Die Globalisierung verstehen

Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Demographie und Technologie: Die großen sechs Treiber, auf die es ankommt

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Es ist nicht leicht, die Phänomene der heutigen Globalisierungsphase ohne grundlegendes Raster: ohne "Lesehilfe" zu verstehen. Zu komplex zusammengesetzt und widersprüchlich sind Entwicklungen und Ereignisse - und zu vielfältig scheinen die "Treiber" (global drivers) am Werk. Heuristische Studien von Universitäten wie Stanford, MIT oder Humboldt zeigen aber, dass bei praktisch allen wichtigen Vorgängen der Gegenwart mindestens sechs typologische Gestaltungslogiken im Spiel sind: die von Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Demographie und Technologie.

Diese "großen Sechs" entsprechen zentralen Gesellschaftsdiskursen der Moderne, die seit dem 18. und 19. Jahrhundert weitgehend voneinander unabhängige, funktionale Teilbereiche ausdifferenzierter Gesellschaften geformt haben. Es handelt sich aber auch um sechs sowohl in Prinzipien wie Vorgehensweisen unterschiedliche Sicht-, Denk- und Handlungsweisen innerhalb moderner Gesellschaften, die eigene historische Erinnerungskulturen (einschließlich Links-Recht-Dialektiken) aufweisen und darauf aufbauend Phänomene und Prozesse der Globalisierung sehr unterschiedlich deuten und strategisch antizipieren.

Die "großen Sechs" wurden durch die Globalisierung von nationalen zugleich zu den wichtigsten "Grundtreibern" internationaler und globaler Entwicklung, die sich heute kontext- und ereignisorientiert regional unterschiedlich verbinden. Trotz der Komplexität ihrer Vermengung kann keiner dieser sechs großen Treiber auf einen anderen reduziert oder von einem anderen ersetzt werden, weil sie alle unterschiedlich funktionieren und mit verschiedenen Interpretationsbegabungen verbunden sind, die auf jene unterschiedlichen Anforderungen reagieren, die immer öfter heterogen und synchron aus ein und demselben historischen Vorgang der Gegenwart erwachsen. Wer die "großen Sechs" zunächst je für sich in ihrer inneren Logik und dann in ihrer Kommunikation und Wechselbeziehung untereinander in spezifischen Kontexten versteht, kann eine Grundlage gewinnen, Ereignisse multidimensionaler zu lesen.

Die sechs Treiber sind zunächst nicht mehr und nicht weniger als ein Einkaufszettel: Man sollte, um ein zeitgenössisches Ereignis, eine Herausforderung, einen Entwicklungsprozess oder einen Sachverhalt mit dem Ziel von Verständniszuwachs anzuschauen, zunächst einmal keinen von ihnen vergessen. In unserer immer stärker durch steigende VUCA-Niveaus - Verletzlichkeit, Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität - gekennzeichneten Zeitsituation wird Sechs-Dimensionalität deshalb zur "ersten Bürgerpflicht" des (politischen) Intellektuellen. Erst wenn man einen bestimmten Einzelfall ebenso wie seine größeren Rahmenbedingungen und Wirklichkeitsumstände (mindestens) sechsdimensional anschaut, erschließt er sich dem Verstehen einigermaßen angemessen.

Dabei zeigen die sechs Grundtreiber gerade in ihrem Charakter als Gesellschaftslogiken gewisse Charakteristiken und Eigenheiten, die sie voneinander unterscheiden, oft auch gegeneinander stellen, wodurch sich Dialektiken und Zielkonflikte in ein und demselben Vorgang ergeben. Sie von Anfang an zu berücksichtigen kann für Verstehen und Gestalten hilfreich sein.

Wirtschaft

Wirtschaft ist offenkundig nicht nur die Grundlage, sondern die Voraussetzung von allem, was Gesellschaft ausmacht und Entwicklung antreibt. Wie bereits der junge Marx betonte ("Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert", 1844): Ohne vollen Bauch und lebenswürdige Umstände keine gegenseitige Anerkennung als Individuen in Gemeinschaft auf dem Boden friedlicher und ausdifferenzierter Gemeinschaftsbildung.

