Die Flüchtlingskatastrophe im Irak
Während in Washington die Politiker um die Truppenerhöhung streiten, wird die Lage der Flüchtlinge immer dramatischer: mindestens 3,5 Millionen der 26 Millionen Iraker befinden sich im In- oder Ausland seit 2003 auf der Flucht
US-Außenministerin machte am Samstag einen unangekündigten Besuch in Bagdad, der die mit einer Resolution über den Bush-Plan der vorübergehenden Truppenaufstockung von 20.000 Mann beschäftigten Senatoren wohl überraschen sollte. Die Abgeordneten im Repräsentantenhaus hatten sich am Freitag in einer ähnlichen Resolution (H. Con. Res. 63) nach mehrtägigen Diskussionen mehrheitlich dagegen ausgesprochen. Im Senat wurde trotzt bröckelnder republikanischer Front am Samstag mit 56 zu 34 nicht die dafür erforderliche Mehrheit von 60 Stimmen erreicht. Die US-Regierung setzt die Truppenverstärkung indessen fort. Das Pentagon gab am Freitag parallel zur Diksussion im Repräsentantenhaus die Entsendung von weiteren Tausend Soldaten bekannt.
Rice wollte auf ihrem Zwischenstopp in Bagdad das Augenmerk auf die angeblich ersten Erfolge der groß angelegten "Sicherheitsoperation" in der irakischen Hauptstadt lenken, die seitdem bereits friedlicher geworden sei. Welche Folgen das Vorgehen des US-Militärs zusammen mit irakischen Sicherheitskräften haben wird, ist bislang unabsehbar. Im Augenblick dürften die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen erst einmal abwarten, was passiert. Möglicherweise haben sie sich auch, wie in anderen Fällen zuvor, aus Bagdad zurückgezogen, um später wieder zu kommen, wenn die Truppenpräsenz geringer wird. Nach der Abreise von Rice wurden am Sonntag wieder über 50 Menschen durch zwei Autobomben getötet, was die Erfolgsmeldungen beeinträchtigen dürfte. Zudem schwillt der Flüchtlingsstrom im und aus dem Irak weiter an, die UN spricht von einer humanitären Katastrophe, die sich hinter dem Blick auf die Kämpfe abspielt.
Der Irak-Krieg ist in den USA schon längst Teil des nächsten Präsidentschaftswahlkampfes geworden. Die Parteien und Abgeordneten müssen sich positionieren, insgeheim dürften wohl Demokraten und Republikaner hoffen, dass bis 2008 das Schlimmste vorbei ist und der Truppenabzug längst begonnen hat. Die Frage, ob nun der in die Gewalt abgerutschte Irak mit 20.000 Mann mehr wirklich befriedet werden kann, ist wohl nur am Rade interessant. Viel wichtiger ist es innenpolitisch, welche Position eingenommen wird und wie man das vom Weißen Haus angerichtete Schlamassel hinter sich bringt, da wohl kaum jemand daran glauben wird, dass so oder so eine schnelle Lösung in Sicht ist. Für Nancy Pelosi, Demokratin und Kongresssprecherin, ist die Lage klar: "Heute haben wir die Möglichkeit für eine neue Richtung im Irak eröffnet:" Eine wirkliche Entscheidung steht jedoch an, wenn es um die Bewilligung der Gelder für den Krieg im Irak und in Afghanistan geht.
Entschieden ist mit der symbolischen Abstimmung noch nichts, für das Weiße Haus ist die Resolution nicht bindend, um eine künftige Strategie über die Ablehnung der Truppenaufstockung ging es auch nicht. Ob in der Folge der Resolution daher tatsächlich dem Weißen Haus, das mit der Truppenaufstockung bereits begonnen hat, eine neue Haltung aufgezwungen werden kann, ist höchst fraglich, da jede Entscheidung zur Lösung der Irak-Frage große Ungewissheiten birgt. Für die Republikaner, die meist hinter dem Präsidenten standen, ist der Irak eine wichtige – wenn auch, wie man sagen müsste, selbst geschaffene – Front. Der Gegner würde durch einen Rückzug oder eine Aufgabe gestärkt hervorgehen, weitere Länder einbeziehen und letztlich die USA selbst gefährden. Der republikanische Abgeordnete Phil Gingrey meinte in diesem Sinn: “It’s a capitulation to Jihadist Joe.” Die Demokraten favorisieren eher eine andere als militärische Lösung, aber auch sie müssen sich hinter die Truppen stellen, um keine Dolchstoßlegende möglich zu machen. Zweifellos dürfte aber die Folge eines Truppenrückzugs, wenn die innerirakische Machtbalance nicht hinreichend gelöst ist, den Bürgerkrieg eher verstärken. In die Gefahr läuft aber auch die Operation in Bagdad, sollte sie sich als einseitig gegen eine Gruppe erweisen.
