Machtwechsel beim G20: Der Westen muss sich hinten anstellen
Diese Woche fand das Treffen der G-20-Staaten in Brasilien statt. Neben einer Abschlusserklärung gab es Zwischentöne eines westlichen Bedeutungsverlusts. Eine Analyse.
Zum 19. Mal trafen sich Anfang dieser Woche die politischen Vertreter der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer im brasilianischen Rio de Janeiro. In zwei Tagen sollten gemeinsam Entscheidungen mit Signalwirkung getroffen werden.
Die G20 rücken nach Süden
Die Gruppe repräsentiert kumuliert mehr als 80 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, 75 Prozent des Welthandels oder je nach Berechnung (nominal und nach Kaufkraftparitäten) zwischen 97 und 92 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts.
Politische Schwergewichte also, die sich den großen Themen der Gattung Mensch widmen: Frauenrechte, Klimawandel, Migration oder Terrorismus.
Inzwischen wird die Gruppe zunehmend entlang der globalen geopolitischen Fronten gespalten – entlang der Positionierung zu Israel, zur Ukraine oder zum globalen Nord-Süd-Gefälle. Während der traditionelle Westen durch die USA, die EU, die Bundesrepublik sowie Frankreich oder Italien repräsentiert wird, zeigen immer mehr ehemals abhängige Staaten diplomatisch die Zähne.
Von westlicher Hegemonie und einer Dominanz westlicher, imperialer Staaten kann kaum noch die Rede sein. Nicht zuletzt ist der Austragungsort bezeichnend: Mit Ausnahme des Gipfels 2021 in Rom fanden die letzten Treffen alle in nicht-westlichen Staaten statt, interessanterweise in BRICS+ oder BRI-Staaten.
Saudi-Arabien, Indonesien, Indien und aktuell Brasilien waren die Gastgeber. Die runde 20. Auflage findet in Südafrika statt – der Westen scheint als Gastgeber abgelöst.
Hunger statt Ukraine
Mit Brasilien unter Lula da Silva hat ein Mann maßgeblich die Agenda bestimmt, der im kollektiven Westen wenig Anklang findet. In einem jahrelangen Kampf gegen die politische und kapitalstarke Rechte im Land hat sich der in bitterer Armut aufgewachsene Lula einmal mehr durchgesetzt.
Seine Prioritäten durchkreuzten die Pläne der deutsch-amerikanischen Achse, die G20 für eine kleine Anklage gegen Russland oder eine Generalverteidigung israelischer Kriegsverbrecher zu nutzen.
Die im Westen drängenden Themen standen schlicht am Rande oder gar nicht auf der Tagesordnung. Dabei waren die Inhalte von immenser Brisanz: Kampf gegen den Hunger, Spitzensteuersätze beim Finanzministertreffen, Klimaschutz nach der COP29 und insgesamt mehr Gehör für den Globalen Süden. Für die deutsche Delegation unter Olaf Scholz eine Zeitenwende der anderen Art.
Als Randnotiz: Trotz Bitten und Wehklagen von Noch-US-Präsident Biden und Noch-Bundeskanzler Scholz, den ukrainischen Präsidenten Selenskyj einzuladen, blieb der linksorientierte brasilianische Präsident Lula da Silva seiner außenpolitischen Regierungslinie treu. Der ukrainische Gast blieb zu Hause.
Machtverschiebung in Textform
Sinnbildlich für die weltweit zu beobachtende Machtverschiebung ist, dass der greise US-Präsident Biden zum abschließenden Fototermin aller Politiker zu spät kam – er fehlt auf dem Foto. Ähnlich verhielt es sich mit den Themen der westlichen Hemisphäre in der Abschlusserklärung der G20 2024 – vor allem die Menschheitsthemen wurden von Lula gesetzt.
Bekämpfung von Hunger und Armut durch eine globale Initiative, höhere Spitzensteuersätze für die reichsten Promille und ein klares Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel von Paris – wie der Deutschland-Funk feststellt, aber keine Verurteilung Russlands.
Das ist spannend, denn in den beiden Vorgängererklärungen von Bali und Delhi war Russland noch explizit als Aggressor genannt worden. Folgerichtig polterte Bundeskanzler Olaf Scholz laut einem Bericht der taz, man müsse auch "Ross und Reiter nennen". Zuvor hatten sich die Mehrheit und die Erklärung zu den Prinzipien der UN-Charta bekannt und explizit den Verzicht auf Gewaltanwendung zum Gebietserwerb gefordert.