In demokratisch-diversitätsfreundlichen Gesellschaften, die es seit dem 20. Jahrhundert hauptsächlich im sogenannten "Westen" gibt, ist Wirtschaft urbildlich an Brüderlichkeit orientiert - wenn nicht vorranging in Amerika, so doch in Europa. Das Idealprinzip von Wirtschaft ist nicht Konkurrenz, sondern Kooperation, denn so funktioniert sie - entgegen aller neoliberalen Behauptungen von der "unsichtbaren Hand" von Markt- und Kapitalkonkurrenz - faktisch auch in der Realität. Die Arbeitsteilung, auf der moderne Gesellschaften beruhen, ist in ihrer Essenz bereits angewandte Brüderlichkeit; und in auf Handel ausgerichteten Gesellschaften ist Kooperation in Form des Tauschs im Prinzip zum Vorteil aller Teilnehmenden.

Der Grundcharakter von Wirtschaft ist dabei, dass sie Räume und Grenzen - sowohl politische wie kulturelle und religiöse, darüber hinaus auch technologische und demographische - ihrer Natur nach überschreitet und zum Vorteil des Austauschs auch überschreiten muss. Wirtschaft ist seit dem Beginn fortgeschrittener Globalisierung im 18. und 19. Jahrhundert, und über verschiedene Entwicklungsschritte heute mehr denn je, ein Treiber der Grenzüberschreitung, etwa im Rahmen von Handelsabkommen. Zugleich ist sie dabei eine nivellierende und oft auch grenzüberschreitend Ungleichheit befördernde Kraft - etwa wenn sie sich zunehmend an eine durch sie globalisierte Mittel- und Oberklasse wendet und dabei grenzüberschreitend neue Unterklassen erschafft, etwa durch Produktions- und Gewinnverlagerungen.

Wirtschaft bildet damit in der heutigen "reifen" Phase der Globalisierung transnationale soziale Klassen aus, die oft mehr miteinander zu tun haben als mit ihren nationalen Mitbürgern anderer Klassen. Daher ist Wirtschaft, ihrer Natur folgend, heute die Hauptüberschreiterin des politischen und kulturellen Nationalstaats, den es seit dem 18. Jahrhundert gab. Sie ist dies aber nicht ohne tiefe Ambivalenzen.

Auf diese Ambivalenzen reagieren ambivalente populistische Gegenbewegungen mit der Absicht der Begrenzung und Zurückstufung des grenzüberschreitenden Charakters von Wirtschaft, wie zuletzt etwa die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten in der wirtschaftlich neben Deutschland am meisten globalisierten Nation der Erde, den USA. Auch der Brexit durch "neue Wutbürger" war bis zu einem hohen Grad wirtschaftlich, nicht politisch motiviert.

Interessant ist, dass im exportorientiertesten Land Deutschland, das naturgemäss am grenzüberschreitendsten angelegt sein muss - was verschiedene Seitenfolgen auf kulturellem, demographischem und politischem Gebiet zeitigt, die seit Jahren immer relevanter werden -, der Trend zur populistischen Reißleine gegen die grenzüberschreitende Kraft von Wirtschaft erst in den Anfängen steckt. Dieser Trend hat im deutschen Sprachraum verglichen mit den Folgen wirtschaftlicher Globalisierung (Migration, demographischer Wandel, Exportabhängigkeit, Einkommensschere) noch vergleichsweise milde Effekte gezeitigt. Die Frage ist, ob das so bleiben wird.

Politik

Politik baut sich - als zweite typologische Gestaltungslogik ausdifferenzierter Gesellschaft - auf die ausgleichende, individualitäts- und gemeinschaftsbildende Kraft von Wirtschaft auf. Sie kann aber im Prinzip nicht Teil von deren Logik sein, sondern hat die Aufgabe, ihr in vielerlei Hinsicht entgegen zu stehen und sie zu korrigieren. Politik ist die ständige Umwandlung von Sozial- in Rechtsverhältnisse, die in offenen Gesellschaften eine unabschließbare Aufgabe ist und sein soll.

