Die Hysterisierung der deutschen Öffentlichkeit

Hysterischer Anfall eines Mannes. Vermutlich Toulouse, 1859-1910. Foto: Fonds Trutat - Photographie ancienne / no restrictions / Musée du Vieux Toulouse-- domaine public

Gefährder - Marginalie zum öffentlichen Sprachverfall

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Ich hab Angst, und Du hast Angst, große Angst und kleine Angst, meine Angst und Deine Angst…

Liedertext, aufgezeichnet auf einem Evangelischen Kirchentag

Nunmehr wird der Maschinengewehreinsatz gegen eine Menschenmenge gesetzlich verboten.

Aus dem Entwurf zum neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetz

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt

Ludwig Wittgenstein

Begriffsrecherche in einem sehr guten, nicht-öffentlichen Pressearchiv: Zwischen 1980 und dem 31.12.2000 taucht der Begriff "Gefährder" überhaupt nur zwölf Mal auf, zum ersten Mal im Herbst 1990 und auch in den nächsten Jahren ausschließlich in Zitaten aus Polizeikreisen und Papieren des Staatsschutz.

Im Mai 2000 findet er sich dann in der "Süddeutschen Zeitung" in einem Artikel über Fußball-Hooligans. Genau gesagt kommt das Wort auch darin nicht vor, sondern es ist dort von "Gefährder-Ansprachen" die Rede, und auch das nur in einem Zitat des damaligen Sprechers des Landeskriminalamts von NRW, Fredrick Holtkamp, der Hardcore-Fußball-Fans nach dem Grad ihrer Gewaltbereitschaft kategorisiert.

Daraus folgt eine erste wesentliche Feststellung: "Gefährder" ist Polizei-Jargon. Die deutschen Medien, die einst zu Recht stolz darauf waren, Staatsferne - nicht "-feinschaft", aber skeptische Distanz zu den jeweils Mächtigen zu kultivieren, schreiben heute gern im Jargon eines Polizei-Handbuchs.

"Gefährder" sind keine Straftäter

Dann geht es los: In den Jahren 2002 und 2003 taucht der Begriff im gleichen Archiv bereits 42 Mal auf, 2004-2005 fast verfünffacht: 198 Mal. 2003 schreibt die Süddeutsche das Wort noch in Anführungszeichen, um Distanz zu markieren, da geht es aber bereits um Islamisten. Später nicht mehr. 2006-2007 steigt die Verwendung weiter stark an (324), zugleich verflacht der Anstieg. Danach geht der Wortgebrauch sogar zurück (2008-2009 = 214 Mal, 2010-2011 = 222 Mal), um bis Ende 2013 (2012-2013 = 124 Mal) unter dem Niveau von 2005 zu liegen.

Danach steigt dann die "Gefährder"-Fieberkurve monatlich immer stärker an: 2014 bis 2015 wird das Wort 585 Mal verwendet, davon 2015 allein 499 Mal, 2016 997 Mal, 2017 unglaubliche 3.181 Mal. Die Hysterisierung der deutschen Öffentlichkeit ist genau im Boom des Wortes "Gefährder" zu greifen. Ist es polemisch, darauf hinzuweisen, dass der Begriff "Rechtsstaat" im gleichen Archiv, das die wesentliche überregionale deutsche Presse zusammenfasst, 2017 4.448 Mal vorkam und 2016 4.501 Mal?

2018 wurde "Gefährder" bis Ende Juli 1.224 Mal verwendet; es ist also mit einem leichten Rückgang zu rechnen. "Gefährder" entpuppt sich damit nicht als ein objektiver Begriff, es handelt sich auch nicht um einen einheitlich rechtlich oder polizeifachlich definierten Terminus. Sondern es ist offensichtlich vor allem ein Modewort und zwar eines mit Tendenz. Inzwischen aber hat sich der Begriff des Gefährders zu einer festen Größe im sicherheitspolitischen Sprachgebrauch entwickelt.

