Die Gnade des rechten Menschenverstands

Aue-Bad Schlema. Foto: Aagnverglaser/CC BY-SA 4.0

Hotspot Erzgebirge: Ein bekannter Rechtsextremist probt den Corona-Aufstand

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Große Kreisstadt Aue-Bad Schlema, 01.11.2020. Besonders viril sieht der kurzsichtige Herr mit dem Kurzhaarschnitt und dem Charme eines Kurzwarenhändlers nicht aus. Das schwarze Hemd, das sicherlich nicht signalisieren soll, dass er der existentialistischen Philosophie anhängt, hat er bis zum Kragen zugeknöpft.

Auf die Frage der Interviewerin nach den wichtigsten landespolitischen Themen antwortet der Kandidat überlegt. "Zum einen die Asylpolitik und ihre Folgen, dann die demografische Entwicklung im Freistaat Sachsen, insbesondere in den ländlichen Regionen, und die Ausstattung der Kommunen mit finanziellen Mitteln."

Diese mit Sorgfalt gewählten Worte erklingen während des sächsischen Landtagswahlkampfs 2019. Aus dem erhofften Posten des Bürgermeisters der Großen Kreisstadt Aue-Bad Schlema, für den er kandidiert, wird es nichts werden. Doch kann er im ersten Wahlgang immerhin 19,1 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Stefan H. ist kein Philosoph, der gelernte IT-Techniker ist Kreisrat im Erzgebirgskreis und Kreisvorsitzender der NPD.

Per "Transgender-Einhorn" in den Untergang

Im Internet, wo Leute wie er gerne die Hose herunterlassen, gibt er sich weniger zugeknöpft. Die Bundeswehr, so Stefan H., der sich anscheinend trotz oder vielleicht gerade wegen seines wenig markanten Aussehens für sehr männlich hält, sei eine "Spaßarmee". Diese reite "per Transgender-Einhorn" ihrem Untergang entgegen.

Dorthin reitet, wenn man ihm glauben darf, auch das ganze Land, das seiner Meinung nach am Ende sei. "Kann hier bitte mal jemand einmarschieren und den Ex-Jungs zeigen, wie eine echte Armee aussieht?"

Wer oder was seiner Aufforderung folgen und in Deutschland einmarschieren soll, lässt der Kreisrat offen. Er hat auch so mit dem Verfassungsschutz schon genug zu tun — sein Name taucht seit Jahren regelmäßig in den Berichten des sächsischen Verfassungsschutzes auf, im letzten Bericht ganze 13 Mal. Aber seine Anhänger und Freunde, von denen es im Erzgebirgskreis einige gibt, werden schon verstehen, was er damit meint.

Der Mann ist für markige Sprüche bekannt. Schon vor Jahren soll er bei einer Demonstration in Bad Schlema gefordert haben, "den Kurort zu einem 'stolzen Protestort' für Gäste zu machen, die ihren Urlaub 'nicht in Islamabad' verbringen wollten. Ob er weiß, dass Islamabad in Pakistan liegt, ist nicht überliefert.

Doch Stefan H. geht es nicht nur um Gerede, er will Ergebnisse. Am 10. Oktober 2015 erklärt er: 1 "Wir - alle - Beteiligten, Parteien, Gruppen - müssen den Bürgerprotest über unsere persönlichen Differenzen und die wenigen Prozent Unterschiedlichkeit stellen. Alle derzeit aktiven Protestplattformen haben mindestens 90% inhaltliche Schnittmengen und müssen, um endlich - im Sinne von Ergebnissen - erfolgreich zu sein, überregional das gemeinsame Ziel, nämlich einen neuen Volksaufstand fokussieren."

Beschleunigte Erkenntnis

Dazu ist er stets bereit, Öl ins Feuer zu gießen. Wie letztes Weihnachten, nach einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen Migranten auf einer Feier in einem Pfarrhaus, bei der ein deutscher Helfer schwer verletzt wurde. Ihm zufolge handelt es sich um einen "ausländischen Angriff auf den Weihnachtsfrieden inmitten des Erzgebirges". Um die Weihnachtsstimmung wiederherzustellen, organisiert er eine Protestkundgebung.

Damit dem "Klerus nun doch bald die Lust auf menschlichkeitsbewegter [sic] Willkommenskultur vergeht" und um den "Erkenntnisprozess derer [zu] beschleunigen, die sich ansonsten gegen uns 'Rechte' stellen", meldet er als Stadtrat von Aue-Bad Schlema für den 28. Dezember eine Kundgebung an.

"Nicht nur der aktuelle Überfall mit einem Schwerverletzten, sondern die gesamte gegenwärtige Entwicklung soll uns Anlass dazu bieten unsere Meinung kundzutun", so der umtriebige Parteimann auf seiner Facebook-Seite. Er ist seit Jahren bekannt dafür, dass er "Proteste" organisiert, auf denen es immer wieder zu tätlichen Übergriffen kommt. Gut 2.000 Menschen werden an seiner Kundgebung teilnehmen.

