Die Gesellschaft ohne Schmerzen
Seite 4: Im Visier demokratischer Waffen?
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Abschließend lässt sich schließlich die Frage stellen, in welchem Verhältnis die so genannten nicht-tödlichen Waffen zu den gemeinhin tödlichen stehen? Natürlich ist diese Unterscheidung im Grunde fiktiv, weil jede Waffe tödlich sein kann, wie wiederum vieles zur Waffe werden kann. Die Differenz verweist auf einen vorgestellten oder tatsächlichen Einsatz, einen bestimmten Gebrauch der Waffen. Wie so oft in unserer Gesellschaft wird eine soziale und politische Frage technisch gewendet, auf das Objekt verschoben, um den komplexeren Zusammenhängen auszuweichen.
Das Herausstellen technologischer Aspekte der Geräte erweist sich bei genauerer Betrachtung häufig als moralischer Hinweis. Ein komplexer Behauptungsapparat will die Erzeugung von Schmerzen auf “cleane”, saubere, abstrakte und funktionelle Art fundieren. TASER haben als Hauspublikation bereits im März 2006 mit “TASER International Sudden In-Custody Death Research 1st Edition 03/06” und im Juli mit “TASER International Research Compendium 5th Edition” insgesamt 1400 Seiten auf den Markt geworfen, die allein der Untermauerung der These dienen, dass wir es beim TASER mit einem Gerät zu tun haben, das weit ungefährlicher und wesentlich wünschenswerter ist als der Bohrer eines Zahnarztes. In dieselbe Kerbe (“gesund, sicher und gewaltminimierend”) haut der TASER-Botschafter Horst G. Sandfort in einer Email vom 4. 6. 2007 an den Autor mit der Aussage:
In Heiligendamm ist nicht genügend getasert worden, wenn wir die Anzahl der Verletzten beziffert sehen.
Begriffe wie NMI, das “neuro-muskuläre Stillstellen”, dessen sich der TASER bedient, oder “95 Gigahertz” als fachwissenschaftliches Quasi-Abstraktum, das in der Promotion für den Mikrowellenstrahler wie ein Mantra der Sicherheit aufgesagt wird, sollen den Politikern und Einsatzkräften klar machen, dass sie sich für “anständige” Technologie entscheiden, und dass damit das Zeitalter der Brutalität angeblich vorbei sei.
Es ist zwar banal, aber auch unerlässlich, darauf hinzuweisen, dass hier wie selbstverständlich angenommen wird, es gäbe ein unproblematisches Recht des Staates und seiner Organe, Waffen auf bislang unbescholtene Bürger zu richten, wie deren Charakter auch immer beschaffen sei. Als bescholten angesehene Bürger sind ja oft genug mit tödlichen Waffen konfrontiert, insbesondere wenn bei ihnen Waffen vermutet werden. Nicht-tödliche Waffen richten sich also bevorzugt gegen unbewaffnete Bürger, die man aber doch zu Kombattanten machen will.
Die entscheidende Frage lautet daher, ob wir uns mit der Entwicklung derartiger Hochtechnologie nicht aus der Demokratie heraus bewegen.
Es ist ein Gemeinplatz, dass wir an unseren Waffen und militärischen Entwicklungen leicht ablesen können, wie wir uns unsere politische Zukunft vorstellen, und in welche Richtung wir uns selbst entwickeln möchten. In seinem klugen Essay “Du und die Atombombe” schreibt George Orwell, kurz nach der Vollendung von “1984”, im Oktober 1945:
Zeitalter, deren dominierende Waffen teuer und aufwändig in der Herstellung sind, tendieren zum Despotismus ... Panzer, Schlachtschiffe und Bomber sind typische Tyrannen-Waffen. Gewehre, Musketen, Bogen und Handgranaten sind hingegen demokratische Waffen ... sie verschaffen den Schwachen Klauen.