Verschleiert wird mit diesem Wort zudem, dass es sich bei "Gefährdern" in vielen Fällen nicht um Straftäter handelt, noch nicht einmal um Verdächtige im Sinne der Staatsanwaltschaft. "Gefährder" ist vielmehr der, von dem zukünftig eine Gefahr ausgehen könnte - ein Resultat der Wahrscheinlichkeitsrechnung der Computer, ein Vorschein von "Pre-Crime", wie man es bisher nur aus Science-Fiction-Stoffen kennt, etwa aus Philip K. Dicks, von Steven Spielberg verfilmter Geschichte "Minority Report".

Der Traum aller Deterministen ist der Albtraum der Freiheit

Dessen Grundidee ist faszinierend: Mit Hilfe dreier in die Zukunft blickender Medien kann die Polizeiabteilung "Precrime"-Straftäter vor dem Verbrechen verhaften. Das moralische wie juristische Dilemma dieser Situation liegt auf der Hand: Die "Täter" sind gar keine, sie werden erst zu welchen werden.

Genau genommen verhaftet "Pre-Crime" nur Unschuldige. Die Idee perfekter, sogar die Zukunft und das potentielle Tun der Menschen einschließender Überwachung, der Traum aller Deterministen von der vollständigen Berechenbarkeit und Kontrolle menschlicher Handlungen ist zugleich der Albtraum von der Abwesenheit der Freiheit. Der Menschheitstraum von der völligen Abwesenheit und Vernichtung des Bösen ist verbunden mit der Paranoia, dieses Böse sei immer und überall.

Dem entspricht die Bewusstseinslage des konservativen Teils der deutschen Gesellschaft, also ihrer Mehrheit. Sie ist in einer Art kollektivem Sicherheitswahn gefangen. Sie sieht überall vor allem Gefahren und Gefährder. Die Grundrechte müssen sich der Abwehr solcher phantasierten Gefahren unterordnen.

Dem entspricht auch das neue bayerische "Polizeiaufgabengesetz". Die Polizei darf demnach schon bei "drohender" Gefahr tätig werden; sie muss nicht mehr abwarten, bis eine Gefahr "konkret" wird.

Zur absurden Konjunktur eines Un-Begriffs

Die absurde Konjunktur des sprachlichen Un-Begriffs "Gefährder" steigt nach dem Angst-Schock des 11.September 2001 und der Ausrufung des "Kriegs gegen den Terror" klar an, steigert sich dann aber rasant mit Beginn der sogenannten "Flüchtlingskrise" ab Sommer 2015.

Entgegen dem Eindruck einer allgemein vorherrschenden "naiven" (Horst Seehofer) "rechtsbrecherischen" (Alexander Gauland), jedenfalls den Flüchtlingen gegenüber optimistischen Willkommenskultur, sieht man aus der Wortverwendungskurve, dass mit dem Anstieg der Einwanderung auch der Gefährderdiskurs zugenommen hat.

Die Konjunktur zeigt zugleich, wie Propaganda funktioniert. Durch die Propaganda der Rechtsextremen von Pegida und AfD, unterstützt von ihren Hilfstruppen in der CSU, ist die Stimmung gekippt. Die Rhetorik der Chancen der offenen Einwanderungsgesellschaft und der Hilfe für Menschen in existenzieller Not wurde gezielt durch eine Rhetorik der Angst, der Infiltration durch potentiell gefährliche Fremde, der Bedrohung, der Gefährder ersetzt.

Man findet unwürdige Begriffe - "Asyltourismus", "Wirtschaftsflüchtlinge" - und absurde Neuworte, die George Orwell ("1984") alle Ehre machen würden: "Gefährder" "Identitätsverweigerer". Eine durch demagogische Reden erzeugte Bedrohung ohne reale Fakten-Basis.

Von post-crime zu pre-crime

In einem sehr lesenswerten Aufsatz fassen die Kriminalwissenschaftler Maren Wegner und Daniela Hunold diese "Transformation der Sicherheitsarchitektur" aus juristischer Sicht zusammen.

