Die Forderung nach dem Nichtgebrauch des Verstandes hat Konjunktur
Was bedeutet eigentlich Verschwörungstheorie?
Im ersten Teil: Was bedeutet eigentlich Verschwörungstheorie?" wurde versucht, Gebrauch und Bedeutung des Begriffes zu analysieren. Aber es gibt weitere psychologische und methodische Aspekte, die ein wacher Verstand berücksichtigen sollte.
Auffällig ist, dass sogenannte Verschwörungstheorien selten mit rationalen, wissenschaftlichen Argumenten bekämpft werden, sondern meist auf emotionaler Ebene, oft mit einer Moralkeule. Verschwörungstheorie wird als Schlagwort gebraucht, das Unbehagen bereiten soll, sich mit dem Thema überhaupt zu beschäftigen: Pfui! Zeitverschwendung!
Der Begriff droht implizit mit der Einordnung ins Absonderliche, Tabuisierte oder gar politisch Extreme. Wie das Beispiel flache Erde zeigt, ist "Verschwörungstheorie" auch eine Schublade, in die man offensichtlichem Unsinn zusammen mit diskutablen Hypothesen steckt, um diese zu entwerten. Durch die Verklammerung soll ein Gedanke lächerlich gemacht werden, ohne inhaltlich auf ihn einzugehen.
Natürlich haben "Verschwörungstheorien", nennen wir sie besser Hypothesen, stark unterschiedliche Glaubwürdigkeit, mögen unrichtig, unlogisch oder auch geradezu verrückt sein. Gerade dies sollte aber zu einem entspannten Umgang mit ihnen führen. In der Wissenschaft wird zum Beispiel kein integrer Forscher sein Fachgebiet durch verrückte Alternativtheorien bedroht sehen, denn Hypothesen ohne Evidenz sterben unter vernünftigen Menschen von selbst aus.
Manchmal hört man dagegen, "Verschwörungstheorien" müssten aktiv bekämpft werden. Dies kann höchstens Argwohn hervorrufen, ebenso, wenn behauptet wird, Verschwörungstheorien würden das politische Klima "vergiften" oder gar die "Demokratie gefährden". Dies ist ebenso albern wie die Behauptung, kosmologische Forschung würde durch Astrologie in Gefahr geraten. Je offenkundiger der Unsinn, desto harmloser ist er auch für die Suche nach Erkenntnis.
Die Terrorindustrie
Nicht harmlos scheint hingegen, was tatsächlich im Verborgenen geschieht und realen Bezug zu Gewaltereignissen hat. Der amerikanische Investigativjournalist Trevor Aaronson hat in seinem Buch "The Terror Factory: Inside the FBI's Maufactured War on Terrorism" zahlreiche Fälle dokumentiert, in dem die Sicherheitsbehörden mental labile Individuen mit extremen Ansichten geradezu zu Anschlägen anleiteten. Dies geschah durch Finanzierung, Planung und sogar Bereitstellung von Waffen, die bei Terrorakten verwendet wurden.
Aaronson bezieht sich auf eine Studie der Universität von Kalifornien, die Hunderte von Ermittlungsakten der amerikanischen Bundespolizei systematisch ausgewertet hatte. Im Jahr 2015 erklärte Aaronson in einem Vortrag wörtlich: "Das FBI ist für mehr Terroranschläge verantwortlich als alle islamistischen Organisationen zusammen." Das Ergebnis der jahrelangen Recherchen wurde im Übrigen dem FBI mit der Bitte um Überprüfung vorgelegt. Man fand keine Fehler. Aaronson wurde für seine Arbeit mit Preisen ausgezeichnet, die öffentliche Resonanz auf seine Enthüllungen blieb jedoch überschaubar.
Nach seinen Recherchen muss man jedoch davon ausgehen, dass sich False-Flag-Operationen und inszenierte Anschläge, wie sie von Daniele Ganser und anderen beschrieben wurden, in der Gegenwart fortsetzen. Die Adressaten solcher Anschläge sind nicht die Opfer selbst, sondern die Öffentlichkeit, die dadurch in Angst versetzt und eher bereit sein wird, Einschränkungen ihrer Rechte hinzunehmen.
Sie denken, ich hatte Glück, mich hat's nicht erwischt. Doch, genau Sie hat's erwischt.
