verstanden hätten, als sie in einem fremden Ort ankamen und keine Schwarzen beispielsweise zum Schuhputzen fanden. Weiße Südstaatler behandelten die Schwarzen wie Hunde, die man richtig züchtigen muß; dann "hält" man sie aber gerne. Andere weiße Amerikaner behandelten sie eher wie wilde Tiere, die einfach woanders leben sollten.

Gleich nach dem Bürgerkrieg 1861-1865 erließ der Bundesstaat Mississippi die berüchtigten "Black Codes", um die soeben befreiten Sklaven doch noch im Zaum zu halten - so wurde es ihnen z.B. schwer gemacht, Land zu besitzen, zu wählen, oder einen Laden aufzumachen. Aber siehe da: Der Süden hatte diese fiese Idee nicht etwa erfunden, wie die deutsche Wikipedia noch irreführenderweise behauptet (in der englischsprachigen Wikipedia stimmt dagegen die Beschreibung), sondern abgeschaut: Ohio erließ seine ersten Black Laws schon 1804 und andere Staaten im Mittelwesten folgten. Diese hatten sich zwar schon 1787 verpflichtet, die Sklaverei zu verbieten, aber diese (noch) Territorien wollten keineswegs als Zufluchtsort für die ganzen Sklaven im Süden missverstanden werden. Schließlich hatten sie sich nur pro forma gegen die Sklaverei ausgesprochen, weil sie damit bessere Chancen hatten, in die Union aufgenommen zu werden. Und wiederholt versuchten diese Territorien - neidisch auf die Südstaaten blickend -, diese Vereinbarung mit Washington doch noch aufzuheben.

Der Präsident Woodrow Wilson wird im Stummfilm "The Birth of a Nation" (1915) mit den Worten zitiert: "Die Weißen wurden vom inneren Trieb der Selbstbewahrung angetrieben… bis endlich ein großer Ku Klux Klan auf den Plan trat, ein wahrhaftiges Reich des Südens, um den Süden zu schützen". Allerdings schützte der Klan nicht lange nur den Süden, und zum landesweiten Durchbruch half der Film enorm. Der 3-stündige Stummfilm kann hier gestreamt werden.

Nachdem Illinois 1818 Bundesstaat wurde, ließ es sofort verkünden, dass die Sklaverei im Süden eine gute Sache sei - und dass die Abolitionisten in Illinois sich nicht so anstellen sollten. Schon 1813 hatte Lincolns Heimat Illinois (noch als Territorium) beschlossen, dass alle Schwarzen, die sich länger als 15 Tage dort aufhielten, ausgepeitscht werden müssten (dass es Lincoln auch nicht im Bürgerkrieg um die Befreiung der Sklaven gegangen ist, kann man hier nachlesen).

Es lohnte sich aber leider kaum für die Schwarzen, weiter als Illinois zu flüchten, denn 1844 hatte sogar Oregon in seinem Lash Law beschlossen, sollte sich ein Schwarzer dorthin irren, dürfte er gerne bleiben, aber er müsse alle sechs Monate ausgepeitscht werden. Der Franzose De Tocqueville bereiste bekanntlich im 19. Jahrhundert die USA und hinterließ eine eindruckvolle Beschreibung dieser Welt in seiner Schrift De la démocratie en Amérique. Auch er sah die Rassenfrage zwischen Nord und Süd etwa differenzierter (englische Ausgabe):

The prejudice of race appears to be stronger in the states that have abolished slavery than in those where it still exists; and nowhere is it so intolerant as in those states where servitude has never been known.

Getrennt, aber gleich

Man beginnt zu ahnen, weshalb die "Great Migration" aus dem Süden erst im 20. Jahrhundert begann und nicht gleich 1865. Waren der Norden und Westen in der Tat nicht gerade verlockend, sah es zunächst nicht ganz so schlimm im Süden aus. 1867 wurde Mississippi vom Bund gezwungen, seine Black Codes aufzugeben (dazu mussten Illinois und Co. ihre noch älteren Codes auch aufheben, quasi als gutes Vorbild). Darauf hin wurde aus Mississippi genau das, was Bundesstaaten wie Oregon und Illinois befürchteten: Ein Hort der schwarzen Liberation. Da so viele Schwarze dort lebten, entsandte Mississippi plötzlich zwei schwarze Senatoren nach Washington. Kein anderer Bundesstaat - egal wo - hatte zu dieser Zeit auch nur einen schwarzen Senator.