Sie beschreiben die Einführung der präventivpolizeilichen elektronischen Aufenthaltsüberüberwachung ("Fußfessel") und "darüber hinaus ... die sogenannte drohende Gefahr als eine zusätzliche Gefahrbegriffskategorie, die der 'besseren Erfassung vor allem von Vorbereitungshandlungen' dienen soll". "De facto" könne damit eine Person "unbegrenzt vorbeugend in Haft genommen werden".

Die "Vorverlagerung von Eingriffsbefugnissen und Senkung von Eingriffsschwellen" werde "mit dem wirkmächtigen Begriff der (inneren) Sicherheit legitimiert, wonach der Staat durch die terroristische Bedrohung in der Wahrnehmung seiner Schutzpflichten gezwungen werde, 'im Interesse einer effektiven Terrorabwehr Grundrechte zu beschränken, um so die ihm anvertrauten Bürger zu schützen'".

Die Kehrseite sei die "damit zugleich verbundene teilweise massive Einschränkung der rechtstaatlich garantierten Freiheitsrechte". Die Verfasserinnen skizzieren eine "präventive Wende" im Bereich der Sicherheitspolitik bereits seit Anfang der 1970er Jahre. "Die Kriminologie justierte somit ihren Blick von post-crime auf pre-crime."

In der Folge beschrieben weniger konkrete Bedrohungen die Grundlage für sicherheitsstaatliches Handeln, sondern vielmehr gesellschaftlich konstruierte Gefährdungen, welche das Sicherheitsgefühl der Bürger*innen beeinflussen. ... Hierfür braucht es letztendlich eine prognostische Wissensproduktion, welcher sich insbesondere Polizeiorganisationen aus den angloamerikanischen Ländern seit einigen Jahrzehnten vermehrt bedienen.

In jüngster Zeit haben sich hierzu Strategien des predictive policing etabliert, die verschiedene Analysen beinhalten können, nämlich die Identifizierung von Örtlichkeiten mit einem erhöhten Kriminalitätsrisiko oder potentiell zukünftig kriminell handelnde Personen, die Erstellung von Täterprofilen sowie das Ausmachen von potentiellen Opfergruppen.

Maren Wegner und Daniela Hunold

Der "angsteinflößende Fremde"

Polizei, Justiz und Politik versuchen demnach zunehmend durch intensivere Verbrechenskontrollen und Ausweitung gesetzlicher Befugnisse ihre Handlungsfähigkeit und Macht zu demonstrieren. Nicht die zu erwartenden Maßnahmen stehen noch im Zentrum, sondern die (Rück-)Gewinnung von Vertrauen in den Staat und seine Organisationen.

Weil es trotz allem immer noch Verbrechen gibt und gerade spektakuläre Terroranschläge Unsicherheit schüren, produzieren dieselben Diskurse neue Unsicherheit durch die Konstruktion eines neuen Tätertypus. Dieser wird als besonders unberechenbar gezeichnet - der "Gefährder" des 21. Jahrhunderts ist geboren.

Gezeichnet wird er als "anders", "unberechenbar", irrational, weil fanatisch; als "angsteinflößender Fremder" Weil dieses Bild vorhandene "Vorstellungen von Andersartigkeit und Differenz, und somit auch Ängste in der Bevölkerung" triggert, was letztendlich die Akzeptanz intensiverer und vorgelagerter Kontrollmaßnahmen fördert.

Wegner und Hunold folgern weiter:

Sicherheit kann ... nicht als objektiver Sachverhalt begriffen werden, sondern wird in einem gesellschaftlichen Zusammenhang semantisch aufgeladen und (re-)produziert. ... Die Figur des Gefährders zeigt ... auf, dass sich der Bewertungshorizont dessen, was als Unsicherheit wahrgenommen wird, von einer konkreten Bedrohung zu einer abstrakten Gefährdung verändert und neue Sicherheitsbedürfnisse hervorruft. ... Die Sicherheitsbehörden nehmen auf das Sicherheitsgefühl Einfluss, indem sie die Figur des Gefährders 'versicherheitlichen'.