Daniele Ganser
Sehr defensiv formuliert, gibt es bei vielen Terroranschlägen der letzten Jahre offene Fragen. Das fängt mit der bemerkenswerten Ungeschicklichkeit an, mit der die Täter ihre Ausweise am Tatort zu hinterlassen pflegen, und endet mit der signifikanten Seltenheit, mit der die Delinquenten ihre Verhaftung überleben, weil sie trotz auswegloser Lage einen Schusswechsel mit der Polizei beginnen. Dazu kamen Versäumnisse der Sicherheitsbehörden, die sich im Vorfeld gegenüber den von den Tätern ausgehenden Gefahren geradezu blind zeigten, denen dilettantische Ermittlungspannen unterliefen, und die in einzelnen Fällen sogar Beweise fälschten und vernichteten.
Über den NSU-Komplex, die Attentate in Frankreich 2015 und 2016 oder in Berlin 2016 wurde schon viel geschrieben, auch von Autoren, die diese Fälle mit detailliertem Quellenstudium untersucht haben. Was auch immer Sie sich als Leser für eine Einschätzung gebildet haben, eines steht fest: In allen Fällen wurde der Begriff "Verschwörungstheorie" missbräuchlich eingesetzt, sobald ganz normale Fragen auftauchten, die sich bei Ermittlungen zu Verbrechen eben stellen. Die Öffentlichkeit reagiert auf diese Emotionalisierung allerdings durchaus mit einem gewissen Widerstreben gegen investigative Berichte.
Tabu ist einfacher als Aufklärung
Dabei gibt es ein wichtiges psychologisches Element. Die bei unvoreingenommenen Ermittlungen denkbare Hypothese, dass Regierungen oder zumindest einzelne Behörden in Verbrechen verwickelt sein könnten, verletzt zutiefst unser Grundvertrauen in den "Vater Staat", dem eigentlich Wohlergehen und Sicherheit seiner Bürger oberste Handlungsmaxime sein sollte.
Die Erfahrung des Gegenteils wäre ein Trauma, vergleichbar dem eines Kindes, das Gewalt von Seiten seiner geliebten Eltern erlebt. In diesem Fall führt der unerträgliche Widerspruch oft zu einer mentalen Abspaltung und Verdrängung des Traumas. Auf ähnliche psychologische Mechanismen ist es wohl zurückzuführen, dass das Erwägen von verbrecherischem (das heißt nicht nur unmoralischem, interessengeleitetem oder korruptem) Regierungshandeln immer noch als Tabu gilt.
Vermieden werden kann dieses Tabu mit der Vorstellung von extremistischen, unberechenbaren oder gar geistig verwirrten "Einzeltätern", welche den Terrorakten einen Anstrich von Unvermeidbarkeit verleihen. Es ist auffallend, wie sehr das Narrativ des Einzeltäters die regierungsnahen Darstellungen von Gewaltereignissen dominiert, obwohl dies keineswegs der historische Regelfall ist. Man studiere in diesem Zusammenhang durchaus bei Wikipedia, wie oft (beginnend 680 v. Chr. mit dem assyrischen König Sanherib) Staatsoberhäupter durch "verwirrte Einzeltäter" und wie oft durch tatsächliche Verschwörungen mehrerer Beteiligter zu Tode kamen. Stirbt der Einzeltäter bei seiner Verhaftung oder kurz danach, entfällt die staatliche Verpflichtung zur Ermittlung, was für die an Aufklärung interessierte Öffentlichkeit oft unbefriedigend ist. Fast scheint es so, dass das Narrativ des Einzeltäters heute eine politisch korrekte Alternative zur anrüchigen Verschwörungstheorie geworden ist.
Der unglaubwürdigste Fall einer heute noch offiziell vertretenen Einzeltätertheorie ist wohl die Ermordung John F. Kennedys. Neben allen anderen historischen Details, mit denen James W. Douglass in seinem Buch JFK and the Unspeakable die Täterschaft der CIA belegt, sticht vor allem die Widersinnigkeit der angeblichen Motivation des Einzeltäters Lee Harvey Oswald hervor: Er solle im Interesse der Sowjetunion und Kubas gehandelt haben, zweier Länder, die von der durch Kennedy eingeleiteten Entspannung profitierten.
Ich werde die CIA in tausend Stücke schlagen und sie in alle Winde zerstreuen.
