Die Furie des Verschwindens

Über die Bedeutung von Bücherorten für das soziale Immunsystem der Stadt

Läsen die Menschen mehr, es wäre besser bestellt um unsere
Welt.

Gerhard Köpf: Papas Koffer

… ohne die Hand auszustrecken
nach dem oder jenem,
fällt ihr, was zunächst unmerklich,
dann schnell, rasend schnell fällt, zu;
sie allein bleibt, ruhig,
die Furie des Verschwindens."

Hans Magnus Enzensberger: Die Furie des Verschwindens

Es ist eine Erfahrung, die wir immer häufiger machen: Man dreht etwas kurz den Rücken zu und wenn man sich wieder rumdreht, ist es verschwunden. War da nicht neulich noch ein Papiergeschäft, dort ein Blumenladen? Standen da vor kurzem nicht noch Bäume?

Unsere Lebenswelt ist in einem Wandel begriffen, dessen Tempo stetig zunimmt und bei dem immer mehr Menschen das Gefühl haben, nicht mehr mitzukommen. Vor drei Jahren verschwand das letzte und einzige Antiquariat der Universitätsstadt Gießen.

Nach sieben Jahren warfen die Betreiber das Handtuch. Der Laden ernährte sie eher schlecht als recht und nur um den Preis einer intensiven Selbstausbeutung. Sie empfanden den Laden mehr und mehr als Mühlstein um ihre Hälse und erhofften sich von seiner Schließung ein Mehr an Freiheit und Zeit für Dinge und Tätigkeiten, die ihnen wichtig sind. Zum Beispiel für ihr politisches Engagement und das Lesen von Büchern.

Mich schmerzte die Schließung, weil sie mich eines wichtigen sozialen und emotionalen Bezugspunktes beraubte - in einer Stadt, die mit Orten, die sich libidinös besetzen lassen, nicht gerade reich gesegnet ist. In den letzten Jahren führte mich mein Weg mindestens einmal am Tag ins Antiquariat. Ich genoss das Fluidum der Bücher, schlenderte durch die schier endlosen Regalreihen, unterhielt mich mit den Betreibern des Ladens, genoss es, wenn die hauseigene Katze mir um die Beine strich.

Man konnte einer Menge interessanter Menschen dort begegnen. Unangepassten, eigensinnigen Leuten meist, die höchstens mit einem Bein auf dem Boden der sogenannten Tatsachen standen und den Kopf voller Flausen hatten. Bücherlesern und Bücherliebhabern, die die Gesellschaft von Büchern der Gesellschaft der allermeisten Menschen vorzogen.

Läden wie dieser sind mehr als Räume, in denen Geschäfte getätigt werden. Es sind Orte der Begegnung, Treffpunkte. Ein Antiquariat ist ein Zufluchtsort für vom Aussterben bedrohte Bücher und Menschen.

Aber nicht nur wir Büchermenschen verloren etwas durch die Schließung dieses Antiquariats, auch die Stadt wurde ärmer. Eine Stadt, die mehr sein will als eine Ansammlung von Häusern und ein Aufmarschgebiet von Waren, benötigt etwas, das man als ihr urbanes Element bezeichnen kann. Dieses ist aufs Engste mit der Sphäre der Öffentlichkeit verknüpft.

Öffentlichkeit braucht Platz, nicht-kommerzialisierte Räume, sie muss sich ausdehnen, hin- und her fluten können. Sie braucht Cafés, in denen Zeitungen ausliegen, kleine, fast dörfliche Inseln der Besinnung, sie braucht den kleinen Laden, wo man einander kennt. Und sie benötigt Buchhandlungen, Antiquariate, frei zugängliche Bibliotheken und Theater, die den Geist mit Nahrung versorgen.

Durch die Entwicklung der Städte in den letzten Jahrzehnten ist dieses urbane Element fast vollständig zerstört worden. Nicht die amerikanischen oder englischen Flugzeuge, sondern die Kapitalisierung des Bau- und Wohnungsmarktes haben die urbane Substanz der Städte beinahe ruiniert. Das, was da durch Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raumes zerstört worden ist, lässt sich nicht dadurch wiederherstellen, dass man ein Stück Altstadt und ein paar Fachwerkfassaden wiederherstellt. Verloren gegangene Urbanität kann nicht als Folklore künstlich wiederhergestellt werden.

Demokratie basiert auf Mündigkeit und kritischer Urteilsfähigkeit, das heißt der Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen. Solche Haltungen erwirbt man durch Lesen und intellektuellen Austausch. In den vergangenen Jahren haben Millionen Deutsche, darunter auch das Gros der Studierenden, sich entschieden, keine Bücher mehr zu lesen und sich stattdessen voll und ganz ihren Smartphones zu widmen.

Laut Statistik schauen die Deutschen mehr als 50 Mal pro Tag auf ihr Smartphone, was aber eine trügerische Zahl ist, weil es nach meiner Beobachtung jede Menge Leute gibt, die ihre Smartphones keinen Augenblick aus den Augen lassen - neuerdings sogar beim Fahrradfahren. Der Facebook-Mitbegründer Sean Parker sagte einmal, die Plattform sei von Anfang an so konzipiert gewesen, die anthropologische Sehnsucht ihrer Nutzer, von anderen Bestätigung zu erfahren, in Verweildauer umzuwandeln, die dann wiederum die Anzeigenkunden interessiert und auf diese Weise Facebook Gewinn bringt.

Um ein Maximum an Nutzerzeit herauszuschlagen, fördern die Algorithmen der Social-Media-Plattformen all jene Emotionen, die Menschen am längsten am Bildschirm halten. Das sind Angst, Hass und Schadenfreude. Das sind nicht gerade Tugenden, die demokratisches und solidarisches Verhalten begünstigen.