Politik ist dabei nicht an Brüderlichkeit orientiert wie die Wirtschaft, denn das wäre auf diesem völlig anders gelagerten Gebiet Klientelismus und Korruption, sondern am Grundprinzip der Gleichheit. Politik ist in demokratischen Gesellschaften die Interessensverhandlung unter vor dem Recht Gleichen, in dem sich das beste Argument durchsetzt: die Verhandlung zwischen Befähigten und Ermächtigten (empowered) jenseits von Klasse und Herkunft. Politik regelt und gestaltet Zugänge und Abläufe unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit.

Der Grundcharakter von Politik ist dabei im diametralen Gegensatz zur Wirtschaft, dass sie Räume bildet, die Grenzen haben müssen, damit Gesetze Geltung haben und wirken können. Innerhalb dieser Grenzen sorgt Politik für Gleichheit und Interessensausgleich. Politik baut dazu klar begrenzte und umgrenzte Gemeinschaften. Sie regelt die Gleichheit der Chancen innerhalb von Grenzen und umverteilt dazu das, was die kapitalistische Wirtschaft notwendigerweise ungleich akkumuliert mittels ihren zwei zentralen gesellschaftlichen Steuerungsinstrumenten: Steuern und Redistribution. Das Idealprinzip der Politik in offenen Gesellschaften ist Gerechtigkeit für alle bei Nicht-Nivellierung von Unterschieden und Aufrechterhaltung des Prinzips individueller Selbstverwirklichung, Nicht-Identität mit anderen und der Möglichkeit zur Leistungsorientierung.

In der globalisierten Welt nimmt die Bedeutung von Politik nach einer Phase neoliberaler Lähmung heute wegen der auf allen Feldern wachsenden Ungleichheit als korrigierende, kontrollierende und gestaltende Kraft wieder zu. Das ist auch deshalb der Fall, weil Politik für Partizipation zuständig ist, was in der Wirtschaft nicht notgedrungen an erster Stelle steht.

Kultur

Kultur baut sich als dritte, immateriellere gesellschaftliche Triebkraft auf Wirtschaft und Politik auf. Kultur ist im Unterschied zur Politik in Prinzip die Hervorbringung und Aufrechterhaltung eines ständigen, im Idealfall interessensfreien Wert- und Sinngesprächs in offenen Räumen. Sie verhandelt, erzeugt, problematisiert und verändert dabei gemeinschaftsstiftende Grundwerte und zivilreligiöser Identitätsmythen ebenso wie künstlerische Prozesse der Realitätsverarbeitung und immaterielle Gebrauchsgüter wie Musik und Bild.

Kultur ist ihrem leitenden Prinzip aus US-Verfassung und französischer Revolution nach weder an Brüderlichkeit orientiert (das würde zu fehlendem Wettstreit von Ideen führen) noch an Gleichheit (das würde zu Nivellierung von Werte- und Sinnansprüchen führen), sondern an Freiheit. Kultur widmet sich der Erkenntnis über jene Ideologien hinaus, die Wirtschaft und Politik ihrer Natur nach ausbilden müssen, um sich Struktur zu geben. Trotzdem kann in verschiedenen historischen Phasen auch Kultur ihrerseits der Ideologisierung verfallen, etwa in Gestalt politischer Korrektheit in ihrer seit den 1960er Jahren immer wichtigeren Rolle als Kontextpolitik (contextual politics).

Der Grundcharakter von Kultur ist, dass sie in mancherlei Hinsicht eine Art "Umkehrung" von Wirtschaft ist, obwohl sie von dieser naturgemäß abhängig bleibt, ja in Gestalt der Kulturbetriebs immer stärker zu deren Teil geworden ist. Denn Kultur überschreitet Räume nicht wie die Wirtschaft von innen nach außen, sondern von außen nach innen. Statt wie die Wirtschaft vom Einzelnen zum Ganzen auszugreifen, führt Kultur vom Ganzen ausgehend das Menschenwissen am Punkt der Individualität grenzübergreifend und transnational zusammen, um es in der Sinnstruktur des Einzelnen wirklich werden zu lassen.

