"Die Hauptgewinner sind die Türkei und Russland"
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- "Niemand sollte glauben, dass die Türkei hier nun aufhört"
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Interview mit dem Sozialwissenschaftler Kerem Schamberger über den Krieg um Bergkarabach, die Lage in Armenien und die geopolitische Dynamik in der Region
Kerem Schamberger arbeitet als Kommunikationswissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und gilt als ein intimer Kenner der Türkei und des Nahen Ostens. Er hat gemeinsam mit Michael Meyen das Buch Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion verfasst.
Herr Schamberger, Sie weilten mit einer internationalen Delegation während der türkisch-aserbaidschanischen Aggression gegen Bergkarabach in Armenien. Wie waren Ihre Eindrücke? Ahnten die Menschen schon damals die drohende Niederlage?
Kerem Schamberger: Ich war vom 31. Oktober bis zum 4. November im Land und in dieser Zeit konnte sich noch niemand vorstellen, dass der Krieg so schnell zu Ende sein würde. Und dann auch noch mit einem solch katastrophalen Ausgang. Es war zwar schon klar, dass Aserbaidschan mit den türkischen und israelischen Kriegsdrohnen einen entscheidenden Vorteil hat, aber dem wurde immer die hohe Kampfmoral der armenischen Seite entgegengehalten.
Schließlich ging es für sie um die Verteidigung eines Stücks Landes, auf dem schon seit Jahrhunderten vor allem ArmenierInnen gelebt haben. Das sieht man ja nicht zuletzt an den alten Kirchen und Klöstern in Bergkarabach. Ich glaube, man war auch etwas geblendet von der eigenen Kriegspropaganda, bei der Rückschläge oder Niederlagen nicht vorkamen. Deshalb schlug die vergangene Montagnacht bekanntgewordene, von Russland vermittelte Vereinbarung wie ein Blitz ein.
Man kann sagen, dass dies der erste Krieg des 21. Jahrhunderts ist, der durch den Einsatz von Drohnen entschieden wurde.
Spielt der Genozid von 1915/16 noch eine Rolle im politischen Leben und im Alltagsbewusstsein der Menschen in Armenien - gerade vor dem Hintergrund des Krieges?
Kerem Schamberger: Der Genozid an den ArmenierInnen ist sehr stark präsent in der kollektiven Psyche der Menschen. Das ist mir erst vor Ort so richtig bewusst geworden. Fast alle haben damals Familienmitglieder verloren. Die Vorfahren vieler DelegationsteilnehmerInnen haben in Regionen gelebt, die heute türkisches Staatsgebiet sind. Doch genau dieses Land erkennt bis heute nicht die Schuld seiner Gründergeneration an. Im Gegenteil, die türkische Staatspropaganda behauptet sogar, dass es ArmenierInnen gewesen seien, die damals ein Massaker an den TürkInnen angerichtet hätten. Das ist absurd.
Umso schlimmer ist es, dass ausgerechnet nun die Türkei maßgeblich am Krieg gegen Armenien beteiligt ist. Die Vergangenheit des Genozids ist mit dem türkischen Angriff so präsent wie nie. Es sind die geistigen, aber auch leibhaftigen Nachfahren der damaligen Täter, die heute mit Bayraktar-Drohnen - einer Rüstungsfirma, die übrigens Erdogans Schwiegersohn gehört - und dschihadistischen Söldnern aus Syrien, unter ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach frühere IS-Kämpfer, angreifen.
Der Krieg wäre ohne die Türkei nicht möglich gewesen
Wie wurde der Angriff auf Bergkarabach beurteilt? Wurde der Krieg auch in Armenien als ein "türkischer" Stellvertreterkrieg angesehen?
Kerem Schamberger: Natürlich war der primäre Aggressor Aserbaidschan, aber der Krieg wäre ohne die Türkei nicht möglich gewesen. Sie hat das Aliyev-Regime dazu ermuntert, ich würde sagen fast schon gedrängt. Allein dieses Jahr hat Baku bereits türkische Rüstungsgüter im Wert von mehr als 123 Millionen Dollar importiert. Es gab dieses Jahr bis August gemeinsame Militärübungen, türkische Kampfjets und -hubschrauber sowie Soldaten wurden nach Aserbaidschan verlegt. Beim Krieg standen Dutzende, wenn nicht Hunderte türkische Militärberater an der Seite der aserbaidschanischen Armee. In der türkischen Propaganda wird behauptet, dass man damit seinem "Brudervolk" zur Hilfe eile.
