"Die Hauptgewinner sind die Türkei und Russland"
Seite 2: "Niemand sollte glauben, dass die Türkei hier nun aufhört"
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Welche Haltung müssten Ihrer Meinung nach fortschrittliche und linke Kräfte in diesem Konflikt einnehmen?
Kerem Schamberger: Ich habe eine deutliche Positionierung der Linken in Deutschland ehrlich gesagt vermisst. Man ist zu sehr dem "Both-Sideism" der Medien, der Angreifer und Angegriffene auf eine Stufe stellt, gefolgt. Aggressor war Aserbaidschan und die Türkei. Politische Verhandlungen sind in den letzten Jahren immer wieder an Rückziehern Bakus gescheitert. Auch der ständige Verweis auf Einhaltung des Völkerrechts hält einer historischen Betrachtung nicht stand, wenn man betrachtet, wie die Grenzziehung Anfang der 1920er Jahre durch die Sowjetunion erfolgt ist.
Schon damals wollte man eine Abhängigkeit zu Moskau schaffen, indem man einen schwelenden Konfliktherd kreierte und das mehrheitlich armenisch besiedelte Bergkarabach der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeschlagen hat. Zudem hoffte man, dadurch die Sympathien der gerade entstehenden türkischen Republik zu gewinnen und sie damit in den bündnispolitischen Konstellationen auf seine Seite zu ziehen. Das ist alles krachend gescheitert und die Ergebnisse der damaligen Politik liegen nun vor uns.
Insgesamt glaube ich auch, dass die Linke in Deutschland größtenteils keine Ahnung hat von dem, was in dieser Region der Welt vor sich geht. Ich will mich da gar nicht so sehr ausnehmen und musste mich auch erstmal vor meiner Delegationsreise ausführlich damit beschäftigen. Aber ich hoffe doch, dass die pan-turkistischen Expansionsgelüste der Türkei mittlerweile bekannt sein dürften, egal ob in Libyen, Syrien, Südkurdistan, Zypern, im Mittelmeer und jetzt im Südkaukasus, um das eindeutig zu verurteilen.
Wer profitiert vom Waffenstillstand? Und, wie würden sie diesen beurteilen?
Kerem Schamberger: Die Hauptgewinner sind die Türkei und Russland. Erdogan hat seinen politischen und militärischen Einfluss auf Aserbaidschan immens erhöht und seinen Ruf als "Schutzherr aller Turkvölker" gefestigt. Die Vereinbarung regelt sogar einen direkten Zugang zu Aserbaidschan über die Enklave Nachitschewan und über armenisches Staatsgebiet. Ankara und Baku werden in Zukunft per Landroute verbunden sein und damit auch ein direkter Zugang zum Kaspischen Meer existieren. Und niemand sollte glauben, dass die Türkei hier nun aufhört. Auch in Russland und China leben viele Turkvölker.
Für Moskau ist diese Abmachung ebenfalls ein großer Erfolg, weil es seine Militärpräsenz in der Region nochmal massiv erhöhen kann. In Armenien befinden sich bereits seit Jahren russische Militärs, ihre Präsenz wurde erst im August bis ins Jahr 2044 vertraglich geregelt. Jetzt kommen nochmal an die 2.000 sogenannten Friedenstruppen dazu.
Das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland ist von gegenseitiger Kooperation und Konkurrenz zugleich geprägt. Das sieht man in Libyen, in Syrien (Idlib) und jetzt auch im Südkaukasus. Aber egal, wie sich ihre Beziehung entwickelt, es geht zu Lasten der in der Region lebenden Menschen, weil sie nur politische Verhandlungsmasse sind. Ihr Wille zählt nichts.
Die Türkei kann also als Sieger dieses Krieges betrachtet werden - welche Konsequenzen wird dies für die Kurden Syriens oder des Irak nach sich ziehen?
Kerem Schamberger: Ich befürchte, dass das AKP-Regime diesen Sieg im Südkaukasus, verbunden mit dem innenpolitischen Chaos in den USA und der passiven Haltung Europas, nutzen könnte, um weitere Teile Rojavas zu besetzen. In Bergkarabach hat der Westen die Türkei gewähren lassen, warum sollte er jetzt was bei Nordsyrien einzuwenden haben?
Die Gefahr ist konkret, Erdogan erwähnt in seinen letzten Reden immer wieder einen möglichen Einmarsch. Gegen diese Kriegsgefahr gilt es, jetzt alle friedensliebenden und linken Kräfte zu mobilisieren. Auch in Rojava leben übrigens viele ArmenierInnen. Diesen emanzipatorischen Aufbruch gilt es zu schützen.
Das Interview wurde per Mail geführt.