Nun haben wir es mit zwei sehr unterschiedlichen Technologien zu tun: TASER ist mit knapp 1000 € ein preiswertes Produkt, wenn auch nicht deswegen, weil die Entwicklung schnell und billig war. Man kann eine kleine Version davon frei im Handel erwerben. Das Ziel der Firma: diese Variante sollte jeder, zumindest jede Frau mit sich führen zur Selbstverteidigung. Da haben wir die Klauen. Der TASER: ein demokratisches Mittel zur Selbstverteidigung? Das würde dann auch für andere, “mildere” Schmerz-erzeugende Mittel gelten, wie Gummigeschosse, Pfefferspray und Wasserwerfer: demokratische Waffen?
ADS hingegen ist groß, schwer, teuer, trotz 15 Jahren Forschung immer noch empfindlich in der Handhabung, eine echte “Boutiquen-Waffe”, wie William Arkin sie genannt hat. Ihr Auftreten ist bereits Furcht einflössend. Sie passt gut in das Bild der Tyrannis, die keine Gegenstimme duldet. Laser, gepulste Energiewaffen und Mikrowellen sind so gesehen die heutigen Pendants zu dem, was Orwell “despotische Systeme” genannt hat.
An ADS wird deutlich, dass nicht Missbrauch oder die Gefahren der Fehlanwendung die Argumente gegen nicht-tödliche Technologien liefern. Es ist die Frage der “Versiegelung” des öffentlichen Raumes, genauer: der technisch bewirkten Versiegelung des Mundes, an der entschieden werden muss, ob ADS mit den Vorstellungen von Demokratie und Bürgerfreiheit vereinbar ist. Der Schmerz spielt hier die Rolle einer in den Körper des Bürgers hinein erweiterten Technik zur Verschließung eines Feldes öffentlicher Meinungsäußerung. Letzteres gilt natürlich auch für den TASER. Vielleicht hat sich Orwells Bild vom Bürger, der (noch) zurückschlagen kann, bereits in den letzten 50 Jahren überholt.
Die medizinische Untersuchung der kurz- und längerfristigen Wirkungen von ADS und TASER bringt uns zu der Erkenntnis, dass fehlende, dem bloßen Auge sichtbare Spuren und angebliche Folgenlosigkeit (der Proband steht hinterher “gesund und munter” auf und ist dem Polizisten dankbar dafür, dass er nicht erschossen wurde) keine hinreichenden Kriterien zur Bewertung bilden. Wie man bereits durch Erfahrungen mit anderen älteren nicht-tödlichen Technologien in den frühen 90er Jahren insbesondere auf dem “Testfeld” Jugoslawien weiß, erzeugen NLWs eine tief sitzende Furcht vor Gewalt (fear of violence). Die unmittelbaren Wirkungen wie Lähmung, Handlungsunfähigkeit, Schreck, Schock, hörbar aufheulender Schmerz - und hinterher kann man aufstehen, als sei nichts gewesen - dies alles als Teil einer “methodischen Demütigung” im öffentlichen Raum vor den Augen andere Passanten vorgeführt - führen zu schweren seelischen Schädigungen. Verbunden mit der wirklich neuen Erfahrung, dass die Schwere der Verletzung (und des Schmerzes) durch keine vorzeigbare Blesssur gedeckt ist, torpediert das “normale” Fertigwerden mit dem Angriff. Es lässt den Getroffenen als Schwächling oder gar Lügner dastehen, es nimmt ihm die Chance, als Märtyrer eine stabile Position am anderen Ende der Gewaltachse einzunehmen. Die Spurenlosigkeit atomisiert den Anschlag, macht ihn quasi ungeschehen und vergräbt ihn so im Ziel.
In diesem Bereich sind die neuen Systeme auch für vollständig gesunde Menschen gefährlicher als im Bereich der körperlichen Verletzung. ADS und TASER erzeugen ganz offenbar unsichtbare, lang bleibende Hämatome auf der Seele.
Die Frage, ob Folter über die Beschreibung der Härte des Anfassens definitorisch ausreichend scharf in den Griff zu bekommen ist, hat die US-Regierung seit 2001 auf die denkbar zynischste Art beantwortet.