Kultur stiftet Identitäten als Erkenntnisräume, die nicht mit politischen oder wirtschaftlichen Räumen übereinstimmen müssen - auch wenn der Druck aus Wirtschaft und Politik ein ständiges Spannungsfeld und eine ständige Wechselwirkung erzeugt. Das Idealprinzip der Kultur ist der Wettbewerb der Ideen: die Konkurrenz. Auch dies ist im Prinzip die Umkehrung des Kooperationsprinzips der Wirtschaft.

Religion

Religion ist eine vierte, heute im Westen oft unterschätzte gesellschaftliche Gestaltungskategorie. Religion ist im Prinzip die Hervorbringung von Letztbegründungen sowie von Riten und Traditionen, um diese transgenerational zu verankern und symbolisch zu pflegen und zu reflektieren.

Religion ist, interessanterweise hierin wie die Wirtschaft, am Grundprinzip der Brüderlichkeit orientiert - was einen meiner Lehrer dazu veranlasste, hervorzuheben, dass Religion und Wirtschaft die beiden spirituellsten Dimensionen sind. Religion ist ihrem Selbstbild nach meist universalistisch, ihrer historischen Realität nach aber meist raumorientierte Letztdeutung mit ethisch-normativer Wirkung auf bestimmte Gemeinschaften und Zeiträume. Das hat nicht zuletzt die Relativierung der zeitlosen Universalität von Religion durch Papst Franziskus bewiesen, der sie im Unterschied zur Kirchentradition eher als historischen Entwicklungsweg von Letztbegründungen einstufte, was nicht nur innerhalb der Katholischen Kirche für massive Diskussionen sorgte.

Während Religion als Gesellschaftsprinzip und -diskurs in vordemokratischen Gesellschaften selbst Leitkultur stiftete und Politik und Wirtschaft entscheidend ausrichtete und bestimmte, ist sie in demokratisch laizistischen Gesellschaften nur einer von vier gesellschaftlichen Ordnungsdiskursen. Der Grundcharakter von Religion ist, dass sie universale Primärtatsachen des Menschseins in letzte Gewissheiten ausdeutet, in Formen umkreist und dabei menschliche Wirklichkeit erst schafft. Sie überschreitet den Raum von Nationen, hat aber ihren eigenen raumgreifenden Charakter, der historische Grenzen zwischen Religionen schuf, die Bruchstellen zwischen Zivilisationen ausbildeten.

Über Wirtschaft, Politik und Kultur hinaus bildet Religion ihrerseits Validitäts- und Legitimationsräume, die zugleich Lebensformen darstellen und zwischen den Religionen historisch abgrenzend wirkten. Das Idealprinzip der Religion ist im Unterschied zur Kultur jedoch nicht Konkurrenz, sondern Toleranz oder wohlwollendes Nebeneinander. Damit ist noch nichts über das Verhältnis zwischen Religion und Spiritualität ausgesagt, und auch nicht über die Möglichkeit der Unterscheidung einer metaphysischen Religion von einer säkularen Spiritualität. Ebensowenig sind damit die Dialektiken, ja Kämpfe innerhalb der Religionen angesprochen, die zum Teil massiv sind und erheblichen Einfluss auf ihre Prozessverwirklichung und ihre faktische Gesellschaftswirkung haben.

Demographie

Demographie geht weder in Wirtschaft, Politik, Kultur noch Religion auf. Sie ist der Prozess der Bevölkerungsentwicklung - und als solcher bis zu einem gewissen Grad das Ergebnis des Zusammenwirkens aller vier dieser Ordnungslogiken. Demographie ist sowohl ein Raumphänomen wie, seit dem Beginn der aktuellen Phase der Globalisierung und ihrem Effekt exponentiell steigender Massenmobilität nun auch der bislang nicht mobilitätsfähigen Klassen, ein transnational raumübergreifender Faktor.