Um die gesamte gegenwärtige Entwicklung wieder in den Griff zu bekommen, ermahnt er die "vernünftigen", "friedliebenden" und "an einer Demokratie orientierten Kräfte", sie sollten zusammen halten und sich nicht verleiten lassen, Straftaten zu begehen. Anscheinend erwartet er, dass er mit seinen Aufrufen Leute anlocken könnte, die zu solchen Taten neigen. "Wir wollen, dass das Erzgebirge auch in einhundert Jahren noch ein deutschbesiedeltes Gebirge sein wird."

Die Corona-Krise: ein Komplott

Seine große Stunde scheint er mit dem Beginn der Corona-Krise zu wittern. Seitdem stichelt er unablässig. Große Betrübnis darüber, dass das Erzgebirge im Frühjahr 2020 zwar nicht von Ausländern, aber von einem neuartigen Pathogen fremdbesiedelt wird, ist in den Ergüssen des Lokalpolitikers nicht zu verspüren. Er sucht behändig nach einer geeigneten Angriffslinie, um die Krise politisch zu instrumentalisieren.

Zwar spielt er bereits Anfang März das Risiko der neuen Krankheit, die noch keiner kennt, herunter. Doch die Gelegenheit, die Kollegen des Stadtrats, dem er angehört, für ihr "Totalversagen im Krisenmanagement" anzuschwärzen, lässt er sich nicht nehmen. Die Entscheidung der tschechischen Regierung, die Grenzen zu schließen, findet er gut. "Was macht derweil unsere Regierung?", so der Mann, der alles besser weiß. "Sie hält die deutschen Grenzen weiter für alles und jeden offen."

Pünktlich zu Beginn des ersten Lockdowns, in einer Zeit, in der Regierungsverantwortliche weltweit nach geeigneten Antworten auf die völlig neuartige Situation suchen, weiß Kreisrat H. bereits, womit er es zu tun hat: mit einem Komplott. "Hätte man ernsthaft Leben retten wollen", so der gelernte NPD-Propagandist, "hätte man bereits im Januar reagiert und die Einreisen aus China unterbunden!"

Der Demagoge aus dem Erzgebirge, der sein Handwerk schon als Jugendlicher bei der Rechtspartei gelernt hat, insinuiert damit, dass man erst das Virus absichtlich in das Land gelassen habe, um anschließend die Bevölkerung zu unterdrücken. Seine Corona-Strategie: Er fordert, die "sehr gut eingrenzbare Risikogruppe" müsse geschützt werden. Ansonsten solle man das Virus freilaufen lassen.

Als in einem Pflegeheim in der Gegend, das seit Wochen unter Quarantäne stand, an die hundert Bewohner und Mitarbeiter infiziert werden und schon 2 Bewohnerinnen verstorben sind, heult er wieder hämisch los: Anstatt gefährdete Einrichtungen maximal zu schützen, habe man sich "vorrangig auf unsinnige und unwissenschaftliche Maßnahmen wie Kindergarten-, Schul- und Baumarktschließungen sowie Ausgangsverbote konzentriert."

Unwissenschaftliche Maßnahmen? Der 30-jährige Mann, seit 15 Jahren Mitglied der rechtsextremistischen NPD, Vater von 3 Kindern, Realschulabgänger mit einer zweijährigen Ausbildung zum "Wirtschaftsassistenten Informationsverarbeitung" hat von Wissenschaft null Ahnung. Doch in wenigen Wochen der Pandemie hat sich der Computermonteur aus der Provinz zum Wissenschaftskritiker promoviert.

"Engstirnige Landsleute mit denunziantischem Übereifer"

Ab April legt der Chefvirologe aus dem Hinterwald richtig los. Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht über "Corona-Faschisten" herzieht, seien es "durchgeknallte Politiker im Kampf gegen das eigene Volk" oder "engstirnige Landsleute mit denunziantischem Übereifer".

Dabei liegt ihm nicht nur an fachwissenschaftlichem Diskurs. Er möchte aktiv gegen geltende Vorschriften Stimmung machen. Am 11. April schreibt er: "Wenn ich lese, mit welchem denunziantischen Übereifer manche engstirnigen Landsleute andere wegen Verstößen gegen diesen Wahnsinn anzinken, widert es mich umso mehr an. Wo sind diese ehrlosen Spießer als ehrenamtliche Ordnungsmacht, wenn es um Drogendealer, Antänzer oder Ladendiebe geht?"

Vermutlich um sicherzustellen, dass im Erzgebirge seine Art des Ehrgefühls die Oberhand gewinnt, streut er zwischendrin eine Prise Einschüchterung ein: Mitte April legt er in einem längeren Posting auf Facebook dar, wie er sich gegen beleidigende "Fanpost" zur Wehr setzt: indem er diese bei der Polizei anzeigt.

"Wer künftig beabsichtigt mich zu beschimpfen", so der Kreisrat im Kreistag des Erzgebirgkreises am 14. April, der vorgibt von Denunziationen nichts zu halten, aber mit der Ordnungsmacht droht, wenn es ihm passt, "Lasst es sein! Spendet einfach gleich ein paar Euro an gemeinnützige Vereine oder engagiert euch ehrenamtlich und verkneift euch solche dämlichen Nachrichten und Bedrohungen!"