Offen bleibt, ob es sich dabei um den großen Bruder handelt, der im Anschluss den kleinen Bruder dazu zwingt, nach seiner Pfeife zu tanzen. Denn bei der türkischen Armee gilt: Sie kommt, um zu bleiben. Das sieht man nicht zuletzt in den türkischen Besatzungszonen Syriens, die wie Kolonien geführt werden. Das Aliyev-Regime hat schon jetzt auf Teile seiner staatlichen Souveränität verzichtet, indem es dem türkischen Militär einen solch großen Handlungsspielraum gelassen hat.
Das hat auch der armenische Staatspräsident Sarkissjan im Gespräch mit uns hervorgehoben. Der armenische Außenminister Mnazakanjan betonte im Gespräch mit der Delegation gar, dass der Schaden des Genozids mit diesem Angriff bis in die Gegenwart, ins hier und heute, verlängert werde. Ich finde, er hat Recht.
Und das sieht man ja auch zum Beispiel am Einsatz der dschihadistischen Söldner. Bei ihnen handelt es sich um Sunniten, die in Syrien auch Jagd auf Schiiten gemacht haben. Die Bevölkerung Aserbaidschans ist jedoch schiitisch und somit stellen diese extremistischen Elemente eigentlich auch eine Gefahr für sie dar. Wobei ich glaube, dass ein Teil der Söldner die Reise weniger aus ideologischen Gründen angetreten hat, sondern vor allem aus ökonomischer Not und Perspektivlosigkeit heraus. Sie sollen dafür bis zu 2.000 Dollar im Monat erhalten haben und pro getöteten armenischen Soldaten noch einmal 100 Dollar extra. Aber sie wurden vor allem an der Front als Kanonenfutter verheizt.
Die Rolle Russlands
Sie sprachen mit dem Außenminister Armeniens, wie wurde die geopolitische und außenpolitische Lage des Landes eingeschätzt?
Kerem Schamberger: Wir haben eine Stunde mit Sohrab Mnazakanjan gesprochen. Er betonte zwar, dass es ein außenpolitisches Grundprinzip Armeniens sei, keine Politik auf Kosten Russlands oder des Westens zu fahren. Man wolle mit beiden Seiten zurechtkommen. Aber klar ist auch, dass das Land geopolitisch von Russland abhängig ist, weil Moskau im Falle eines Angriffes auf armenisches Staatsgebiet aktiv geworden wäre. Nicht so jedoch beim Angriff auf Bergkarabach, das ja offiziell kein Teil des Landes ist.
Russland hat in diesem Krieg insgesamt eine zurückhaltende Position eingenommen und Armenien nicht von vorneherein unterstützt. Ganz bewusst hat es die beiden Seiten sich bekriegen lassen, übrigens auch jeweils mit russischen Waffen. Denn nicht vergessen werden darf, dass die ökonomischen Verbindungen zwischen Aserbaidschan und Russland in den letzten Jahren immer stärker geworden sind. Das wollte man durch eine einseitige Parteinahme für Armenien nicht gefährden.
Hinzu kommt, dass die "Samtene Revolution" von April 2018 mit Nikol Paschinjan als Ministerpräsidenten eine Regierung an die Macht gebracht hat, die sich eher am Westen orientieren wollte, trotz der bereits angesprochenen außenpolitischen Doktrin. Das war Moskau ein Dorn im Auge und man hat dem Angriff des übermächtigen Aserbaidschans und der Türkei so lange zugeschaut, bis Eriwan Konzessionen machen musste und gezwungen wurde, zurück unter die Fittiche Russlands zu gehen.
Ich bezweifle, dass Paschinjan das politisch überleben wird. Und sein möglicher Abgang wäre ja auch ganz im Sinne Russlands, weil dann die alten Oligarchien das Land wieder vollends in den Griff bekommen würden. Insofern ist diese Kriegsniederlage auch deshalb tragisch, weil sie das Ende eines demokratischen Aufbruchs besiegeln könnte. Im Vergleich zu Aserbaidschan war Armenien eine funktionierende bürgerliche Demokratie.
... und des Westens
Und wie schätzen Sie die Rolle des Westens in dem Krieg ein?