Mittlerweile ist alles besser? Na ja, der heutige schwarze Senator Barack Obama aus Illinois ist auch erst der fünfte in der Geschichte der USA. Und wie diese Liste zeigt, gab es vor 1901 schwarze Abgeordnete nur aus den Südstaaten. Nach 1901 war dann plötzlich Funkstille bis 1929.

Wieso dieses Loch? So wie in Mississippi könne es nicht weitergehen, werden sich die aufgeklärten Weißen in den USA gedacht haben, und so durfte der Süden ab etwa 1876 seine Jim Crow Laws erlassen, um die alte Ordnung einigermaßen wieder herzustellen. Die Lösung: Zwei Gesellschaften, eine für Schwarze eine für Weiße, separate, but equal - was aber in diesem Zusammenhang bedeutete: eigentlich überlappend, aber völlig ungleich.

Der Rest der USA ließ den Süden in seinem Bestreben, die Schwarzen im Zaum zu halten, gewähren, denn sie fürchteten gleiche Forderungen von den wenigen Schwarzen zu Hause. 1896 scheiterte dann der New Orleanian Homer Plessy vor dem US-Verfassungsgericht. Der free person of color aus dem Faubourg Tremé (wo viele der nach Katrina im Superdome gestrandeten Menschen wohnten) klagte gegen separate but equal - und verlor. Die erste Bürgerrechtsbewegung aus dem Süden war gescheitert, bevor sie begonnen hat, denn der Bund zog damals (im Gegensatz zu 1954 in Alabama) nicht mit.

Der Rückschlag

Eine riesige Chance wurde also nach 1890 verpasst. Nach erkennbaren Fortschritten in den 1870ern und 1880ern kam also laut Loewen der backlash ab 1890. Loewen erklärt, dass der Norden und Westen mangels nennenswerter schwarzer Bevölkerung keine getrennte, aber überlappende Gesellschaft wie im Süden aufbauen mussten; man konnte die Schwarzen von vornherein komplett isolieren.

Oft begann die Säuberung mit einem großen Gewaltakt - so 1908 in Springfield /Illinois, dem Heimatort von Präsident Lincoln. In einer Art Reichskristallnacht, die zwei Tage dauerte, wurden ganze Nachbarschaften von einem Lynchmob verwüstet und unschuldige Menschen ermordet, nachdem mehrere Schwarze angeblich Verbrechen begangen hatten. Aber immerhin: Danach war Springfield seine wenigen Schwarzen los.

Dabei war Springfield keine Ausnahme: Das Gleiche passierte 1903 in Joplin/Missouri - die heute nur zu 1,5% schwarz ist. Dabei sind diese Beispiele nur stellvertretend für offenbar unendlich viele, und niemand war überraschter ob der Häufigkeit der Sundown Towns als Loewen selbst.

Meistens waren es aber nicht Städte wie Joplin, East St. Louis, Denver, Seattle, Tulsa, Lincoln (Nebraska), Johnstown (Pennsylvania) und viele mehr, die ihre Schwarzen (oder auch Immigranten) gewaltsam entfernten, denn - so Loewen - diese Aufgabe wäre in den Städten zu groß gewesen. In Tulsa wurde 1921 offenbar ein schwarzes Viertel aus der Luft angegriffen - damals eine recht "fortschrittliche" Methode. Mehr Erfolg hatten kleinere Ortschaften, die nicht so einfallsreich sein mussten. Ein Exempel macht Loewen aus dem kleinen Anna/Illinois, population 5,136 im Jahre 2000.

Loewen wurde selbst in Illinois geboren, weshalb wohl Illinois eine zentrale Rolle in seinem Buch spielt. Ein weiterer Grund: Illinois scheint besonders viele Sundown Towns gehabt zu haben. Zwar wurde der Ort Anna nach Anna Pelley genannt, die 1909 im benachbarten Cairo/Illinois angeblich vom einem Schwarzen ermordet wurde, doch die Einwohner von Anna berichteten dem Besucher Loewen vor wenigen Jahren immer wieder, dass der Name des Orts seitdem auch ein Akronym ist: Ain't No Niggers Allowed. In Cairo wurde ein Schwarzer für den Mord an Anna gelyncht, und danach vertrieben die Weißen auch noch alle Schwarzen aus Anna – sicher ist sicher. Heute ist Anna zu 1,7% schwarz.

Obwohl also die Amerikaner lernen, dass zwischen 1865 (Ende des Bürgerkriegs) und 1964 (Erlass des Civil Rights Act) die race relations immer besser wurden, zeigt Loewen ein differenzierteres Bild. Die Republikaner im Norden und Westen waren theoretische Gegner der Sklaverei, aber als es darauf ankam, sie in der Praxis als Nachbarn aufzunehmen, vertrieben sie die Schwarzen oft mit Gewalt bis etwa in die 1930er hinein.

