Die Gesellschaft ohne Schmerzen
Seite 2: Die Lehren
Schmerz ist nur Schwäche, die den Körper verlässt
Abraham Lincoln
- Im dritten und letzten Szenario, inspiriert durch das Buch von Jon Ronson „The men who stare at goats”, befinden wir uns in einem 40 Fuß langen See-Container im Nachkriegs-Irak. Der Container ist leer bis auf einen Tisch und zwei Stühle. Er steht in der prallen Sonne. Innen messen wir 48 Grad Celsius. Es riecht nach Benzin, Fett und Chemie, die aus den Dielen des Containers dünsten. Ein “eingebetteter Journalist” ist mit der ersten Welle der Angriffe in den Irak gegangen. Er berichtet nun nach Abschluss der Kampfhandlungen über den Prozess der Demokratisierung des Landes. Seine Position ist schwankend. Einerseits steht er auf der Gehaltsliste einer militärnahen Organisation, die für alle eingebetteten Journalisten sorgt. Andererseits sind ihm schlimme Dinge zu Ohren gekommen. Er kann sie mit seinem Bild vom gerechten Krieg nicht zur Deckung bringen. Er fragt nach. Unter Kollegen gilt er deswegen bereits als indoktriniert. Mit einem der Einsatzleiter der Spezialeinheiten zur Terrorabwehr fährt er daher zu einer Containersiedlung hinter einem Vorstadtbahnhof, wo angeblich politische Gefangene mit kombinierten Programmen aus Licht (Stroboskop), Schall (Kinderlieder, 24 Stunden lang abgespielt) und Isolation (im Container, in Handschellen, mit verbunden Augen) gefoltert werden. Alle Gefangenen gelten als Bedrohung für die weltweite Sicherheit und den Frieden. Die meisten sind zwischen 16 und 20 Jahren alt. Zur Erzwingung ihrer Bereitschaft, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten, haben die Wärter des improvisierten Containergefängnisses ihre Taser-Waffen etwas zweckentfremdet. Sie haben die winzig kleinen Harpunen der stromführenden Drähte dauerhaft auf dem Oberkörper der Gefangenen mit Klebeband befestigt. Sie spielen den Irakern westliche Popmusik vor. Wenn die Gefangenen den endlosen Loop abschalten, die Kopfhörer aus den Ohren ziehen, geht ein Wärter zu ihnen hin und feuert eine Salve von zwei Sekunden Länge ab. Angeblich hat ein findiger Frickler aus dem technischen Begleitpersonal bereits einen Automatismus für diesen Vorgang programmiert. Der Journalist will mit eigenen Augen sehen, was an der Sache dran ist. Der leitende Militär ist ein radikaler Verfechter der “mark free interrogation”, und Befürworter aller technischen Methoden, die geeignet sind, den Widerstand von ideologischen Gewalttätern schnell zu überwinden. Der Gefangene, der dem Journalisten vorgeführt wird, ist vor zwei Wochen in einer Diskothek festgenommen worden. Die Diskothek gilt als Tarneinrichtung für Treffen des regionalen Widerstands. Das Militär hat den MP3-Stick, den der Junge bei der Verhaftung trug, mit neuen Sounds bespielt. Seit er das Programm hört, ist er wesentlich kooperativer geworden. Die Behandlung findet im Vorfeld einer Verhandlung statt.
- In der Mine des Schmerzes liegen wir zum Bersten angefüllt mit Nägeln, Nadeln, Bohrern, Splittern. Wer die Mine berührt, die zarten freiliegenden Zündnerven reizt, sprengt ihre dünne, metallische, hoch leitfähige Hülse. Vorgefühle der Vernichtung sickern durch vielgliedrige, vielfach abzweigende Empfindungsbahnen, flackern über Hautflächen, durch Organe und überstrahlen die betroffenen Zonen. Die Sonne der somatotopischen Sensationen. In ihrem glühenden Kern hocken die Phantome um den sensiblen Thalamus, der wiederum – elektrochemisch zum Kotau genötigt – seinen Träger zum Niederknien zwingt. Über die mehrachsige Traverse Rezeptor-Synapse-Prozessor-Aktion leitet Schmerz eine vom Druck gestaltete Umformung ein. Es prägt, in der explosiven Zelle unerträglicher Pein zu stecken.
- Automatisch wirst du ihre Form annehmen. Zivilisation ist auf die Schmerzen der Massen gebaut, schrieb John Stuart Mill. Schmerz will den Körper vor Schaden schützen, sagen die Kenner der Algesien. Wenn schlaue Technik alle Blockaden beseitigt, rast der Schmerz durch bis in die Hirnrinde. Wer ihn dosieren, geschickt verteilen kann, bricht jeden widerständigen Willen. Der Meister über die Schmerzen erzielt die schnelle Regression. Er macht den, den er zum Objekt macht, für jede Suggestion zugänglich.
- Vielleicht pflegte man in früheren Zeiten doch einfachere Beziehungen. In seinen Reflexionen zur Rechtsphilosophie notiert Kant: „Wir haben nur zweyerley Genuß eines Menschen von dem andern (des Fleisches): der cannibalische oder der wollüstige Genuß. Der letztere lässt die Persohn übrig.” Diese bemerkenswerte Zusammenführung von Zerfleischung und Fleischeslust hat wenig später ein Echo bei Kleist gefunden, in dessen „Penthesilea” sich „Küsse” auf „Bisse” reimen.