Demographie ist abhängig von drei Grundkriterien: dem Grad an Wohlstand, Bildung und Gesundheit der Bevölkerung (Grundgesetz: Je weniger von ihnen, desto mehr Kinder). Sie ist auch charakterisiert durch ihre Offenheit für Einflüsse von außen, darunter Migration und Diaspora.

Demographie hat - wie alle anderen globalen Treiber - zwei Kerndimensionen: eine quantitative und eine qualitative. Die quantitative Dimension ist die zunehmende Bedeutung schierer Bevölkerungszahlen für wirtschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Aspekte und die globale (sowohl direkte wie indirekte, aktive wie passive) Einflussnahme von Nationen, Gesellschaftsformen und Zivilisationen. Damit wird Demographie zum zentralen Element der internationalen Ordnung in einer schrumpfenden und zunehmend überbevölkerten Welt, von Raumentwicklung und Strategie.

Nationen mit großen Bevölkerungen werden in einer globalisierten Welt in "natürlicher" Weise wichtiger als solche mit kleinen. Das betrifft auch und vor allem Europa, das künftig mit 5% der Weltbevölkerung von vielen Aspekten seines bisherigen Selbstbildes Abschied nehmen wird müssen - darunter von der Illusion, die Welt als einzig fortschrittliche "Zivilmacht" zu prägen oder die ganze Welt retten zu müssen. Die Demographie wird in den kommenden Jahren eine der wichtigsten Kräfte sein, wenn nicht die wichtigste, die Europa zur Neufindung und Neudefinition seiner Identität zwingt.

Die qualitative Dimension von Demographie ist die innere Bevölkerungszusammensetzung von Nationen und Räumen, die oft mit unterschiedlichen sozialen Klassen, Herkunftsgeschichten und Habiti einhergeht. Sie kann Gegensätze zwischen Kulturen und Gegenkulturen ausbilden, darunter Sub- und Gegenkulturen, und sie schließt auch die Generationenfrage ein. Die Demographie hat bei alledem kein Idealprinzip, orientiert sich in offenen Gesellschaften aber gestalterisch an Ideen wie Integration, Wachstum und Proportion.

Technologie

Technologie schließlich entsteht ebenfalls im Raum, den die vier Grund-Ordnungskräfte Wirtschaft, Politik, Kultur und Religion ausbilden. Sie ist aber im Vergleich zu allen anderen Treibern (noch) paradoxer, nämlich sowohl weiter in der Vergangenheit wie weiter in der Zukunft verankert: das heißt zeitlich sowohl nach hinten wie nach vorne ebenenverschoben über allen anderen Treibern schwebend.

Technologie ist bis zu einem gewissen Grad der unabhängigste und eigenständigste der sechs typologischen Treiber - und deshalb trotz ihrer stärksten Materialität eine Art Metaphysik der Globalisierung. Das zeigt zum Beispiel die nirgends angebundene, scheinbar frei über den Nationen schwebende Herrschaft von Technofirmen wie Google oder Apple.

Die Sonderstellung des Treibers Technologie ist auch deshalb der Fall, weil Technologie als solche die überzeitliche Extension des Urmenschlichen in die Realität ist: ein technisches Gerät ist in gewisser Weise Ding gewordene menschliche Selbstreflexion in die Welt der Gegenstände. In dieser Hinsicht ist Technologie, ähnlich wie Kunst als Teil der Kultur, eine primäre Materialisierung von Geist.

Technologie ist urtypisch die (Selbst-)Erweiterung des Menschen über Geltungs- und Seinsräume sowie über Zeitverfügbarkeiten hinaus. Sie ist im Prinzip die Umwandlung von Natur in Zivilisation, von Welt zum Menschen. Sie bildet heute in Zeiten aufgelöster Grenzen geradezu ein eigenständiges "Weltwesen" aus, indem sie einen halb-autonomen Prozess in Gang gesetzt hat, der in Mechanismen abläuft, die sich vom einzelnen Menschen, ja von Nationen und ihrer normativen Gestaltungsmacht zunehmend abgelöst haben, stattdessen umgekehrt nun ihrerseits Mensch und Globalisierung gestalten.