Das Ziel ist die Brechung des Willens
Karen Greenberg hat in ihrer Dokumentation “The Torture Papers” das “spin-doctoring” (Wortumdrehen) vorgeführt, mit dem die Folter - zur “Counter Resistance Technology” schöngeredet - von Donald Rumsfeld als legales Mittel der “zielführenden Befragung” in den USA etabliert wurde. Damit ist eine der letzten unumstößlichen Rechtssicherheiten, die Gewissheit, dass ein zivilisierter Staat nicht foltert, zerstört. Wie bereits in der Inquisition fehlt das Fundament von Zivilisation, wenn solche (Pseudo-)Technik gegen Widerstand als politisches Mittel zum Zweck missbraucht wird.
Die Frage, die es hier in aller Schärfe zu stellen gilt, lautet: Sind strategische Maßnahmen (Einsätze von Schmerz erzeugenden NLWs) und Technologien wie TASER und ADS bereits Teil derselben Aufweichung eines Verbotes von Qualen und sinnlosem Leiden?
Ein mehrstufiges System der Qual, das der Rechtshistoriker Edward Peters als “peinliche Befragung” beschreibt, ist auch in seiner leichtesten Form schon Folter, da es - bei mangelnder “pain compliance” (Fügsamkeit durch Schmerz) - die Anwendung höherer Stufen androht. Was passiert, wenn die “Befragung” gar keine Antwort will, sondern nur die Unterwerfung des Gegenübers zu bewirken sucht?
Das Ziel der Folter ist immer die Brechung des Willens. Information ist ein Beiprodukt, das man nicht zurückweist, aber was man haben will, ist das Exempel. Alle anderen, die bloß zusehen, sollen genauso lernen, etwas nicht zu tun, was unerwünscht ist. NLWs wirken also auch auf Menschen, die nicht von ihnen getroffen wurden. Dies wusste auch die “schwarze Pädagogik” des 18. Jahrhunderts, wenn sie den Lehrern Schmerz als Mittel der “natürlichen Erziehung” (P. Villaume) empfahl. Damals wollte man die Gesellschaft vom Schmerz befreien, in dem man ihre Mitglieder einer “Impfung” unterzog: sie sollten härter werden, weniger “verzärtelt”. Diese Form von Katastrophentraining machen “maximum pain weapons” unmöglich. Sie wollen nur die “schnelle Regression” (Sepp Grässner) erzwingen.
Eine technische Zivilisation, die auf den Kollaps der Welt zusteuert, was zugleich ihre fundamentale Gespaltenheit in eine ökonomische und eine technische Perspektive anzeigt, schafft sich ein infinitesimales Arsenal von Waffen und Werkzeugen des Quälens. Wir haben uns weit gehend daran zu gewöhnen gehabt, wir sind poliziert bis zum Überdruss, wie Kant sagte.
Die sehr schmale Nische, die zunächst „polizei“- oder kontrollfrei verbleibt, wird immer weiter eingeengt von einem Machtverbund Technik-Ökonomie-Staat, der nur Interessen verteidigt, selbst aber keine Vernunft hat. Darum ist mit ihm auch nicht zu reden. Man muss eher „demonstrieren”, dass es auch andere berechtigte Interessen und das Recht auf ein anderes Leben gibt. Man muss sich also „zeigen” und wird somit zu einem Ziel – denn irgendeine Waffe ist immer auf einen gerichtet.
Verwendete Literatur:
Sepp Graessner, Wenn zwei das gleiche tun. Erzwungene Regression ist Körperfolter, Manuskript, Berlin 2006
Karen Greenberg, Joshua L. Dratel, The Torture Papers, The Road to Abu Ghraib, New York, 2005
Immanuel Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie. Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band XIX, Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlaß, Band VI: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie, Berlin und Leipzig, 1984, S. 481.
zur “Spartanischen Mutter”: ders., Versuch den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen, in: Werke in zehn Bänden (W. Weischedel), Band 2, Darmstadt, 1975
George Orwell, ‘You and the Atomic Bomb’, Erstveröffentlichung im britischenTribune, London, 19. October 1945, nachgedruckt in: ‘The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell’, London 1968.
Jon Ronson, The Men who Stare at Goats, London, 2004
Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M., 1992
Villaume, P. in: Rutschky, Katharina, Schwarze Pädagogik, Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Frankfurt a.M 1980