Kerem Schamberger: Die USA waren mit Wahlkampf beschäftigt - auch deshalb war der Kriegsbeginn Ende September kein Zufall. Frankreich, das eine große armenische Gemeinde hat, hat sich zwar klar aufseiten Eriwans positioniert und Macron war einer der ersten, der den Einsatz dschihadistischer Söldner durch die Türkei dort anprangerte. Natürlich aus eigenem politischen Kalkül, aber immerhin. Aber über bloße Lippenbekenntnisse und ein wenig humanitärer Hilfe hinaus ist nichts passiert.
Besonders schändlich finde ich die Position der Bundesregierung. Deutschland trägt auch hier eine historische Schuld mit sich, weil es während des Genozids 1915 nicht nur Mitwisser über die Massaker der Türkei an den ArmenierInnen war, sondern deutsche Spitzenmilitärs und Beamte aktiv zu Mittätern des Völkermords wurden. Hätte Deutschland also dieser geschichtlichen Verantwortung nachkommen wollen, hätte es politisch und wirtschaftlich deutlichen Einfluss auf den Krieg nehmen können: Es ist Aserbaidschans fünftgrößter Handelspartner und der Haupthandelspartner der Türkei.
Deutschland hat im Juli den Vorsitz des UN-Sicherheitsrats übernommen und ist in diesem Jahr zum sechsten Mal als Nicht-Ständiges Mitglied Teil des UN-Sicherheitsrats. Gleichzeitig hat es dieses Jahr die EU-Ratspräsidentschaft inne. Allein aus dieser Position hätte Deutschland Einfluss auf Handel und Exporte nehmen können. Der Transparenzbericht der EU-Waffenexporte offenbart zum Beispiel Einnahmen von mehr als 1,8 Milliarden Euro durch Waffenverkäufe an die Türkei und Aserbaidschan.
Doch der deutsche Botschafter in Eriwan, Michael Banzhaf, zeigte sich im Gespräch mit unserer Delegation nur "sehr besorgt" über die Entwicklung. Wahrscheinlich eine Sprachfloskel, die er direkt von Außenminister Maas übernommen hat. Wirtschaftliche Beziehungen, die Nato-Anbindung und der Türkei-EU-Flüchtlingsdeal, all das wollte man nicht riskieren. Die Bundesregierung hat sich deshalb dafür entschieden, die ArmenierInnen alleine auf der Schlachtbank zurückzulassen. Mal wieder, muss man leider sagen.
Sie kamen auch mit Vertretern linker Parteien zusammen. Wie schätzten diese Kräfte die Lage im Land und die geopolitische Dynamik in der Region eins?
Kerem Schamberger: Ich habe dazu ein langes Gespräch mit Hrag Papazian geführt, der Redaktionsmitglied eines linken Onlinemagazins ist. Er betonte, dass in Kriegszeiten der Nationalismus auf beiden Seiten Konjunktur hat und es schwierig ist, sich als Linke mit einer anderen Position Gehör zu verschaffen. Armenien ist ein kleines Land mit gerade einmal drei Millionen Einwohnern.
Jeder hatte Bekannte oder Familienangehörige an der Front oder war in humanitärer Hilfe engagiert. Und die Linke besteht dort aus 100, vielleicht 200 AktivistInnen. Da sind die Handlungsmöglichkeiten natürlich extrem beschränkt. An soziale oder ökologische Kämpfe ist während eines heißen Krieges sowieso nicht zu denken. Immerhin wurde ein lesenswerter Antikriegs-Aufruf veröffentlicht, der ein Ende des Krieges forderte, den Aggressor Aserbaidschan klar benannte, aber zum Beispiel auch das Rückkehrrecht aller Geflüchteten, sowohl ArmenierInnen als auch Azeris und KurdInnen, die es in der Region ja auch gibt, hervorhob.
Insgesamt plädierte er dafür, weg von Fokussierung auf Staaten, ihre territoriale Integrität und Souveränität zu kommen und sich mehr auf die Rechte der dort vor Ort lebenden Menschen zu konzentrieren inklusive ihres Rechts, über das eigene Schicksal selbst bestimmen zu können.
Das klingt zwar utopisch, aber langfristig wird nur ein gemeinschaftliches Zusammenleben für Frieden in der Region sorgen. Ich finde, dass die Erfahrungen aus Rojava und dem Demokratischen Konföderalismus, der ein Zusammenleben verschiedenster Ethnien und Religionen möglich macht, für diesen Fall diskutiert werden sollten. Da kann man viel daraus lernen. Denn die nun Armenien oktroyierte "Lösung" kreiert nur neuen Hass, der irgendwann wieder in Gewalt umschlagen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.