John F. Kennedy
Phantom statt Evidenz
Die mögliche Verstrickung von Geheimdiensten bei einem Attentat in Deutschland thematisierte zuerst Gerhard Wisnewski. Die Ermordung von Alfred Herrhausen 1989 durch die RAF erschiwn ziemlich unlogisch. Ein wirkliches Motiv ergab sich dagegen aus Herrhausens Verhalten als Banker und Manager: Drei Tage vor seinem Tod hatte er überraschend eine britische Investmentbank übernommen (in Kombination mit seinem Vorschlag eines Schuldenerlasses für arme Länder hatte dies erhebliche Befürchtungen anderer Banken geweckt).
Wisnewski untersuchte daher den Fall näher und entdeckte Unerhörtes: Ein vom Verfassungsschutz bedrohter Kronzeuge widerrief sein anfängliches Geständnis vor laufender Kamera, bei der Bombe handelte es sich um ein Hightech-Produkt anstatt einer "Handarbeit", wie in einem Bekennerbrief zu lesen war, und das Verhalten der Personenschützer am Tattag war geradezu unglaublich nachlässig. Wisnewskis Buch wurde zum Bestseller, der darauf aufbauende Film "Das RAF-Phantom" erhielt 2001 den Grimme-Preis (inzwischen aus Wisnewskis Wikipedia-Artikel gelöscht). Inzwischen werden Wisnewskis Recherchen ebenfalls als "Verschwörungstheorie" bezeichnet, denn ein anderer Autor hat die offizielle Version im Rahmen seiner Promotion "wissenschaftlich" bestätigt, betreut übrigens von einem Dozenten der Führungsakademie der Bundeswehr und Oberst der Reserve.
Weniger über das Attentat als über Wikipedia sagt es aus, wie die akademisch geadelte Gegenmeinung dort hochgelobt wird. Ein besonders aktiver Administrator vertritt sogar die Ansicht, sobald "wissenschaftliche" Quellen zur Verfügung stünden, dürften andere gar nicht mehr erwähnt werden. So ist es um die Meinungsvielfalt im Jahr 2019 bestellt.
In der Politik geschieht nichts zufällig. Wenn etwas geschieht, kann man sicher sein, dass es auch auf diese Weise geplant war.
Franklin D. Roosevelt
Als Wisnewski 2003 auch noch in einer Fernsehdokumentation des WDR die Anschläge vom 11. September thematisiert hatte, wurde er medial hingerichtet - übrigens vom Spiegel, der gleichzeitig sehr authentisch über die Vernehmungen in Guantanamo zu berichten wusste. Das gleiche Schicksal ereilt nun wohl Daniele Ganser, dessen Buch über NATO-Geheimarmeen 2005 im Spiegel überaus positiv rezensiert worden war, seit er aber den 11. September zum Thema macht, wird er ebenfalls in die Verschwörungsecke gedrängt, wie zum Beispiel im Schweizer Fernsehen. Dabei behauptet Ganser keinen konkreten Ablauf. Offene Fragen sind aber nun mal da.
Helmut Schmidt: "Ich habe den Verdacht, dass sich alle Terrorismen, […] in ihrer Menschenverachtung wenig nehmen. Sie werden übertroffen von bestimmten Formen von Staatsterrorismus."
ZEIT: "Ist das Ihr Ernst? Wen meinen Sie?"
Helmut Schmidt: "Belassen wir es dabei. Aber ich meine wirklich, was ich sage."
Strategie der Spannung und Taktik der Diffamierung
Lassen wir für diese Diskussion die inhaltliche Bewertung all dieser Ereignisse zunächst beiseite und betrachten die Methodik, wie wir mit unvollständiger und möglicherweise verfälschter Information umgehen.
Eine rationale Strategie, die Ereignisse vom 11.September 2001 zu bewerten, ist sicher, an allen bestehenden Theorien zu zweifeln, einschließlich der regierungsamtlichen. Wenn Hypothesen über Vorwissen oder Verstrickung der Regierung endgültig widerlegt werden sollen, dann muss dies jedenfalls mit sachlichen Argumenten geschehen, nicht mit Tabuisierung. Leider sind aber wesentliche Informationen, die Aufschluss über die Hintergründe geben könnten, bis heute nicht öffentlich - das ist fast das Einzige, was man ganz sicher weiß.
Emotionales Geschrei à la "Verschwörungstheorie", Empörung, Verbote und Zensur helfen für die Wahrheitsfindung nicht weiter. Nötig wäre eine wissenschaftliche Herangehensweise, bei der sich unabhängige Forschergruppen im Detail mit der Evidenz beschäftigen und separat publizieren, möglichst transparent unter Verwendung öffentlicher Rohdaten. Derzeit scheint das aber in weiter Ferne.