In einem zweifellos etwas verkürzenden Bild ausgedrückt: Das Beil, das dem menschlichen Selbstbewusstsein menschheitsstiftend entsprungen ist, kehrt heute als Gehirnimplantat in ihn den Menschen selbst zurück - und beginnt, ihn zu einem "neuen Menschen" (neohumanity) umzugestalten, ja technologisch zu "verbessern" (human enhancement). Damit ist eine neue globale Dialektik zwischen den Ideologien von Humanismus (Biokonservativismus) und Transhumanismus (Technouniversalismus) verbunden.

Technologie substituiert in der globalisierten Welt zunehmend traditionelle Kultur und steigt selbst zum wichtigsten "neutralen" Kulturfaktor auf. Sie erzeugt dabei wie kein anderer Treiber eine einige Menschheit und die Anfänge einer ersten Menschheitskultur, weil sie Lebensstile, Habiti und Lebensverläufe wirtschafts-, politik-, religions- und kulturübergreifend einander angleicht und die Teilnehmer verschiedener Zivilisationen in Realzeit vernetzt, sodass diese jederzeit vergleichbar, grenzenlos und permeabel werden.

Auf der anderen Seite trennt sie mittels unterschiedlicher Zugänge (access) und schließt immer schneller jene aus, die nicht über die neueste Technologie verfügen. Und die Paradoxien setzen sich fort: Technologischer Fortschritt ist einerseits Mittel gegen die Umweltzerstörung (Elektroauto), andererseits die Ursache für Ressourcenerschöpfung (Batterietechnologie für die angestrebte globale Massen-Elektromobilität verlangt die Erschöpfung der Lithiumvorräte, was die wichtigste Lithium-Macht China massiv aufwertet, ohne dass dies im engeren Sinn wirtschaftliche Gründe hätte).

Sie ist einerseits die Erschafferin neuer abgehobener Eliten, die die Grundlagen internationaler Entwicklung in immer weniger Händen konzentrieren, und das Mittel für manipulative "fake news", die die Grundlagen der liberalen Demokratie untergraben; und sie ist zugleich Inbegriff neuer "Befreiungstechnologien" und "Transformationstechnologien", also laut den Wünschen von Philanthropen und der Silicon Valley Universität Stanford der Ausstattung jedes Menschen auf der Erde mit einem Computer, Internetzugang und der Fähigkeit, beides kombiniert zu benutzen, womit eine universale "Menschenbefreiung" vom beengenden Raum-Zeit-Kontext und die Ermächtigung (empowerment) jedes Einzelnen zur Aktivität auf der ganzen Erde erreicht werden soll.

In der heutigen Phase der Globalisierung befreit und manipuliert Technologie in gleichem Masse. Der Grundcharakter von Technologie ist dabei Gestaltungsmacht. Diese hat einen proto-religiösen Nimbus erlangt, der sich nicht nur in neuen Technoreligionen ausdrückt, sondern auch in der Gründung "transhumanistischer" Parteien rund um den Globus, so der "Transhumanistischen Partei der USA", die 2016 in der Person des Technouniversalisten und Bestsellerautors Zoltan Istvan erstmals um die US-Präsidentschaft kandidierte und in den 13 US-Weststaaten auf ein Wählerpotential von 15-20% kam. Das Idealprinzip von Technologie ist die Verbindung von Optimierung mit Partizipation, von Zugang mit Befreiung.

Das Gesamtsystem

Wenn das die sechs großen Treiber sind, deren unterschiedliche Interessen, Logiken und Interpretationsmuster von Ereignissen, Prozessen und Entwicklungen die Trieb- und Verständniskräfte der heutigen Phase der Globalisierung darstellen: Wie gilt es dann das Gesamtsystem zu handhaben? Dazu gilt es einige heuristische Grundaspekte zu berücksichtigen.