Es ist eine bittere Ironie, dass die Fähigkeit, einen sinnvollen Gebrauch vom Internet zu machen, nicht aus dem Internet stammt, sondern vom Lesen und analogen Weisen der Kommunikation. Damit schließt sich der Kreis. Wie die Menschen leben wollen, findet seinen Ausdruck auch in der Gestaltung ihrer Stadt. Eine Stadt, in der lebendige Menschen unter demokratischen Bedingungen leben wollen, braucht Bücherorte - nicht nur Handy-Läden, Shopping-Malls und Fastfood-Lokale. Bücherorte sind Teil eines sozialen Immunsystems, eines Geflechts von sozialen Bindungen und Kontakten, das Menschen ebenso dringend benötigen wie das körperliche Immunsystem.

Das Vorhandensein und die Qualität beider haben großen Einfluss darauf, ob wir körperliche und seelische Abwehrkräfte mobilisieren können. In unserer durchökonomisierten Welt ist alles "in die Funktionale gerutscht", wie Brecht sagte. Umso dringender benötigen wir Orte, an denen das Unzeitgemäße und Nicht-Funktionale überleben kann.

Ich kann mir ein Leben in einer Welt, in der nicht mehr gelesen wird, nicht vorstellen und halte eine Welt ohne Bücher auch für nicht lebenswert. In letzter Zeit ist viel von einem generellen Schwund der Empathie und vom Verlust des Mitgefühls bei Kindern und Jugendlichen die Rede.

Schon entwickeln Kinder- und Jugendpsychiater Präventionsprogramme, die man aus den Therapieversuchen mit sogenannten Psychopathen kennt, die keinen Zugang zu ihren Gefühlen und denen anderer haben. Wie sieht jemand aus, der traurig ist? Wie ein Mensch, der sich ekelt? Wie einer, der zornig ist? Wie kann man jemand trösten? Empathie und Achtsamkeit sollen eingeübt werden.

Ich habe Zweifel, ob eine synthetische Nachproduktion von Einfühlungsvermögen gelingen kann. Wenn ich beim Gang durch die Stadt heutige Mütter und Väter beobachte, kommt es mir so vor, als ginge es ihnen vorrangig darum, ihre Bindung an ihr Smartphone zu stärken anstatt die zu ihrem Kind.

Vor der Bäckerei auf Einlass wartend, sah ich unlängst einen jungen Vater, der sein Kind im Kinderwagen vor sich herschob. Das Kind wandte seinen Kopf dem Vater zu und wollte ihn auf eine Taube aufmerksam machen, die es gerade entdeckt hatte. "Guck mal, eine Taube", rief es begeistert. "Ja, ja", brummte der Vater, der mit seinem Smartphone beschäftigt war. Er fühlte sich offenbar gestört.

Noch grausamer finde ich jene Eltern, die sich ihr Neugeborenes in einem Tragetuch vor die Brust binden und dann ihr Smartphone zehn Zentimeter neben seinen Kopf halten. Das Kind hört die Stimme von Mutter oder Vater, sieht auch deren Augen, aber diese ruhen nicht auf ihm und spiegeln seinen Blick, sondern huschen nervös über das Display. Das Kind weiß nicht, was los ist und wird irrealisiert. Was ist das? Missachtung, Indifferenz, Gedankenlosigkeit?

Hinter all diesen Praktiken zeichnet sich die Heraufkunft eines neuen Kindheitsmusters an, das dem digitalen Zeitalter die digitalen Menschen produziert. Man bereitet sie auf ein Leben als Smartphonewischer und Datenproduzenten vor, das ist alles. Was für seelische Strukturen bilden solche Kinder aus, wie sieht ihr Innenleben aus? Es gibt Vermutungen, dass es dem von Psychopathen ähnelt, das eine Gletscherlandschaft eingefrorener Gefühle ist.

Diese Wandlung der Eltern-Kind-Beziehung scheint mir ein wesentlicher Faktor bei der Erzeugung des beklagten Empathie-Verlustes. Die Fähigkeit, uns in andere einfühlen, mit ihnen mitzufühlen und unser Verhältnis zu ihnen in richtiger Perspektive zu sehen, mag zwar in uns angelegt sein, aber sie bildet und formt sich vor allem in sehr frühen Spiegelungserfahrungen und im Umgang mit zur Einfühlung fähigen Eltern oder anderen Bezugspersonen. Besser oder schlechter - und unter extrem widrigen Bedingungen eben auch gar nicht.

Ich kann und will mich einfach nicht mit diesen Formen der Missachtung von Kindern abfinden, auch wenn sie inzwischen zur Normalität gehören. Ich war noch nie ein Freund der Normalität, in welcher Gestalt auch immer sie mir begegnet ist. Dass etwas normal ist, ist kein Grund, sich damit abzufinden oder es gar zu verehren.

Es gibt eine andere, weniger künstliche Möglichkeit, die Ausbildung der Fähigkeit zu Empathie zu fördern. Sie ist nämlich eine Gratisbeigabe des Lesens von guten Romanen. Dabei lernt man ganz nebenbei, die Welt aus der Perspektive anderer wahrzunehmen und sich in fremde Lebensläufe hineinzuversetzen. Wer nicht möchte, dass Gewalt und Grausamkeit überhand nehmen, muss ein vitales Interesse daran haben, dass weiter gelesen und vorgelesen wird und Bücherorte erhalten bleiben.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Eisenberg arbeitet seit Jahren an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Auf der Homepage der GEW Ansbach erscheint fortlaufend Eisenbergs Durchhalteprosa.