Zu wünschen ist, dass sich der Vorwurf "Verschwörungstheorie" weiter abnutzt und als durchsichtiger Versuch erkannt wird, Fragen zu offiziellen Darstellungen zu unterdrücken, auch wenn sich diese aufdrängen. Im Land von Kant und Schiller ist es besonders traurig, dass die Forderung nach dem Nichtgebrauch des Verstandes eine derartige Konjunktur entfaltet. Noch einen Schritt weiter ist es von der Verschwörungstheorie zum Verschwörungstheoretiker, einer polemischen Abstraktion von der Sache zur Person, die ebenso unfair wie irrational ist.
Es ist ganz normal, dass jemand, der selbst denkt, den einen Sachverhalt zutreffend bewertet, sich bei anderen Gelegenheiten aber irren kann. Dennoch wird oft jemand mit dem Argument diskreditiert, er habe eine falsche Ansicht zu irgendeinem Thema. Mit diesem Einwand könnte man alle physikalischen Theorien von Newton bis Einstein beiseite wischen, denn neben ihren Erkenntnissen unterliefen diesen nicht wenige Irrtümer, ebenso wie dem visionären Physiker und Philosophen Ernst Mach. Dieser hatte tiefe Einsichten zum Ursprung der Gravitation, bezweifelte aber die Existenz von Atomen.
Unterstützung von der Statistik
Neben Untersuchungen spielen bei der Beurteilung von weltpolitischen Ereignissen auch allgemeine methodische und historische Erwägungen eine wichtige Rolle, die in der öffentlichen Diskussion oft in den Hintergrund treten. Gerade weil wir die Hilfe des Verstandes benötigen, um uns ein zutreffendes Abbild der Realität zu verschaffen, ist es hilfreich, einen Blick auf diese scheinbar trockenen Methoden zu werfen.
Ein wichtiger Begriff hierbei ist die sogenannte a-priori-Wahrscheinlichkeit, die nach dem schottischen Statistiker Bayes benannt ist. Die Unkenntnis darüber führt oft zu erheblicher Verunsicherung von Patienten, die sich mit der Diagnose einer Krankheit konfrontiert sehen. Wenn zum Beispiel eine seltene Krankheit im Mittel nur bei 10 von 1000 Personen auftritt, und diese mit einem Verfahren mit nur 2 Prozent Fehlerwahrscheinlichkeit getestet wird, ergibt sich ein verzerrtes Bild. Denn zu den 10 identifizierten Kranken kommen etwa 20 Menschen, die falsch-positiv getestet wurden. Die Wahrscheinlichkeit, krank zu sein, beträgt daher nur etwa 10 von 30, also ein Drittel, selbst wenn man ein unangenehmes Testresultat erfahren hat. Die meisten Menschen vergessen, dass die a-priori-Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung gering war.
Was hat dies nun mit Politik zu tun? Bestimmte Szenarien sind a priori unwahrscheinlich, weil sie nicht der geschichtlichen Erfahrung entsprechen, so wie Einzeltäter bei Attentaten auf Staatsoberhäupter. Ereignisse, die Anlass zu einem Krieg gaben, stellten sich in den seltensten Fällen als wahr heraus. Dies ist keine moralische Antikriegsargumentation, sondern nüchterne historische Evidenz. Es ist daher völlig legitim und für eine Gesamtwürdigung notwendig, sich über a priori-Wahrscheinlichkeiten (sie entspricht der Häufigkeit der Krankheit) Gedanken zu machen, ganz gleich wie wahrscheinlich die konkreten Umstände des Hergangs waren (was dem Diagnosetest entspricht). Dies erfordert allerdings ein breiteres historisches und methodisches Wissen.
Entsprechende Unterschiede in der Bewertung von Theorien gibt es daher auch in der "harten" Naturwissenschaft. Hochenergiephysiker sehen zum Beispiel die Existenz von Elementarteilchen als erwiesen an, wenn die Experimente, gleich den Diagnosetests, geringe Fehlerwahrscheinlichkeiten aufweisen. Das derzeitige Standardmodell umfasst daher eine Vielzahl von Teilchen, die entsprechende Tests durchlaufen haben. Historisch und naturphilosophisch orientierte Physiker halten dagegen, dass sich komplizierte Erklärungsmodelle in der Wissenschaftsgeschichte praktisch immer als falsch erwiesen haben. Sie messen daher solchen Modellen eine geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit bei und bewerten die Glaubwürdigkeit des Standardmodells geringer.
