Die Grünen und Atomenergie

Die derzeitige Debatte um Laufzeitverlängerung ist falsch, unsinnig und nicht zielführend. Und dass führende Grüne sie jetzt befeuern, ist zudem ein schwerer parteipolitischer Fehler!

Problem 1: Fehlender Nutzen

Unter Fachleuten ist weitgehend unumstritten, dass eine mögliche Laufzeitverlängerung der drei verbliebenen Atomkraftwerke (AKWs) bezüglich des drohenden Ausfalles von Gaslieferung praktisch nichts bewirken wird. Ein Weiterbetrieb der drei AKWs würde ganze ein Prozent (in Worten: EIN Prozent!) des Erdgas-Verbrauches ersetzen.

Erdgas wird überwiegend substanziell für chemische Prozesse (u.a. zur Herstellung von Düngemitteln und Kunststoffen) und für die Wärmegewinnung genutzt. Der drohende Ausfall bei der Stromproduktion kann und wird durch Zuschaltung von reaktivierten Reserve-Kohlekraftwerken ausgeglichen.

Atomenergie kann weder chemische Prozesse noch Wärme ersetzen. "Ein Tempolimit könnte (dagegen) fünf bis sieben Prozent der russischen Ölimporte reduzieren", schätzt die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Problem 2: Sicherheit

Jeden Tag Laufzeitverlängerung ist sicherheitstechnisch ein Balance-Akt. Deutschland ist bereits in der Vergangenheit mehrfach schweren Atomunfällen nur knapp entgangen. Bedienfehler und Regelverstöße hätten z.B. 1987 in Biblis fast zu einer Kernschmelze und somit zu einem GAU geführt. Altersbedingt steigt täglich die Gefahr von Rissen im Stahl durch Versprödung aufgrund der Strahlung.

Fachleute rieten schon 2000 zu einer Laufzeitbegrenzung auf 25 Jahre. Die jetzt diskutierte AKWs haben eine Laufzeit von 33 bzw. 34 Jahren hinter sich. Eines der zur Verlängerung anstehenden AKW (Neckarwestheim) ist von Rissen betroffen.

Anders als in Fukushima1 sind deutsche AKWs praktisch nicht gegen Erdbeben gesichert. Neckarwestheim z.B. liegt in einem Erdbeben gefährdeten Gebiet. Im 80 Kilometer entfernten Balingen gab es am 9. Juli 2022 ein Beben der Stärke 4. Auch außerhalb der "Erdbeben-gefährdeten Gebiete" treten immer wieder unvorhergesehene Beben auf.

Gerade der aktuelle Krieg in der Ukraine zeigt, dass AKW auch Kriegsziele sind und die Kriegsparteien (hier Russland) keinerlei Konventionen einzuhalten gedenken. Das zeigt sich in Tschernobyl wie auch gerade wieder aktuell in Saporischja.

Sicherheit bei militärischer Konfrontation gibt es genauso wenig wie vor Terroranschlägen (s. Belgien). Im nicht auszuschließenden Fall einer (auch falls nur konventionellen) Ausweitung des Russland-Ukraine-Krieges wären auch die drei verbleibenden deutschen AKWs mögliche Kriegsziele.

Problem 3: Technik

Bisher ist von technischen Problemen einer Laufzeitverlängerung überhaupt noch keine Rede gewesen, und dennoch wird jede:r Normaldenkende hier die Diskussion beenden. Aber gehen wir mal in die Technik und Wirtschaftlichkeit:

  • Was ist mit den unabdingbar notwendigen neuen Sicherheitsüberprüfungen vor einer Laufzeitverlängerung?2
  • Woher kommen neue Brennstäbe und vor allem – wie schnell? Voraussichtlich erst in einigen (bis zu zwölf) Monaten, selbst wenn Russland (preiswertester Anbieter) nicht außen vor wäre.
  • Was ist mit dem Personal, das sich zum 1. Januar dieses Jahres schon neue Jobs gesichert hat? (Die Mannschaften für die Stilllegung und den Rückbau haben andere Ausbildungen und Qualifikationen als die Bedienmannschaften.) Sicherlich werden die für drei bis sechs Monate Verlängerung einen gut bezahlten neuen Job dann nicht antreten … ?

Problem 4: Fehlende Versicherung

  • Wer übernimmt die Versicherung für den Weiterbetrieb? Die Betreiber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht, sie kennen das Risiko.3
  • Ein versicherungsmathematisches Institut hatte die risikoadäquaten Prämien einmal errechnet: 19,5 Milliarden Euro pro Jahr für jedes AKW. Versichert sind die deutschen AKWs (nicht pro Jahr) mit jeweils 2,5 Milliarden. Deckung auf Gegenseitigkeit der Betreiber; kein Versicherungsunternehmen weltweit war bereit, das Risiko zu übernehmen.