Auf der einen Seite gilt es zu beachten, dass die sechs Dimensionen, die den Treibern zugrundeliegen, in keiner Phase der Geschichte gleichmäßig oder gar ausgewogen präsent waren. Historische Phasen zeichneten sich stets gerade dadurch aus, dass einer oder mehrere dieser Treiber den temporären Vorrang über die anderen gewannen. Es gibt auch heute immer mehr Fälle, in denen eine Treiber-Dimension die Argumentationslogik einer anderen übernimmt, die ihr eigentlich nicht inhärent ist - oder ihre eigene den anderen aufdrückt.

Waren es nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Dichotomie 1989-91 eine Zeit lang wirtschaftliche Denkweisen, die politische und kulturelle vereinnahmten (etwa im Ausdruck "Sinn machen"), so sind es heute Technologie und Demographie, die einen deutlichen Vorrang über traditionelle Kultur und Religion sowie eine unverzichtbare Antreiberfunktion auch für Wirtschaft und Politik gewonnen haben - während Umgekehrtes nicht der Fall ist. Es gibt aber auch Phänomene, in denen der Anteil der sechs Treiber ausgewogener zusammengesetzt ist. Die Dynamik und Antizipationsmöglichkeit von Ereignissen und Entwicklungen hängt von ihrer Zusammensetzung aus den sechs Treiberkräften ab, die sich in bestimmten Zeiträumen verschieben oder ändern kann - friedlich oder gewalttätig, durch gegenseitige Usurpation oder im Dialog.

Auf der anderen Seite müssen wir einbeziehen, dass bei alledem keine der sechs Dimensionen einfach mit sich identisch ist, sondern dass es in jeder widerstreitende, ja polare Kräfte gibt - was das Ganze noch wesentlicher komplexer macht. Es ist seit dem Beginn der Moderne geradezu ihr prägendes Kennzeichen, dass nicht jede Entwicklung, jedes Ereignis und jeder Sachverhalt, sondern auch jede diese interpretierende, deutende und antizipierende Sichtweise aus jeder der sechs Dimensionen in sich einen "linken" und einen "rechten" ideologischen Pol hat. In der Wirtschaft ist das heute etwa der Gegensatz zwischen neuer Ungleichheitskritik und Objektivismus.

Die sich daraus ergebende Frage ist, wie die Mitte in jeder Dimension zu finden und zu halten ist, um Stabilität und Balance innerhalb und zwischen den Dimensionen zu erzielen, was die Voraussetzung für eine gesunde Dynamik des Gesamtsystems ist. Als auf Erfahrung gegründete Richtschnur kann gelten: Die Vernunft liegt immer in der Mitte der Mitte, nie an den Rändern. Das spiegelt sich auch in der impliziten Weisheit der Bevölkerungen offener Gesellschaften, in denen Wahlen immer noch in der Mitte, nicht an den Rändern entschieden werden.

Schließlich stellt sich in der Zusammenschau der sechs Treiber die Frage nach der sich notwendigerweise ergebenden siebten Dimension: der Ganzheit, die sich aus Zusammenwirken und Verbindung der sechs Grunddimensionen ergibt. Diese Ganzheit wäre der Weltprozess selbst, sofern er ein Produkt der sechs Grunddimensionen ist, also ein Erzeugnis des Menschen.

Im Prinzip würde dann gelten, dass alles, was Welt ist, von den sechs Dimensionen abhängt, ja sogar ihr Produkt und Ergebnis ist. Darunter sind auch Elemente, die auf den ersten Blick nicht als "siebte" Dimension, sondern als Teilbereich des Weltprozesses erscheinen: so etwa die Natur, und mit ihr die heute immer wichtigere, ja für alle anderen Dimensionen immer grundlegendere Umweltfrage. Das wäre eine Auffassung von Natur als "natura naturata", also als Produkt menschlicher Wahrnehmung.