Anlass zur Kontroverse sowohl in Politik und Wissenschaft ist auch regelmäßig, ob bestimmte Koinzidenzen zufällig sind oder nicht. Auch hier sollte man nüchtern statistisch argumentieren: Gerade weil das menschliche Gehirn statistische Sachverhalte nicht intuitiv erfasst, sind solche Analysen notwendig.
Teile dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen Betrachtung sind natürlich schon unter anderem Namen bekannt, etwa die Frage "Cui Bono?", die römische Rechtsgelehrte immer schon stellten. Die Frage nach dem Motiv, wem ein Ereignis nutzt und wem nicht, wird bei tagespolitischen Ereignissen viel zu selten aufgeworfen, betrifft aber die a priori-Wahrscheinlichkeit.
Der deutsche Fernsehzuschauer lernt jede Woche beim Verfolgen seines Krimis, dass es keinen Mord ohne Motiv gibt, nur um kurz danach in den Tagesthemen zu erfahren, dass Assad wieder einmal Chemiewaffen oder mindestens Fassbomben aus purer Mordlust auf sein eigenes Volk geworfen hat - und dabei offenbar jedes Mal weltweite Empörung und Militärschläge gerne in Kauf nimmt …
Please, engage your brain!
Die Details von Gewaltereignissen, die oft der Geheimhaltung unterliegen, unverfälscht zu erfahren, ist für den normalen Medienkonsumenten schwierig. Für die Prüfung, ob die ganze Geschichte einen Sinn ergibt, reicht jedoch oft ein wacher Verstand. Wie würde man sich selbst in der Situation verhalten? Gibt es Widersprüche zu vergangenem Verhalten oder zu den Zielen der Beteiligten? Was folgt unmittelbar aus den unstrittigen Tatsachen? Viel wichtiger als Details ist die Stimmigkeit der Geschichte, denn rationales Handeln der Beteiligten ist nun einmal a priori wahrscheinlicher als irrationales. Viele Narrative, die heute in den Nachrichten präsentiert werden, erfordern wenig Nachdenken, um darin Inkonsistenzen zu entdecken und scheitern damit an logischen Grundvoraussetzungen.
Problematisch ist, dass bei manch öffentlich verbreiteter Empörung überhaupt nicht mehr der Versuch gemacht wird, eine rationale Debatte zu führen. Beispielsweise setzt die britische Regierung in dem mysteriösen Fall Skripal offenbar darauf, von Zeit zu Zeit laute, punktuelle Beschuldigungen zu erheben, die nicht nur oft nicht nachprüfbar sind, sondern immer neue logische Inkonsistenzen enthalten. Es gibt daher auch kein Interview, keinen Vortrag oder Artikel, der die regierungsoffizielle Ansicht anhand einer nachvollziehbaren Gedankenkette darlegt. Eine sachliche Auseinandersetzung wird schlicht verweigert, ohne dass dies die meisten Medien irgendwie zu stören scheint.
Ein Philosoph, der sich nicht äußert, ist wie ein Boxer, der nicht in den Ring steigt.
Ludwig Wittgenstein
Umgekehrt kann man erhellende Einsichten haben, wenn man Menschen zuhört, die auf besondere Erfahrungen und Hintergrundwissen zurückgreifen können. Ihre Argumente stützen sich meist auf unstrittige Tatsachen, stellen zwischen diesen aber einen sinnvollen Bezug her. Dies lässt Zusammenhänge erkennen, neben denen die tagespolitischen Kommentare der Journalisten als zu kurz gedacht erscheinen.
Ein Beispiel stellt ein BBC-Interview mit dem ehemaligen Botschafter Großbritanniens in Syrien, Peter Ford, dar. Ford betonte, dass es in der siegreichen Situation Assads im April 2018 unsinnig gewesen wäre, die Reste des Widerstandes mit Giftgas anzugreifen. "Aber was sollten die Rebellen für eine Motivation haben?", entgegnete der Moderator. Peter Ford antwortete, und einen besseren Ratschlag kann man ganz allgemein nicht geben: "Ist das nicht offensichtlich? Wir müssen hier unser Gehirn bemühen!"
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Eine Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten", das im Westend-Verlag erschienen ist.