Der Fortschritt nach dem Bürgerkrieg wurde schnell zunichte gemacht. Von Portland/Oregon (1922) bis Portland/Maine (1923) gelang es dem Klu Klux Klan, ihre Leute ins Rathaus zu wählen. 1925 schrieb ein Richter aus Colorado an den Plantagenbesitzer LeRoy Percy in Mississippi, der den Klan in seinem Einflussgebiet bekämpfte: "Ich glaube nicht, dass der Klan jemals in der Geschichte des Südens so viele Wahlen gewonnen hat wie jetzt in Colorado" (Barry, Seite 155).

Teilweise war der öffentliche Dienst - auch das Militär - um 1900 schon integriert worden, aber Präsident Woodrow Wilson (1913-1921) machte dem 1913 ein Ende, indem er separate but equal bei der Post, beim Militär usw. rigoros durchsetzte. Gerne wird er in diesem Zusammenhang als Südstaatler (weil in Virginia geboren) hingestellt; meistens wird aber nicht erwähnt, dass er der Gouverneur von New Jersey war, als er zum Präsidenten gewählt wurde.

Überall wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Integration nach dem Bürgerkrieg rückgängig gemacht. Erst 1933 mussten Schwarze die National Football League verlassen. 1887 gab es am meisten schwarze Profis im Baseball, obwohl die Liga 1868 offiziell Schwarze ausgeschlossen hatte. Bis 1920 war es aber so schwierig geworden, diese Regelung zu umgehen, dass die Negro National League gegründet wurde. Erst ab dann war Baseball auch in der Praxis rassisch getrennt.

Im Wilden Westen wurden ganze Städte von vornherein "weiß" gebaut. So wurde Boulder City in Nevada als Städtchen für die Arbeiter am Hoover Dam gebaut; alle Arbeiter waren am Anfang weiß, und laut Loewen mussten die Schwarzen später pendeln. Heute ist Boulder City zu 95% weiß.

Lieber Heuchlerei - oder ehrlicher Bigotismus?

Doch mit der Zeit musste der Rassismus gedämpft und sublimiert werden. So wie der Norden ein Vorbild für den Süden bei der Abschaffung der Black Codes sein musste, so leuchtete es selbst den Amerikanern nicht ein, weshalb sie an eine Herrenrasse glauben sollten, nachdem sie selbst die Ausgeburt dieser Ideologie in Europa ausmerzen mussten. Die Großstädte im Norden zeigten schon vor dem Zweiten Weltkrieg, wie die Zukunft aussehen würde: Man überlässt den Schwarzen die Innenstadt und baut Vororte, suburbs, die eben nicht eingemeindet sind, damit die Reichen am Stadtrand ihre Steuergelder nicht für die Schwarzen ausgeben müssen.

Gewissermaßen stellt dies ironischerweise eine Umkehrung der Sundown Towns dar: Mussten früher die Schwarzen die Stadt unter Zwang verlassen, verlassen heute die Weißen die Stadt freiwillig. Gleichzeitig stirbt die alte Ehrlichkeit der Südstaaten aus, wo ein Weißer seinen Rassismus nie verhehlen musste - aber wenn ein weißer Südstaatler sich für die Schwarzen einsetzte, dann meinte er damit seine Nachbarn, und er meinte es ernst, denn die Änderungen, für die er eintrat, würden sein Leben treffen. So wusste man immerhin, wo man bei einem Südstaatler dran war.

Bis zur großen Migration wählten die Schwarzen bis zu 95% republikanisch. Doch als sie immer mehr in Kontakt zu Weissen im Norden und Westen kamen, bröckelte die Fassade. Unter Präsident Herbert Hoover (1929-1932) kam dann die große Wende, denn er hatte prominenten Schwarzen wie Moton viel versprochen, um die Wahlen zu gewinnen. Kaum im Amt machte er aber aus der Grand Old Party eine anständige Partei der Weissen. Moton fühlte sich betrogen und unterstützte ihn 1932 nicht mehr gegen Roosevelt.

Heute herrscht zwischen Schwarz und Weiß eher ein scheinheiliges Aneinandervorbei als Offenheit - auch im Süden. Die Vororte machen's möglich. Im nächsten Beitrag schauen wir uns am Beispiel von Chicago und Detroit im Norden und New Orleans im Süden, wie die Vororte das Zusammenleben von Schwarz und Weiß beeinflusst haben.