Die andere Sichtweise wäre, die Umwelt nicht als Produkt der "großen Sechs", sondern als eigenständige siebte Treiber-Dimension anzusehen, die als selbständige Dimension und Logik zusätzlich zu den sechs anderen angesehen werde müsste ("natura naturans"). Damit ist die Frage verbunden, ob das System sechs- oder siebendimensional konzipiert werden soll.

Hier ist die Mehrheit der Vertreter der hier vorgestellten Analyse- und Verstehensmethode der Auffassung, dass Natur und Umwelt zumindest unter Erkenntnisgesichtspunkten weniger etwas "für sich" sind, als vielmehr Ergebnis des Zusammenwirkens menschlicher Sichtweisen und damit auch Gesellschaftslogiken. Sollte das zutreffen, müssten wir also, um die Natur- und Umweltfrage nachhaltig anzugehen, das Verhältnis zwischen den sechs Treiber-Dimensionen verändern. Erst dann könnte man zum Beispiel den wirtschaftlich und politisch motivierten Ausstieg der US-Regierung unter Donald Trump aus dem Pariser Umweltabkommen wirkungsvoll umpolen.

Wo liegt die Perspektive?

Viele ahnen heute den konstitutiven Zusammenhang der sechs Treiber, insbesondere im Hinblick auf die schöpferischen Dialektiken und Widersprüche der Globalisierung, beziehen sie aber zu wenig gründlich in das Gesamtbild ein. So schreibt zum Beispiel der italienische Kommentator Nicola Pontara unter dem Titel "Das heutige unmögliche Dreieck der Globalisierung"1 ebenso treffend wie unvollständig:

"Laut dem türkischstämmigen Harvard-Analytiker Dani Rodrick - und das ist die Essenz des für die Gegenwart konstitutiven Trilemmas, das er herausarbeitet - ist es nicht möglich, drei Dinge zugleich zu haben: Demokratie, nationale Souveränität und globale wirtschaftliche Integration. Wir können immer nur zwei dieser drei Variablen auswählen und miteinander verwirklichen, aber nicht alle drei zusammen oder zugleich."

Pontara bezieht sich mit Rodrick im Kern also auf die traditionelle Dualität politischer und wirtschaftlicher Treiber. Die vier Dimensionen, die er hier weglässt, sind für die heutige Phase der Globalisierung allerdings mindestens genauso wichtig: die Rollen von Technologie, Demographie, Kultur und Religion, die sich in das Rodricksche Trilemma immer stärker hineinmischen und dieses umgestalten. Man sehe etwa die Technologieentwicklung und ihren Einfluss auf die Wahl von Regierungen und die Art und Weise des Regierens (einschließlich wachsender Manipulationsmöglichkeiten) selbst, die von den Globalisierungsgestaltern, einschließlich dem internationalen Recht, bisher weder konsensual in ein gemeinsam akzeptables Ordnungskonzept eingebunden, geschweige denn normativ in den Griff gebracht werden konnte. Geschweige denn von den Globalisierungskritikern angemessen kritisch genutzt wird.

Wie können wir die Einsicht in die (systemische wie strukturelle) Multidimensionalität heutiger Globalisierung bestmöglich nutzen?

Während in den USA und China bereits zahlreiche Strategen mit den "großen Sechs" und ihren Gesetzen arbeiten, steht zu wünschen, dass sich in den kommenden Jahren auch Europas Politik und Wissenschaft stärker mit multidimensionalen heuristischen Orientierungs-Systemen auseinandersetzt: um Komplexität (einschließlich Widersprüche) besser zu erfassen, Kritik im Sinn einer in offenen Gesellschaften anzustrebenden "Präzisionspolitik" (precision politics) zu verfeinern und eine ganzheitlichere, weniger ideologische Antizipation zu ermöglichen.

Roland Benedikter ist Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau und Co-Direktor des Centers for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, dem Forschungsflaggschiff der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol. Dieser Text ist die Kurzfassung eines Vortrags und erscheint ausgearbeitet 2018 als Buch.