Im Boxsport würde man von einem K.o. sprechen – dieser folgte dem kollektiven Westen in den Passagen zum Nahostkonflikt.
Der vor allem in Deutschland mantraartig beschworene 7. Oktober 2023 wird mit keinem Wort erwähnt. Man bekannte sich im Einklang mit Dutzenden von UN-Resolutionen zum Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und äußerte sich besorgt über die humanitäre Lage im Libanon sowie in Gaza.
Bei allen Anzeichen einer Verschiebung sollten zwei Dinge nicht übersehen werden: Erstens sind die Dokumente (leider) nicht rechtsverbindlich, es handelt sich also um reine Absichtserklärungen, hinter die die Staaten in der Regel nicht zurückfallen wollen.
Zweitens helfen solche Papiertiger den Betroffenen gerade in den Konflikten um die Ukraine und den Gazastreifen wenig, wenn insbesondere die Konfliktparteien nicht in direkten diplomatischen Austausch miteinander treten. Einer friedlichen Lösung ist man also allenfalls hinter den Türen näher gekommen. Dort findet die eigentliche Politik statt.
Kompromiss auf Augenhöhe?
Die Sieger von Rio heißen nicht Olaf Scholz oder Joe Biden. Dennoch hat der Sozialdemokrat Scholz versucht, aus einer Niederlagenreise an den Amazonas einen Sieg zu machen.
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Was dabei herauskam, war die eine oder andere historische Formulierung in einer immens spannenden Pressekonferenz.
Zunächst bedankte sich Scholz beim brasilianischen Präsidenten für das diplomatische Angebot, eine internationale Kampagne gegen den Hunger ins Leben zu rufen – fast konnte man den Eindruck gewinnen, Scholz habe vergessen, dass er viel lieber über die Ukraine und mit Selenskyj konferiert hätte.
Aber geschenkt, die folgende Sequenz ist politischer Realismus und ein geschriebenes Glanzstück der geopolitischen Zeitenwende:
"Zugleich bedeutet dies aber auch eine große Verschiebung der Rahmenbedingungen (...): Die Länder des Globalen Südens, viele einflussreiche Staaten, werden in Zukunft über die Zukunft unserer Welt mitbestimmen wollen."
Und: "Ich glaube auch, dass Deutschland mit seiner Haltung für ein Miteinander in der Welt auf Augenhöhe und mit seiner Bereitschaft, etwas für die Entwicklung der Welt zu tun, die Haltung hat, die man braucht, damit das gemeinsam gelingen kann."
Hierzu mehrere Gedanken: Die alte Kolonialmacht Deutschland hat bis heute ihre Verbrechen monetär nicht gesühnt, liefert Waffen an einen gesuchten Kriegsverbrecher und will nach Jahrzehnten der Herrenmenschen-Attitüde und kapital-schwangerer "Entwicklungshilfe" endlich auf Augenhöhe Kompromisse schließen?
Man kann aus Sicht der in Deutschland herrschenden Politik nur hoffen, dass Scholz dabei die Rechnung nicht ohne den aufsteigenden Wirt des Globalen Süden gemacht hat. Vorsichtig formuliert: in Rio hat niemand auf deutsche Kompromisse gewartet und sie hätten gleichsam keine Mehrheit gefunden.
25 wichtige Minuten
Gegen Mittag des 19. November traf Scholz auf Chinas Präsident Xi Jinping – nach ersten Medieninformationen soll es dabei um die beiden zentralen Konflikte, um die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen sowie um gerechte Bedingungen im Wettbewerb gegangen sein.
Nach Informationen von Xinhua und der ARD unterbreitete Xi Scholz vor Ort ein erneutes Angebot zur langfristigen und strategischen Zusammenarbeit.
Spannend ist dabei jedoch der Nachsatz den Xi in einem Pressestatement nachlegte: Er formulierte dabei eine klare Einschränkung – nämlich, dass die Kerninteressen und Hauptanliegen des jeweils Anderen respektiert und die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Systeme akzeptiert werden würde.
Handel gibt es nicht mehr als westliches Diktat. Der G20-Gipfel illustriert, bei aller gebotener Vorsicht, auf sämtlichen Ebenen – Lula, China oder der Erklärung – eine neue, geopolitische Rollenverteilung. Ein erstes Vorzeichen einer kommenden Weltneuordnung.