Jeden Monat 50.000 Flüchtlinge mehr
Mit der gerade in Bagdad stattfindenden Operation wurden auch die Grenzen nach Syrien und Iran geschlossen. Damit soll der Strom von Menschen und Material, der aus diesen Ländern angeblich den verschiedenen irakischen Gruppen zufließen soll, gestoppt werden. Verhindert wird aber dadurch auch, dass Iraker, die Angst um ihr Leben haben, aus dem Land fliehen können. Jeden Monat fliehen, so schätzt die UN, 50.000 Iraker aus dem Land. Sollten die Kämpfe aufgrund des massiven Vorgehens in Bagdad zunehmen, möglicherweise dann in anderen Teilen des Landes, könnte die Zahl der Menschen weiter zunehmen, die flüchten wollen. Seit dem Einmarsch der USA in den Irak (26 Millionen Einwohner) sind mindestens 1,8 Millionen, wahrscheinlich aber um die zwei Millionen Iraker aus dem Land geflüchtet, mindestens 1,6 Millionen haben Zuflucht an einem anderen Ort im Land vor Verfolgung gesucht. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) befürchtet, dass 2007 eine weitere Million Menschen zu Flüchtlingen werden könnten. Allein in den letzten drei Wochen seien in 15 zentralen und südlichen Bezirken 10.000 Menschen vertrieben worden, seit Februar seien es 290.000 gewesen.
IOM weist darauf hin, dass es vor allem um die Flüchtlinge schlecht bestellt ist, die nicht aus dem Land heraus kommen, weil sie die dazu nötigen Mittel nicht haben. Sie sind auf Hilfe zur Versorgung mit Lebensmitteln, für Unterkunft und Sicherheit angewiesen. Die schnell wachsenden Flüchtlingsmengen überfordern aber die Kommunen, die sie bislang aufgenommen haben, so dass sich die Lage zuspitzt, zumal bereits Bezirke im Irak, in denen es einigermaßen sicher ist, nur noch wenige Flüchtlinge einlassen oder niemanden mehr aufnehmen. Es entstehen Spannungen zwischen den Flüchtlingen und den Bewohnern, Slumviertel entstehen, Kinder der Flüchtlinge besuchen nicht mehr die Schule, sondern müssen arbeiten, Jugendliche schließen sich den Aufständischen an, weil sie von ihnen Geld erhalten oder sich für etwas rächen wollen. Mangelernährung und Krankheiten nehmen bei den Kindern zu, fast die Hälfte der Flüchtlinge, die im Land bleiben, berichten, dass sie keine Lebensmittelhilfe erhalten haben. Und die Hilfsgelder aus dem Ausland, so IOM, gehen weiter zurück.
Seit 2003 haben die USA, die für die Zustände nach dem Einmarsch mitverantwortlich sind, gerade einmal 636 Irakern Asyl gewährt. Weil das natürlich kein gutes Bild auf die US-Regierung wirft, die vor allem auf militärische Niederschlagung setzt und auch den Wiederaufbau nicht wirklich vorangebracht hat, beschloss die US-Regierung in einer sehr symbolischen Geste – nachdem man erst einmal 2007 nur 500 Iraker aufnehmen wollte - , bis zu 7.000 Iraker Asyl zu gewähren. Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein, auch wenn sich die US-Regierung nun nach vier Jahren Krieg und Flüchtlingselend nun genötigt sieht, die Flüchtlingshilfe auch finanziell anzuheben. Iraker stellen mittlerweile in Europa die größte Gruppe unter den Asylbewerbern. Schweden hat bislang am meisten aufgenommen, letztes Jahr hat das Land von den insgesamt 20.000 Asylanträgen der EU über 9.000 erhalten. Schweden fordert nun auch die anderen EU-Länder dazu auf, die Türen weiter aufzumachen. Von den 20.000 Asylanträgen wurden nur 10 Prozent anerkannt. Die EU-Kommission hat beschlossen, 10 Millionen Euro für irakische Flüchtlinge zu geben.
Auch in den Nachbarländern, allen voran Syrien, Jordanien und Libanon, in die bislang zwei Millionen Iraker geflohen sind, gerät die Lage außer Kontrolle. Waren es 2003 und 2004 vornehmlich Menschen aus der Mittel- und Oberschicht, die hier Zuflucht gesucht haben, so wuchs mit der wachsenden Gewalt der Strom der Menschen, die mit wenig oder keinem Geld kamen und auch keine Verwandten oder Freunde hatten, um unterzukommen. In den drei Ländern, die das Flüchtlingsabkommen nicht ratifiziert haben, dürfen die Flüchtlinge nicht arbeiten, selbst wenn sie eine gute Ausbildung haben und Experten sind, und geraten, auch wenn sie anfangs Geld hatten, schnell in die Armut, wenn sie nicht auf dem Schwarzmarkt unterkommen. Es gibt nur wenige Flüchtlingslager, Millionen müssen, so sagt Kristele Younes von Refugees International, irgendwie in den Städten leben und bilden dort eine unsichtbare "Geisterbevölkerung", weswegen das Elend im Ausland auch kaum wahrgenommen werde.
Jordanien mit einer Bevölkerung von 6 Millionen hat etwa 6-700.000 Flüchtlinge aufgenommen. Allerdings, so Younes, werden seit zwei Jahren junge Männer zwischen 18 und 35 Jahren aus Angst vor Terroristen abgewiesen. Aus Kostengründen wird den Flüchtlingen auch der Zugang zu öffentlichen Diensten, beispielsweise Schulen oder dem Gesundheitssystem, verwehrt. Syrien, das kaum Unterstützung aus dem Ausland hat und von den USA unter Druck gesetzt wird, hat vermutlich eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Seit 2005 haben auch diese keinen Zugang mehr zu den öffentlichen Diensten, der ihnen bis dahin gewährt wurde. Um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, stellt die syrische Regierung den Irakern nur noch ein zwei Wochen lang gültiges Visum aus. Danach müssen sie einen Monat lang zurück in den Irak, bis sie wieder zurück können. Manche Flüchtlinge sind über Syrien in den Libanon gekommen, in dem ihnen aber Gefängnis oder Abschiebung droht.