Durch die Praxis der Polizeibehörden zur Gefährdereinstufung wird ihnen die Deutungshoheit über die Sicherheitsbedrohung zugesprochen, sodass sie gewissermaßen Unsicherheit konstruieren. Die mediale Verbreitung und die Veränderung des Kommunikations- sowie Informationsverhaltens wirken diesbezüglich wie ein Katalysator und befördern punitive Entwicklungen. ...

Die Gefährdergesetze weisen vor dem Hintergrund dieses Vorsorgeparadigmas eine neue Qualität auf und transformieren die Sicherheitsarchitektur. Die durch die Legislative konstituierten Eingriffsschwellen reichen so weit in das Vorfeld, dass sie zum einen neutrale Handlungen erfassen und ein konkreter Kausalverlauf bezüglich dieser Handlungen und einer Rechtsgutsverletzung nicht sicher belegbar ist.

Dieser Gefahrenverdacht legitimiert nicht mehr nur Informationseingriffe, sondern eingriffsintensivere aktionelle Befugnisse. ... Die Gefährdergesetzgebung führt zu einer Relativierung rechtsstaatlicher Prinzipien, was - durch den Wegfall der Höchstfrist für den Präventivgewahrsam bedingt - besonders deutlich zum Ausdruck kommt, da Menschen nunmehr faktisch unbegrenzt und ohne ein strafrechtliches Urteil einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden können.

Maren Wegner und Daniela Hunold

Die Bedrohung kommt von innen

Das alles belegt: Die Bedrohung der offenen Gesellschaft und der Ordnung des liberalen Rechtsstaats kommt zurzeit primär von innen. Sie besteht nicht in erster Linie in fundamentalistischem Terror, nicht in totalitären Gesellschaftsentwürfen, sondern in der mentalen Verfassung vieler Anhänger eines freiheitlichen Rechtsstaats.

Wer Sicherheit und Freiheit antagonistisch versteht - d.i.: mehr Sicherheit bedeutet weniger Freiheit und umgekehrt - hat ein primitives Verständnis beider Begriffe. Tatsächlich kann Freiheit zwar nur sinnvoll realisiert werden, wenn ein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet ist.

Zugleich ist der Begriff der Sicherheit im deutschen Grundgesetz nicht explizit erwähnt. Sicherheit ist also verfassungsrechtlich betrachtet, der Freiheit klar nachgeordnet. Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit neben der Würde des Menschen als höchsten Rechtswert an. (BVerfG, Urt. v. 15.12.1970) Gemeint sind damit übrigens alle Menschen, nicht nur alle Deutschen.

Wenn ich groß bin, will ich Gefährder werden

Jedes Sicherheitsstreben, das sich nicht in den Dienst der Freiheit stellt, ist ein Rückschritt. Wer zu viel Sicherheit will - egal in welchem Bereich -, stellt die Offenheit der Gesellschaft in Frage. Der technokratischen Hybris der Konservativen, die glauben mit Polizei und Überwachung totale Sicherheit geben zu können, liegt die Utopie einer Gesellschaft ohne Schmerz und ohne Rückschläge in der Fortschrittsbewegung zugrunde. Einer Gesellschaft, die an ihrer unendlichen Optimierung arbeitet und auch die Freiheit des Einzelnen dem utilitaristischen größeren Glück der größeren Zahl unterwirft.

Ein paar Kinder am Berliner Prenzlauer Berg, die früher beim "Räuber-und-Gendarm"-Spiel immer Räuber sein wollten, hört man schon sagen: "Mami, wenn ich groß bin, will ich Gefährder werden."

Wann wird dieses Nichtwort endlich zum Unwort des Jahres gewählt? Wo bleibt die überfällige Begriffsgeschichte dieses Pseudo-Begriffs.