Das Dreieck Lust, Schmerz und Tod
In neueren Zeiten sind wir scheinbar etwas gewitzter, nicht zuletzt dank der Psychoanalyse. So könnten wir einen dritten Genuss hinzufügen: dem anderen Schmerz bereiten. Auch dieses Genießen lässt ihn übrig.
Es hat daher eher eine größere Nähe zum wollüstigen Genuss als zum verzehrenden Tod. Dieser aber stellt gleichwohl den Fluchtpunkt des Schmerzes dar, jenen Punkt am Horizont des Lebens, auf den hin aller Schmerz konvergiert. Die Kunst des Barock hat uns mit dem subtilen Zusammenspiel von Schmerz und Lust vertraut gemacht. Berninis „Verzückung der Heiligen Theresa” lässt die Entrückung der Lust in einem ekstatisch verdrehten Körper erscheinen, eine Entrückung, die auch die ihre Opferung genießenden Körper der Märtyrerdarstellungen auszeichnet.
Das Dreieck, gebildet aus Lust, Schmerz und Tod, ist somit keine einfache geometrische Figur, sondern eine raffinierte dynamische Konstruktion der Kultur.
Man wird einwenden, dieser Genuss ist nicht neu, auch der Inquisitor hätte Genuss an den Qualen der schmerzhaft Befragten gehabt. Es macht aber doch einen Unterschied aus, ob dem Schmerz eine Art Entschuldung zugestanden wird, wo er gegen die Sündhaftigkeit der Seele und des Leibes gegen gerechnet werden kann, der Schmerz somit spirituelle Bedeutung hat, oder ob ihm dieser Sinn bestritten wird.
Modern ist das Versprechen, neben der schmerzlosen Geburt, dem schmerzlosen Tod auch ein weit gehend schmerzfreies Leben zu bieten. Der Schmerz wird damit seiner eingebildeten Dimension beraubt, er sinkt zu einer bloßen Störung herab, einer Störung die lästig, die qualvoll, die aber nicht mehr sinnvoll sein kann. Darum ist der Schmerz auch keine Strafe mehr, er hat seine Stelle in der Schuldbilanz verloren. Der moderne Strafvollzug soll so schmerzfrei sein, wie er frei von Rache ist.
Immer dann, wenn die Politik sich solcher Mittel bemächtigt, hat sie die Tendenz zur Rache zurückzukehren. In der Folter des Feindes scheint sich nicht nur diese kulturelle Dimension des Schmerzes zu verflüchtigen, sondern der Einsatz des Schmerzes ist gezielt gegen das kulturelle Wesen Mensch gerichtet. Man hat bis zum Überdruss gehört, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Nun kann man erleben, dass die Politik zu einer politischen Theologie sich wandelt, was den Krieg notwendig zum Religionskrieg werden lässt. In ihm ist der Feind nicht mehr Adressat einer politischen Rede, sondern verwandelt sich in ein bloßes Objekt der politisch-theologischen Zwecke. Unter postmodernen säkularen Bedingungen wird er zum Ziel mehr oder weniger raffinierter Waffentechnologien, die ihm gerade das zuzumuten, was die Gesellschaft zu vermeiden sucht: den Schmerz. Dieser ist zur Strafe geworden, zum politischen Schicksal, weil er nicht mehr einfach da ist, sondern entweder hervorgerufen oder nicht vermieden wird. Das Schicksal ist somit keines, sondern entpuppt sich als bewusste Handlung.
Dies führt uns wieder zu Kant zurück, der einmal bemerkte, dass erst der kranke Körper zu sprechen beginne, während der gesunde stumm sei. Der kranke Körper spricht durch den Schmerz. Diese Kommunikation ist zugleich eine Trennung, denn erst im Schmerz beweist der Körper seine Eigenständigkeit, seine Eigenwilligkeit, die ihm der Geist nicht austreiben kann, ja der er geradezu ausgeliefert scheint. Der Körper stellt sich durch den Schmerz dem Geist, dem Bewusstsein gegenüber, gewinnt darin eine Kompetenz und eine Superiorität, die geeignet ist alle symbolische Kommunikation zu sistieren, sie zurückzunehmen auf ein bloßes Empfinden. Im Grenzfall treibt der schmerzende Körper dem Geist alle Flausen aus, indem er nur mehr den Schrei zulässt, jene unartikulierte Äußerung, die man als Grenzfall aller Sprache angenommen hat. Sie eignet aber auch dem Tier, scheint also die Universalsprache des Animalischen zu sein.
Kant jedoch kennt auch eine Form des Schmerzes, die erst in der symbolischen Welt, der Welt der kulturellen Wertungen, Gültigkeit gewinnt, wenn etwa die spartanische Mutter, die stolz auf die Tapferkeit ihres Sohnes ist, erfährt, dass dieser leider gefallen sei. Kant stellt das in den Rahmen einer seltsamen Berechnung des Glücks. Die Tapferkeit wird mit vier positiven Einheiten belegt, der Schmerz mit drei negativen, somit bleibt eine positive übrig. Jedenfalls aber ist der seelische Schmerz eine negative Größe, die Kant versuchsweise in die Weltweisheit eingeführt haben will. Wenn man den seelischen Schmerz als so genannten kortikalen Schmerz vom körperlichen Schmerz unterscheiden kann, so wird doch besonders die Einheit, wie sie im politischen Raum zuweilen hergestellt wird, interessant. Hier geht es nicht darum, über körperlichen Schmerz trübselig zu werden, noch um eine zufällige Gleichzeitigkeit, sondern um den Antrieb, der aus dem Symbolischen ausgreifend anderen Körpern Schmerz zufügen will.