Problem 5: Atommüll

Im Grunde sind bisher alle deutschen AKWs, spätestens ab dem 23. August 2015, rechtswidrig betrieben worden. Für ihre Genehmigung wäre eine "effektive Entsorgung" die nötige Voraussetzung. Die staatliche Schutzpflicht verlangt einen effektiven Schutz vor den Risiken der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Das schließt die Bewahrung vor Gefahren ein, die aus radioaktiven Abfällen resultieren. Unter anderem Art. 2 Abs. 2 c (2) gebietet damit eine effektive Entsorgung im Wege der Endlagerung.

Dies wurde mit der "Zusage" ausgetrickst, bis 2031 einen Plan (!) für den Bau eines Endlagers vorzulegen, allerdings erkauft in den politischen Verhandlungen durch die gesetzlich festgeschriebene Zusage, den Betrieb der AKWs am 31. Dezember 2022 endgültig zu beenden.

Wird diese Zusage gebrochen, steht wieder der Kompromiss bezüglich der Endlagerfrage offen und muss neu verhandelt werden. Damit wäre ein Weiterbetrieb wahrscheinlich juristisch nicht zulässig. Vermutlich wird es dann zu Klagen kommen

Problem 6: Rechtliche Grundlagen

Danach (Anm. der Red.: nach dem 31. Dezember 2022) fehlt die Genehmigung zum Leistungsbetrieb. Um den dennoch zu gewährleisten, wäre eine Änderung des Atomgesetzes notwendig. Das ist nicht so einfach machbar. Denn dafür müssen viele wichtige Fragen in etlichen Gesetzen geklärt werden. Dazu gehören Haftungsfragen. Auch muss die Frage geklärt werden, wer eigentlich die Verantwortung für den zusätzlichen Atommüll trägt. Es bräuchte eine Neubewertung der Entschädigungsregelungen und neue Zahlungsverpflichtungen an den staatlichen Fond für größere Atommüllmengen. Außerdem fehlt eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung."4

Problem 7: Proliferation

Bei allen derartigen Betrachtungen fehlt immer noch der Hauptgrund einer Verweigerung des Weiterbetriebes: die Proliferation. Ein AKW-Betrieb braucht und produziert immer atomwaffenfähiges Material. Wie "sorgsam" das Musterland Deutschland damit in der Vergangenheit umgegangen ist, zeigen zum Beispiel die 28 Kilogramm Plutonium, die in der Asse gefunden wurden und deren Herkunft meines Wissens bis heute nicht geklärt ist.

Allein die heutigen Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea, die fast Atommacht Iran und die Möchtegern-Atommächte wie Türkei, Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate – alle illegal im Besitz von Nuklearwaffen, ohne Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag (NVV) – legen jedem nahe, von dieser Technik, die derartige Risiken produziert, schnellstmöglich die Finger zu lassen.

Problem 8: Politische Zielsetzung?

Letztlich stellt sich die Frage nach der Politik. Die FDP als Mitglied der "Ampel" Regierungspartei sowie die Union in der Opposition fahren aktuell eine regelrechte Kampagne zur Laufzeitverlängerung. Während das Bestreben der Union als Oppositionspartei irgendwo noch nachvollziehbar ist, bleiben bei der FDP nur Fragezeichen. Will sie ihre Umfrageverluste durch ein Vorführen als Umfallerpartei verbessern? Erste Reaktionen scheinen ihr dabei Erfolg zu versprechen.

Dass Ricarda Lang als Bundesvorsitzende der Grünen die Zusammenhänge nicht kennt und/oder nicht versteht, mag noch nachvollziehbar sein. Und dass ein Quertreiber wie Boris Palmer meint, auf den Zug aufspringen zu müssen, war fast absehbar. Aber dass eine gestandene Atompolitikerin wie Rebecca Harms die Zusammenhänge nicht erkennt, ist nicht nachvollziehbar und kann zu Fehlentscheidungen führen.

Fazit

Für die Partei Bündnis 90/Die Grünen gibt es keine glaubwürdige Alternative dafür, jede Verlängerung der AKW-Laufzeit weiter abzulehnen und als Regierungspartei zu verhindern. Das hat nichts mit "Ideologie" zu tun, wie politische Gegner zu Unrecht kritisieren, sondern ist die Umsetzung von gültigem Recht, Vernunft aufgrund vorliegender Erkenntnisse und Verantwortung gegenüber den jetzt lebenden Menschen und künftigen Generationen.

Alles andere, jedes noch so kleines Zugeständnis, kann viel Geld und im worst case Menschenleben und Gesundheit kosten. Falls der politische Gegner in der Ampelkoalition meint, eine Verlängerung durchsetzen zu müssen, sollten sie dafür keine Unterstützung bekommen.

Dipl. Ing. (chem. FH) Karl-W. Koch war von 2011 bis 2020 fast zehn Jahre lange der Koordinator des Arbeitskreises "Atomenergie" in der Bundesarbeitsgemeinschaft Energie der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Er ist der Verfasser des Buches Störfall Atomkraft.